2005
Der Sohn des Schiffers
Juli 2005


Der Sohn des Schiffers

Nach den Erlebnissen des Großvaters der Verfasserin

Feike sprang vom Rand des Kanals auf das Küstenschiff, auf dem seine Familie wohnte. Seine Holzschuhe klapperten laut, als er zu der weißen Kajüte weiter hinten lief.

„Heute ist es so weit“, dachte der zwölfjährige Junge aufgeregt. „Heute gibt Vater den Missionaren seine Antwort.“

Kurz zuvor, in den Sechzigerjahren des 19. Jahrhunderts, waren Missionare der Kirche in die Niederlande gekommen und hatten angefangen, dort das Evangelium zu verkünden. Feike hatte sie getroffen und zu sich nach Hause eingeladen, weil er dachte, er könne von ihnen Englisch lernen. Doch bald zeigte sich, dass die Missionare ihm und seiner Familie noch viel mehr beibringen konnten.

An der Tür zur Kajüte streifte Feike seine Holzschuhe ab und drehte sie um, damit kein Wasser hineinkam. Das Klassenzimmer in der Schule war größer als der Raum, in dem die Familie wohnte, doch Feike mochte die winzige Küche mit dem Holzofen. Die Eltern und die jüngeren Geschwister schliefen hinten in der Küche auf ausklappbaren Betten, die tagsüber hinter Schranktüren verborgen waren. Feike war das älteste Kind; er schlief in dem kleinen Lagerraum vorn auf dem Schiff.

Feike huschte ins Wohnzimmer und setzte sich ganz still hin. Elder Swensen ging noch einmal alles durch, was er und Elder Lofgren die Familie an so vielen Winterabenden hier in diesem Raum gelehrt hatten. Feike hatte jedes Mal die Wärme des Geistes verspürt und hätte sich am liebsten gleich taufen lassen. Er hatte das Gefühl, seiner Mutter ging es ebenso, denn sie sprach oft davon, dass sie in den Tempel gehen wolle. Doch sein Vater wollte sich erst dann zu etwas verpflichten, wenn er auch sicher war, dass er dazu stehen konnte; er wollte sich erst taufen lassen, wenn er wusste, dass er seine Taufbündnisse halten konnte. Heute wollte Vater den Missionaren seine Entscheidung mitteilen. Feike hatte seit Wochen so inbrünstig darum gebetet, dass er sich sicher war, dass sein Vater Ja sagen würde.

„Bruder Wolthuis“, sagte Elder Lofgren zu Vater, „ich habe das Gefühl, Sie wissen, dass das Evangelium wahr ist.“

Vater sah zu Boden und nickte.

„Sind Sie bereit, sich taufen zu lassen?“, fragte Elder Lofgren. „Können Sie die nötigen Opfer bringen?“

Es war still im Zimmer. Sogar Feikes jüngere Geschwister rührten sich nicht. Alle starrten Vater an. Langsam hob er sein wettergegerbtes Gesicht.

„Ja, ich weiß, dass die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage wahr ist. Ich werde mich taufen lassen.“

Feike strahlte. Der himmlische Vater hatte seine Gebete erhört. Mutter lächelte, und die Tränen strömten über ihr Gesicht.

„Noch in diesem Monat segeln wir nach Amerika“, versprach Vater.

„Nach Amerika segeln?“, platzte Feike heraus.

„Ja, Feike“, sagte Vater. „Die Führer der Kirche haben alle Heiligen aufgefordert, nach Salt Lake City zu kommen.“ Er machte eine Pause. „Onkel Geert wird unser Schiff kaufen.“

„Aber das Schiff sollte eines Tages mir gehören! Ich sollte der Schiffer werden!“, wandte Feike verzweifelt ein.

„Ich weiß. Mein Versprechen habe ich nicht vergessen“, sagte Vater. „Wenn du nicht mit nach Amerika willst, wird Onkel Geert dich als Matrose behalten. Wenn du dann alt genug bist, verkauft er das Schiff an dich.“

Feike wurde fürchterlich zornig und alle Freude über Vaters Taufe war vergessen.

Feike explodierte. „Ich dachte, die Kirche wäre wahr, aber wählen müssen zwischen der Kirche und unserem Land, unseren Verwandten und unserem Schiff – das ist zu viel verlangt!“

Feike stürmte hinaus zu seiner Kabine im Bug des Schiffes. Aus Gewohnheit klopfte er mit einem kleinen Hammer an die Bordwand, damit die anderen wussten, dass er nicht über Bord gefallen war. An diesem Abend klopfte er immer wieder.

Feike lag auf seiner Matratze. Viel Zeit verging. Er dachte an die Maultiere, die das Schiff durch die Kanäle der niederländischen Provinzen zogen. Er dachte an die kleinen Boote der Händler, die längsseits kamen, damit Mutter einkaufen konnte. Doch am meisten dachte Feike daran, wie der Wind die großen Segel blähte, wenn sie über das offene Meer fuhren. Eines Tages würde er der Schiffer sein und das Meer befahren – doch nur, wenn er von seiner Familie Abschied nahm und sie allein nach Amerika fahren ließ.

Da klopfte jemand an die Tür.

„Komm rein“, brummte Feike.

Sein Vater setzte sich zu ihm aufs Bett. „Es tut mir Leid, Feike. Nach der Taufe wollten wir alle nach Amerika. Ich dachte, du wüsstest das.“

„Ich weiß, dass andere das tun, aber ich hätte nicht gedacht, dass du das Schiff aufgibst. Ich dachte, du wärst gern Schiffer.“

Tränen stiegen Vater in die Augen. „Das bin ich auch. Sogar mehr, als du dir vorstellen kannst.“

„Was willst du denn in Amerika tun?“

„Ich weiß es nicht. Die Schifffahrt war mein Leben. Aber der Herr ruft sein Volk nach Salt Lake City, und deine Mutter und ich fahren hin.“

„Aber meinen Traumberuf aufgeben und das Boot zurücklassen?“

Vater stimmte zu. „Das ist eine schwere Entscheidung, die nur du selbst fällen kannst. Vor ein paar Nächten musste ich mit derselben Frage kämpfen. Da fand ich eine Schriftstelle, die mir geholfen hat. Als Jesus Jakobus und Johannes berief, waren sie Fischer. Aber in der Bibel steht: ‚Sogleich verließen sie das Boot und … folgten Jesus‘ (Matthäus 4:22).“

Lange saßen der Schiffer und sein Sohn still beisammen. Feike sah seinem Vater in die klaren, blauen Augen. Er spürte Vaters Glauben und Mut. Und da wusste er, was er zu tun hatte. Schließlich sagte er:

„Können wir denn noch einmal mit dem Boot hinausfahren, ehe wir zusammen nach Amerika segeln?“

Der Schiffer nahm seinen Sohn in den Arm.

„Ja, das wäre sehr schön.“

Lisa Fernelius gehört zur Gemeinde Chambersburg 1 im Pfahl York in Pennsylvania.

„Selbst wenn heute von uns andere Opfer verlangt werden, soll doch unsere Verpflichtung gegenüber dem Gottesreich ebenso groß sein wie die unserer treuen Vorfahren.“

Elder M. Russell Ballard vom Kollegium der Zwölf Apostel, „Das Gesetz des Opferns“, Liahona, März 2002, Seite 18.