2004
Starke Hände und liebevolle Herzen
Dezember 2004


Starke Hände und liebevolle Herzen

Das Besuchslehren bietet uns die Gelegenheit, als Schwestern im Evangelium liebevoll auf andere zuzugehen und füreinander zu sorgen.

„Ich weiß noch, wie ich vor über 30 Jahren zum ersten Mal als Besuchslehrerin berufen worden bin. Mir wurde eine junge Frau zugeteilt, die nicht die Versammlungen besuchte“, erinnert sich Catherine Carr Humphrey aus der Gemeinde Hillside im Pfahl Rancho Cucamonga in Kalifornien. „Es war Anfang der Siebzigerjahre und ich hielt sie für einen Hippie. Jeden Monat ging ich zu ihr und klopfte an die Tür. Sie öffnete immer nur die innere Tür, die Gittertür blieb geschlossen. Ich wusste nie so recht, wie sie eigentlich aussah. Sie sagte kein Wort, sie stand einfach nur da. Ich schaute sie immer freundlich an und sagte: ,Hallo, ich bin Cathie, Ihre Besuchslehrerin.‘ Und wenn sie dann nichts sagte, fuhr ich fort: ,Also, unser Thema heute handelt von …‘ und ich versuchte, kurz etwas Nettes und Erbauliches zu sagen. Wenn ich fertig war, sagte sie immer: ,Vielen Dank‘, und schloss die Tür.

Ich bin nicht gern dorthin gegangen, es war mir peinlich. Doch ich tat es, weil ich gehorsam sein wollte. Nachdem ich das etwa sieben, acht Monate lang gemacht hatte, rief mich unser Bischof an.

,Cathie‘, sagte er, ,die junge Frau, die Sie besuchen, hat vor kurzem ein Kind zur Welt gebracht. Es hat aber nur ein paar Tage gelebt. Sie und ihr Mann wollen eine Bestattungsfeier abhalten, und sie hat mich gebeten, Sie zu fragen, ob Sie auch kommen können. Sie sagt, Sie seien ihre einzige Freundin.‘

Ich ging zum Friedhof. Die junge Frau, ihr Mann, der Bischof und ich standen am Grab. Niemand sonst war da. Ich hatte sie nur einmal im Monat für ein paar Minuten gesehen. Durch die Gittertür hatte ich noch nicht einmal erkennen können, dass sie schwanger war, und doch waren wir beide durch meine unzulänglichen, aber von Hoffnung getragenen Besuche gesegnet worden.“

Auf die eine oder andere Weise spielen sich solche Szenen in der Kirche immer wieder ab. Bonnie D. Parkin, Präsidentin der Frauenhilfsvereinigung, hat vor kurzem gesagt: „Ich sehe unzählige treue Schwestern in aller Welt, die im Auftrag des Herrn handeln. Sie leisten einfachen und doch bedeutungsvollen Dienst. Warum gehen wir besuchslehren? Weil wir Bündnisse eingegangen sind, Schwestern! [Alma] drückte das so aus: ,Einer [solle] des anderen Last … tragen, … mit den Trauernden … trauern, … diejenigen … trösten, die des Trostes bedürfen‘ (Mosia 18:8,9). …

Eines Morgens … erhielt ich eine E-Mail von einer Schulfreundin. Sie schrieb: ,Ray ist heute Morgen gestorben.‘ Dann schrieb sie noch: ,Das Besuchslehren funktioniert. Es funktioniert wirklich.‘ … Hier bezeugte mir meine liebe Freundin, dass das, was wir Besuchslehren nennen, in Wirklichkeit viel mehr ist als ein Besuch oder ein Gedanke. Es ist der Zusammenhalt zwischen uns. …

Trauern, trösten, als Zeuge auftreten. All diese Versprechen wurden bei meiner Freundin eingelöst. … [Der Herr] hatte ihr zwei Schwestern gesandt, die einen Bund mit ihm eingegangen waren. … Sie waren Schwestern im Evangelium, die wussten, dass sie diese Aufgabe mit Herz und Seele erfüllen mussten. … Darum geht es beim Besuchslehren.“

Und, so fuhr Schwester Parkin fort: „Das Besuchslehren ist das Herz der Frauenhilfsvereinigung.“1

Lucy Mack Smith, die Mutter des Propheten Joseph Smith, sagte bei der zweiten Versammlung der Frauenhilfsvereinigung: „Wir müssen einander wertschätzen, über einander wachen, einander trösten und Unterweisung erhalten, damit wir uns einmal alle gemeinsam im Himmel niedersetzen können.“2

Wir sollen bedenken: „Die Besuchslehrarbeit hat den Zweck, eine Beziehung der Fürsorge zu jeder Schwester zu schaffen und einander Unterstützung, Trost und Freundschaft zu bieten. In der Besuchslehrarbeit werden sowohl die Gebende als auch die Nehmende durch ihre gegenseitige Fürsorge in ihrer Aktivität in der Kirche gesegnet und gestärkt.“3

Andere betreuen

Es ist sehr wichtig, dass wir unseren neuen, jungen FHV-Schwestern vermitteln, dass das Besuchslehren das Herz der FHV ist. Diese Schulung und Betreuung kann so aussehen, dass eine junge Schwester mit einer beispielhaften Besuchslehrerin eingeteilt wird, in anderen Fällen kann sie auch die Besuchslehrpartnerin ihrer Mutter werden.

Cara S. Longmore, die jetzt zur Gemeinde BYU 176 im Pfahl Brigham-Young-Universität 2 gehört, wurde mit ihrer Mutter als Besuchslehrerin eingeteilt. Ihre Mutter war begeistert, doch Cara fühlte sich zu jung für die Frauenhilfsvereinigung. Sie erinnert sich: „Wir waren für zwei wunderbare Frauen zuständig. Wenn ich zurückblicke, wird mir klar, welch großen Einfluss diese Schwestern in dieser schwierigen Zeit auf mich hatten. Sie waren nicht nur ein Vorbild für mich, sie wurden auch echte Freundinnen – nicht nur ältere Mentoren. Wenn wir sie besuchten, war ich ruhig, fühlte mich geborgen und von Herzen geliebt.

Ich bin auch sehr dankbar für die Zeit, die ich beim Besuchslehren mit meiner Mutter verbringen konnte. Jetzt bin ich am College, und mir wird bewusst, wie wertvoll das Besuchslehren für unsere Beziehung war. Ich bin so dankbar, dass ich meine Mutter beim Besuchslehren erleben konnte, dass ich ihr starkes Zeugnis hörte und erkannte, wie viel Liebe sie für ihre ,Schwestern in Zion‘ [siehe Gesangbuch, Nr. 207] hegt. Weil wir als Team zusammenarbeiteten, waren wir einander ebenbürtig und ich konnte wirklich spüren, dass auch wir ,Schwestern in Zion‘ waren.“

Fürsorge

Die Besuchslehrerinnen sind zwar angehalten, einmal im Monat den Kontakt zu pflegen, doch manchmal ist auch mehr erforderlich. Präsident Spencer W. Kimball (1895–1985) hat gesagt: „Ihre Aufgaben ähneln in vieler Hinsicht denen der Heimlehrer, denen kurz gesagt obliegt, ,immer über die Kirche zu wachen‘ – nicht nur zwanzig Minuten im Monat, sondern immer – ,und bei ihnen zu sein und sie zu stärken‘ – nicht nur an die Tür klopfen, sondern bei den Mitgliedern zu sein, sie aufzurichten, ihnen Kraft zu geben, sie zu stärken und sie zu wappnen.“4 Ein solches Besuchslehren bedeutet Fürsorge.

Eine Schwester, die nachts in einem Krankenhaus arbeitete, erlebte solche Fürsorge. Ihre Besuchslehrerinnen fingen an, jeden Monat während der Essenspause, die in den frühen Morgenstunden lag, zum Krankenhaus zu kommen. Sie staunte, dass die beiden bereit waren, so ein Opfer zu bringen, wusste dies aber auch sehr zu schätzen.

Cynthia E. Larsen von der Gemeinde Heritage im Pfahl Calgary in Alberta fand heraus, wie viel Freude es bringen kann, sich um eine nicht ganz einfache Schwester zu kümmern. Sie berichtet: „Ich weiß noch, wie ängstlich ich war, als ich Deanna das erste Mal besuchte. Wir waren doch genau das Gegenteil voneinander! Sie war alleinstehend, leitende Angestellte einer Erdölgesellschaft und hatte sich erst vor kurzem der Kirche angeschlossen. Doch bei jedem Besuch entdeckten wir mehr Gemeinsamkeiten.

Als bei Deanna Krebs festgestellt worden war, beruhigte sie mich und beantwortete alle meine Fragen ruhig, aufrichtig und mutig. Von dem Tag an zeigte sie mir durch ihr Beispiel, was Würde und Ausharren bedeuten.

In den folgenden Monaten informierte sie sich und andere voller Eifer über Krebs. Sie organisierte in der FHV einen Informationsabend über Krebs und sie trat einer Krebsselbsthilfegruppe am Ort bei.

Schließlich raubten die Medikamente und die Chemotherapie ihr Kraft und Energie. An ihren ,guten Tagen‘ ging sie spazieren und machte anderen Krebspatienten Mut. An ihren ,schlechten Tagen‘ sah sie zu, dass sie ihren Optimismus nicht verlor, schonte ihre Kräfte und arbeitete an ihrem Zeugnis.

Als sich ihr Zustand verschlechterte, besuchte ich sie jeden Tag. Wir lachten und weinten, waren albern und extrem ernst. Sie wartete auf den Tod, zunächst mit Vorbehalten, doch dann voller Zuversicht. Sie gab sich Mühe, jeden Tag so gut wie möglich zu verbringen.

Monatelang sah ich, wie meine liebe Freundin und Schwester im Evangelium vor ihrem Tod noch Gelegenheiten zum Dienen fand. Ja, ich diente Deanna als Besuchslehrerin, aber sie war es, die mir etwas darüber beibrachte, wie gesegnet man ist, wenn man nach dem Evangelium lebt.“

Präsident Gordon B. Hinckley hat erklärt: „Auch unter unseren Mitgliedern gibt es Menschen, die vor Schmerz und Leid und Einsamkeit und Angst weinen. Wir haben die große und feierliche Verpflichtung, uns ihrer anzunehmen und ihnen zu helfen, sie aufzuheben, ihnen zu essen zu geben, wenn sie hungrig sind, und ihrem Geist Nahrung zu geben, wenn sie nach Wahrheit und Rechtschaffenheit dürsten.“5

Flexibilität

Fürsorge ist sicherlich das Ziel beim Besuchslehren und kann auch erreicht werden. Doch einige Situationen erfordern auch Kreativität und Flexibilität. Im Distrikt Bush in Anchorage in Alaska können Besuche beispielsweise nur mit dem Motorschlitten unternommen werden. Ist der nahe gelegene Fluss so dick zugefroren, dass man darauf fahren kann, kann man auch mit dem Auto fahren. Es liegt also auf der Hand, dass die empfohlenen monatlichen persönlichen Besuche nicht immer gemacht werden können. Diese Schwestern müssen den Kontakt durch Telefonate und E-Mails pflegen. Schwester Parkin hat uns geraten: „Sind monatliche Besuche nicht möglich, unternehmen Sie bitte dennoch etwas. Seien Sie kreativ und suchen Sie eine Möglichkeit, wie Sie mit jeder Schwester Kontakt haben können.“6 Denken Sie an Präsident Hinckleys Aufforderung: „Tun Sie Ihr Bestes.“7

Genau das hat sich wohl auch Florence Chukwurah aus Nigeria gedacht, als sie als Besuchslehrerin für eine Schwester eingeteilt wurde, die mit ihrem Mann und der Familie Schwierigkeiten hatte, sodass sie sich auf dem Marktplatz verabredeten. Nachdem sie sich die Probleme dieser Schwester angehört hatte, bat Schwester Chukwurah ihren Mann um einen Segen, damit sie wissen könne, wie sie dieser armen Schwester helfen konnte. Nach dem Segen hatte sie das Gefühl, sie solle mit der Schwester darüber sprechen, wie wichtig der Zehnte ist. „Unter Tränen erzählte sie mir, dass sie den Zehnten nicht zahle, weil sie nicht genug Geld verdiene“, erinnert sich Schwester Chukwurah. „Ich schlug ihr vor, dass wir über Maleachi 3:10 sprechen, und zwar bei mir zu Hause, denn dann könnten wir dies entspannt und ungestört tun. Sie war einverstanden. Nach unserem Gespräch machte ich ihr Mut, dass sie ihren Glauben ausüben und wenigstens sechs Monate lang ihren Zehnten zahlen solle. Durch den Geist gab ich ihr Zeugnis.“

Schwester Chukwurah erzählte, dass sich innerhalb weniger Monate nach dem Gespräch die Lebensumstände dieser Schwester drastisch änderten. Ihre Tochter bekam ein Stipendium, mit dem sie die Schule beenden konnte, ihr Mann wandte sich an den Bischof, weil er wieder aktiv werden wollte, und erhielt eine Berufung, Mann und Frau arbeiteten zusammen daran, ihre finanzielle Situation und ihre Beziehung zu verbessern, und schließlich wurden beide zu einer Quelle der Inspiration für andere.

Freundschaft

Eine junge Frau berichtet, wie sich ihre Besuchslehrerin um sie kümmerte, wie sie an sie dachte und ihre Freundin wurde. Gegen Ende ihres letzten Jahres im Jurastudium war die junge Frau in eine neue Gemeinde gezogen und stellte fest, dass die anderen alle mindestens 30 Jahre älter waren als sie. „Ich fühlte mich nicht wohl und kannte niemanden“, erinnert sie sich, „und da wurde ich halb inaktiv. Ich kam und ging sonntags wie ein Schatten, ohne auch nur ein Wort mit jemandem zu wechseln.

Ein paar Wochen später stand eine strahlende, fröhliche, weißhaarige Frau vor meiner Tür und verkündete, sie sei meine Besuchslehrerin. Sie kam mich fast jede Woche besuchen, und oft kam sie in Begleitung einer anderen Schwester aus der Gemeinde, damit wir uns kennen lernten. [Es dauerte gar nicht lange,] und ich war kein Schatten mehr in der Kirche. [Meine Besuchslehrerin machte] mich mit einer großen Schar Freunde [bekannt]. Jetzt bin ich schon einige Jahre fort von [dieser Gemeinde], doch noch immer zähle ich die Mitglieder dort zu meinen liebsten Freunden.“8

Auf Eingebungen hören

Wenn Sie mit Leib und Seele Besuchslehrerin sein wollen, müssen Sie gebeterfüllt über die Schwestern nachdenken, für die Sie zuständig sind. Wenn Sie nur zuhören und entsprechend handeln, wird der Herr Sie führen, sodass Sie sein Werk verrichten können.

Elizabeth Contieri Kemeny war FHV-Leiterin in São Paulo und hatte das Gefühl, sie solle sich selbst als Besuchslehrerin für eine schüchterne, schwangere Schwester einteilen, die oft allein zur Kirche kam, weil ihr Mann häufig auf Geschäftsreise war. Die Gemeinde-FHV-Leiterin hatte gerade an einem Pfahlprojekt teilgenommen, bei dem Babyausstattungen zusammengestellt worden waren – Decken, Kleidung und sonstige Bedarfsartikel. Die Päckchen sollten an einem bestimmten Sonntagmorgen zum Pfahl gebracht werden. An diesem Tag wachte Schwester Kemeny um 6.00 Uhr auf und hatte das starke Gefühl, sie solle die Babyausstattungen alle zu dieser Schwester bringen und nicht zum Pfahl.

Zusammen mit einer Ratgeberin und dem Bischof fuhr Schwester Kemeny zu dieser Schwester, doch dort erfuhren sie, dass die Wehen eingesetzt hatten und dass sie bereits im Krankenhaus war. Sie fuhren also zum Krankenhaus und trafen die Schwester dort an. Sie hielt ihr neugeborenes Kind auf dem Arm und ihr liefen Tränen über das Gesicht. Sie hatte gebetet, dass der Vater im Himmel ihr jemanden senden möge, der ihr hilft. Ihr Mann war verreist und sie hatte nichts – keine Decke, in die sie das Baby wickeln konnte, und kein Geld für die Busfahrt nach Hause.

Bei der Versammlung des Pfahls am Nachmittag konnte diese Gemeinde keine Babyausstattungen mehr abgeben. Eine Schwester, die in zeitlicher und geistiger Not war, hatte alle bekommen – und das alles, weil eine Besuchslehrerin gebetet und auf die Eingebungen des Geistes gehört hatte.

Präsident Hinckley fordert uns auf, „nach denen zu suchen, die Hilfe brauchen, die sich in einer verzweifelten und schwierigen Lage befinden, und sie voll Liebe in die Arme der Kirche zurückzuholen, wo starke Hände und liebende Herzen sie wärmen und trösten, sie stark machen.“9 Als Besuchslehrerin sind Sie dazu verpflichtet und auch bevorrechtigt.

Anmerkungen

  1. Visiting Teaching: The Heart and Soul of Relief Society, Rede beim Tag der offenen Tür der FHV, Herbst 2003, Seite 3f., 15f.

  2. Zitiert in History of Relief Society, 1842–1966, 1967, Seite 20

  3. Handbuch Anweisungen der Kirche, Buch 2: Führungskräfte des Priestertums und der Hilfsorganisationen, 1998, Seite 202

  4. „A Vision of Visiting Teaching“, Ensign, Juni 1978, Seite 24

  5. „Die rettende Hand“, Der Stern, Januar 1997, Seite 83

  6. Visiting Teaching: The Heart and Soul of Relief Society, Seite 12

  7. „Die Frauen der Kirche“, Der Stern, Januar 1997, Seite 66

  8. Zitiert in Barbara B. Smith, „A Story of New Beginnings“, in A Woman’s Choices: The Relief Society Legacy Lectures, 1984, Seite 8

  9. Der Stern, Januar 1997, Seite 83