2005
Wozu gibt es Unglück?
Juli 2005


Grundsätze aus dem Buch Lehre und Bündnisse

Wozu gibt es Unglück?

Es heißt, in jedem Leben muss es auch ein wenig Regen geben. Aber weshalb muss es mitunter gleich ein Wolkenbruch sein? Gott hat in seiner Liebe diese Welt zu unserem Nutzen geschaffen. Warum sehen wir uns dann oft mit Ereignissen konfrontiert, die unangenehm und schwierig sind oder uns Schmerz, Trauer und Kummer bringen? Und ganz gewiss ist es doch wohl unfair, dass manch einer anscheinend mehr Bedrängnis erleiden muss als ein anderer!

Was verursacht eigentlich unsere Bedrängnisse? König Benjamin hat über die Sünde gesagt: „Und schließlich kann ich euch nicht alles sagen, wodurch ihr Sünde begehen könnt; denn es gibt mancherlei Mittel und Wege, selbst so viele, dass ich sie nicht aufzählen kann.“ (Mosia 4:29.) Dasselbe lässt sich vom Unglück sagen, das uns im Erdenleben begegnen kann – es gibt unzählig viele Arten davon. Manches bringen wir durch unser Tun selbst über uns, anderes entsteht aus dem, was unsere Mitmenschen tun. Anderes wieder ist eine Folge der Lebensumstände hier auf Erden oder entsteht aus einem Grund, den wir nicht sehen oder noch nicht verstehen können. Im Grunde genommen kann man all die Schwierigkeiten des Erdenlebens weder begreifen noch mit ihnen umgehen, wenn man nicht daran glaubt, dass wir einen liebevollen himmlischen Vater haben und wenn man den Erlösungsplan nicht kennt und daher nicht weiß, dass wir vor diesem Leben bereits gelebt haben und auch nach dem Tod weiterleben werden.

Eine Form der Züchtigung

Die einfachste Betrachtungsweise der Schwierigkeiten im Leben ist vielleicht eine Unterteilung in zwei Kategorien, nämlich in solche, die wir aufgrund unserer Entscheidungen und Handlungen selbst herbeiführen, und in solche, die sich aus all den Ereignissen ergeben, die sich auf uns auswirken. Die der ersten Kategorie haben wir selbst zu verantworten.

In einer Zeit großer Verfolgung, als die frühen Mitglieder der Kirche aus dem Kreis Jackson in Missouri vertrieben wurden, sagte der Herr: „Ich, der Herr, habe zugelassen, dass die Bedrängnis, womit sie bedrängt worden sind, infolge ihrer Übertretungen über sie gekommen ist.“ (LuB 101:2.) Anfechtungen und Schwierigkeiten, die direkt auf unser Tun zurückzuführen sind, lassen sich vielleicht am leichtesten verstehen. Sie dienen einem göttlichen Zweck. Der Herr sagt: „Alle diejenigen, die Züchtigung nicht ertragen wollen, sondern mich leugnen, können nicht geheiligt werden.“ (Vers 5.)

Wenn der Herr uns züchtigt, haben wir die Wahl: Wenn wir mit den Folgen unseres Tuns konfrontiert werden, können wir uns zu den Menschen schlagen, die sich vor der Verantwortung drücken und sich von Gott und der Liebe, mit der er uns züchtigt, abwenden. Wir können aber auch jemand sein, der sich geduldig unterwirft, um zu lernen und an Rechtschaffenheit zuzunehmen.

Der Apostel Paulus schreibt: „Wen der Herr liebt, den züchtigt er; er schlägt mit der Rute jeden Sohn, den er gern hat.“ (Hebräer 12:6.) Doch solche Schläge sind immer schmerzhaft!

Paulus fährt fort:

„Haltet aus, wenn ihr gezüchtigt werdet. Gott behandelt euch wie Söhne. Denn wo ist ein Sohn, den sein Vater nicht züchtigt? …

Jede Züchtigung scheint zwar für den Augenblick nicht Freude zu bringen, sondern Schmerz; später aber schenkt sie denen, die durch diese Schule gegangen sind, als Frucht den Frieden und die Gerechtigkeit.“ (Vers 7,11.)

Gottes große Weisheit

Wir erleben aber auch anderes Ungemach, und vielleicht fragen wir uns dann: „Womit habe ich das nur verdient?“ Wie wir mit solchen Schwierigkeiten umgehen, kann uns klar machen, wer wir sind und was aus uns werden kann.

Ich kenne da jemand, zu dem ich aufblicke. Sie weiß gar nicht, dass sie für mich ein Vorbild ist. Ich habe sie bloß einmal gesehen, aber sie hat bei mir einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Nachdem ich mit ihr gesprochen hatte, erkundigte ich mich bei den Missionaren, beim Pfahlpräsidenten und beim Missionspräsidenten über sie. Und was sie mir sagten, gab mir allen Grund, diese Frau sogar noch mehr zu achten. Diese Schwester heißt Ye Hui Hua und lebt im Pfahl Tainan in Taiwan. Ich lernte sie kennen, als ich bei einer Pfahlkonferenz in Tainan war. Sie kümmerte sich um den Garten des Gemeindehauses. Bei der Arbeit strahlte sie solche Freude aus, dass ich mich gleich zu ihr hingezogen fühlte. Wir wechselten ein paar Worte, und sie gab Zeugnis und sagte, wie dankbar sie für die vielen Segnungen in ihrem Leben sei. Nach diesem Gespräch erfüllte mich die gleiche Freude, die sie ausgestrahlt hatte, aber ich dachte auch darüber nach, wie vergleichsweise undankbar ich für meine Segnungen war. Sie war offensichtlich nicht begütert, aber sie trug einen inneren Frieden in sich und war so fröhlich, wie man es sich nur vorstellen kann. Als ich mich nach ihr erkundigte, erfuhr ich ihre ganze Geschichte.

Als junge Frau hätte sie gern studiert, aber ihr war klar, dass sie ihren Eltern diese finanzielle Belastung nicht zumuten konnte. So ging sie arbeiten und gab den Lohn ihrem Vater, den sie sehr liebte. Er war ein guter, rechtschaffener Mann. Schließlich heiratete sie, und als Antwort auf ihre Gebete kamen Missionare, und die Familie schloss sich der Kirche an. Ihr Mann war jedoch krank und starb bald darauf. Schwester Ye stand nun mit drei kleinen Kindern da und war nahezu mittellos. Nach dem Tod ihres Mannes musste sie mehrere Jobs zugleich annehmen, um sich und die Kinder durchzubringen. Sie schaffte es, jeden Tag ein wenig Geld für die Mission ihrer Kinder zurückzulegen. Alle drei haben nunmehr eine Mission erfüllt – zwei in Taiwan und eines am Tempelplatz in Salt Lake City. Ein Sohn erkrankte kurz nach der Mission und starb.

Als die Missionare auf meine Bitte hin mit Schwester Ye sprachen, sagte sie ihnen: „Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, warum ich all diese Schwierigkeiten habe, aber ich glaube fest daran, dass es gemäß der großen Weisheit Gottes so ist. Ich kenne den Erlösungsplan des himmlischen Vaters und habe ihn schätzen gelernt. Ich meine: Nur wenn wir seine Gebote halten, können wir erkennen, was er mit uns vorhat. Ich danke Gott jeden Tag für mein Leben. Wenn es mir schlecht geht, denke ich an den Schmerz anderer Menschen. Wenn jemand krank ist oder sonst wie Hilfe braucht, bete ich, um herauszufinden, was ich tun kann, und der Herr lässt es mich wissen.“

Die Missionare sehen Schwester Ye – „Mama Ye“, wie sie sie nennen – oft die Sträucher schneiden oder rund um das Gemeindehaus sauber machen. Sie sagen, sie ist für jeden Missionar wie eine zweite Mutter und sie umsorgt die Missionare, als wären es ihre eigenen Kinder.

Grundsätze des Glaubens

Ich werde wohl noch lange das Bild von der strahlenden Schwester Ye dort im Garten des Gemeindehauses in Tainan vor mir sehen, wie sie ihr Werkzeug in der Hand hält und sagt, wie dankbar sie für ihre Segnungen ist – diese Schwester, der die Chance zur Weiterbildung versagt geblieben ist und die wenig materiellen Besitz hat, die ihr nahe stehende Menschen verloren hat und die immer wieder zum Wohle ihrer Kinder und ihrer Mitmenschen Opfer bringt. Welches sind nun die Grundsätze des Glaubens, die Schwester Ye von denen unterscheiden, die, wenn sie Schwierigkeiten haben, Gott lästern und sterben (siehe Ijob 2:9)?

Ganz wichtig ist die Gewissheit, dass sich der himmlische Vater und der Erretter unserer Situation bewusst sind. Mit ihrer größeren Weisheit und weitreichenden Perspektive lassen sie nicht zu, dass wir mit etwas bedrängt werden, was uns in der Ewigkeit nicht zum Guten dient, sofern wir nur richtig damit umgehen. Sehr tröstlich ist für mich die Weisung, die der Prophet Joseph Smith im Gefängnis zu Liberty empfangen hat. Der Herr zählt da allerlei schreckliche Prüfungen auf und sagt dann zum Schluss etwas, was tröstet und den Weg weist:

„Wisse, mein Sohn, dass dies alles dir Erfahrung bringen und dir zum Guten dienen wird.

Des Menschen Sohn ist unter das alles hinabgefahren. Bist du größer als er?

Darum halte an deinem Weg fest, und das Priestertum wird bei dir verbleiben; denn ihre Grenzen sind festgesetzt, sie können nicht darüber hinaus. Deine Tage sind bekannt, und deinen Jahren wird nichts abgerechnet werden; darum fürchte nicht, was Menschen tun können, denn Gott wird mit dir sein für immer und immer.“ (LuB 122:7-9.)

Enthalten diese kurzen Verse nicht einen wundervollen Rat? Der Herr kennt unsere Anfechtungen. Er hat Schlimmeres durchgemacht; er versteht unser Ungemach und unseren Schmerz, und er kann uns helfen, beides zu überstehen. Was wir durchmachen, kann uns zum Guten gereichen und kann nicht über die vom Herrn festgesetzte Grenze hinausgehen.

In den heiligen Schriften und bei den Propheten finden wir weisen Rat dazu, wie wir mit den Problemen und Prüfungen umgehen sollen, die uns im Laufe des Lebens begegnen. Wir müssen Anfechtungen geduldig und glaubensvoll ertragen. Als der Prophet Joseph Smith monatelang im Gefängnis zu Liberty schmachtete, bat er den Herrn, den Mitgliedern ihre Prüfungen leichter zu machen. Es folgt ein Auszug aus der Antwort des Herrn:

„Mein Sohn, Friede sei deiner Seele; dein Ungemach und deine Bedrängnisse werden nur einen kleinen Augenblick dauern, und dann, wenn du gut darin ausharrst, wird Gott dich in der Höhe erhöhen; du wirst über alle deine Feinde triumphieren.“ (LuB 121:7,8.)

Der Herr ließ den Propheten in einer Offenbarung in Bezug auf die Verfolgung der Mitglieder in Missouri auch wissen: „Darum sei euer Herz in Bezug auf Zion getrost, denn alles Fleisch ist in meiner Hand; seid ruhig und wisst, dass ich Gott bin.“ (LuB 101:16.)

Freude durch Dienen

Selbst wenn wir nun Glauben und Geduld haben – gibt es nicht noch etwas, was wir brauchen, um mit den Prüfungen des Erdenlebens fertig zu werden? Ich glaube, ein weiterer Punkt ist noch ganz wichtig – einer, der Schwester Ye in Tainan in die Lage versetzt hat, ihre Prüfungen nicht bloß durchzustehen, sondern Freude am Leben zu finden. Wie immer ist uns der Heiland auch da mit gutem Beispiel vorangegangen. Am Abend seines großen Leidens im Garten Getsemani hat er uns das gelehrt – damals, als er ja bereits wusste, dass er in nur wenigen Stunden unendliche Schmerzen und unendliches Leid auf sich nehmen würde. Er kam in einem Obergeschoss mit seinen Aposteln zusammen und lehrte sie heilige Verordnungen und Grundsätze. So kurz vor der Stunde seiner größten Not hätte er doch bei denen, die ihm am nächsten standen, Beistand und Trost suchen können. Stattdessen „goss er Wasser in eine Schüssel und begann, den Jüngern die Füße zu waschen und mit dem Leinentuch abzutrocknen, mit dem er umgürtet war“. Dann sprach er: „Wenn nun ich, der Herr und Meister, euch die Füße gewaschen habe, dann müsst auch ihr einander die Füße waschen. Ich habe euch ein Beispiel gegeben, damit auch ihr so handelt, wie ich an euch gehandelt habe … Selig seid ihr, wenn ihr das wisst und danach handelt.“ (Johannes 13:5,14,15,17; Hervorhebung hinzugefügt).

Als die Stunde seiner größten Prüfung nahte, diente der Herr seinen Nächsten. Ich glaube, das ist das Geheimnis, das Schwester Ye entdeckt hat und das ein jeder für sich selbst entdecken kann. Inmitten von Prüfungen können Glaube und Geduld uns Trost und Frieden bringen, und unsere Liebe und der Dienst am Mitmenschen können uns Freude bringen. Lassen Sie uns doch dem Beispiel des Erretters folgen! Dann können wir wissen: Wenn wir uns ihm zuwenden, kann all unsere Bedrängnis uns zum Guten dienen, denn das hat er verheißen.