2004
Der Kohl für das Weihnachtsessen
Dezember 2004


Der Kohl für das Weihnachtsessen

„Er [wird] die Rechtschaffenen durch seine Macht bewahren“ (1 Nephi 22:17).

Eine wahre Begebenheit

„Annie, wir brauchen noch Kohl für das Weihnachtsessen morgen“, sagte Mutter. „Geh doch bitte zu den Olsens und tausch diese Kartoffeln gegen einen Kohl ein. Beeil dich! Es wird bald dunkel.“

Die elfjährige Annie seufzte, legte die Stricknadeln weg und nahm den Leinenbeutel mit den Kartoffeln. In Norwegen war es Brauch, dass es zum Weihnachtsessen Kohl gab, und Annie wusste, dass er köstlich schmecken würde. Aber sie wollte nicht vom warmen Feuer fort. „Kann Gunnild mitkommen?“, fragte sie voller Hoffnung.

„Nein, sie muss die Ziegen füttern und Vater helfen.“

Annie knöpfte ihren Mantel aus Schafsleder zu und eilte hinaus in die eisige Luft. Sie lief den Weg hinunter. Der Schnee knirschte unter ihren Füßen und der beißende Wind blies ihre blonden Zöpfe umher.

Ein paar Minuten später kam sie zur Hütte der Olsens und klopfte an die Holztür. Frau Olsen schaute heraus und ihre blauen Augen wurden vor Überraschung ganz groß.

„Meine Güte, Annie! Was machst du denn hier draußen in der bitteren Kälte? Deine Wangen sind ja rot wie Erdbeeren. Komm herein und wärm dich auf.“

Als Annie am prasselnden Feuer stand, kribbelten ihre Finger und Zehen. „Mutter hat mich gebeten, diese Kartoffeln gegen einen Kohl einzutauschen“, sagte sie.

„Kind, das tut mir Leid. Ich habe keinen Kohl mehr. Den letzten haben wir gestern gegessen.“ Frau Olsen rührte den großen Kessel über dem Feuer um. „Möchtest du ein wenig Haferbrei?“

„Nein, vielen Dank“, antwortete Annie. „Ich kann nicht bleiben. Wissen Sie, wo ich einen Kohl bekommen kann?“

„Die Petersens haben vielleicht noch einen. Jens hatte dieses Jahr eine gute Ernte. Aber wenn du dorthin willst, musst du dich beeilen. Ich glaube, da braut sich ein Sturm zusammen.“

„Danke, Frau Olsen“, sagte Annie und lief hinaus. Sie klemmte den Beutel unter den Arm und steckte die Hände tief in die Taschen und stapfte vorwärts. Der eisige Wind blies ihr ins Gesicht und schwarze Wolken grummelten über ihr.

Als sie bei den Petersens ankam, schien es ihr, als sei sie Stunden unterwegs gewesen. Glücklicherweise hatte Frau Petersen noch einen Kohl, den sie gegen Annies Kartoffeln eintauschen konnte. Annie winkte zum Abschied und machte sich auf den Heimweg. Kleine Schneeflocken wehten um sie herum und bedeckten den Weg wie weiße Gänsefedern.

Annie dachte an die warme Hütte ihrer Familie. Sie konnte fast den würzigen lutefisk (getrockneter Kabeljau) und die Kartoffeln im Topf riechen. Vielleicht machte ihre Mutter auch riskrem (Reispudding) und verbarg darin eine Mandel. Womöglich war Annie diejenige, die sie finden würde.

Der Schnee fiel immer dichter. Dicke Flocken fielen auf Annies Augenlider. Der Schnee verdeckte ihr den Weg. Annie starrte auf die Gegend vor sich und mühte sich ab, den Weg zu finden. „Ist das unsere Hütte?“, dachte sie, als sie dunkle Umrisse im Schneegestöber entdeckte. Doch es waren nur Bäume. Annie war durcheinander. „Wo bin ich?“, fragte sie sich. „Warum sehen die Berge aus wie Riesen?“ Sie fühlte sich wie in einem Traum.

Große Schneewehen sahen aus wie ein warmes, weiches Federbett, das sie einlud anzuhalten und zu schlafen. Zuerst widerstand sie der Versuchung, indem sie an ihr Zuhause dachte. Ihre Beine fühlten sich an wie Holzbeine, sie schleppte sich vorwärts und hielt den Kohl fest. Doch schließlich versagten ihre müden Beine, sie legte sich auf den Boden und deckte sich mit einer weichen Decke aus Schnee zu.

Zu Hause schaute Annies Vater in das weiße Gestöber. Wo war Annie? Er zog seinen schweren Mantel an und griff nach der Laterne. Er eilte den Weg hinab und rief in den Wind: „Annie, Annie!“

Neben einer großen Fichte entdeckte er eine seltsame Erhebung. Er eilte vorwärts und schwang die Laterne. Im trüben Licht sah er eine blasse Figur im Schnee. War das Annie? Er lief auf sie zu, nahm sie in die Arme und wickelte sie in seinen Pelzmantel.

„Bitte, Gott“, betete er, „lass sie am Leben.“

Ein schwacher Atemzug bewegte Annies Lippen, und sie flüsterte: „Papa.“

„Annie, du lebst! Das ist ein Wunder!“, rief er. „Gott hat dein Leben aus einem besonderen Grund bewahrt.“

Neun Jahre später heiratete Annie Soren Hansen. Sie hatten acht Kinder. Als Soren starb, verdiente Annie den Lebensunterhalt für ihre Familie, indem sie Sägespäne an Schlachter verkaufte. Jeden Tag spannte sie ihr gelbes Pony vor einen kleinen Wagen und brachte eine Ladung Sägespäne ins nahe gelegene Oslo.

Eines Tages kam Annie zum Markt und bemerkte dort eine ungewöhnliche Menschenansammlung. Zwei junge Männer sprachen zu den Menschen in der Nähe des Gemüsemarkts. Annie war neugierig und blieb stehen. Sie sprachen über einen Propheten und das Buch Mormon.

Ihre Botschaft berührte Annies Herz. Am 2. März 1857 ließ sie sich taufen und wurde eines der ersten Mitglieder in Norwegen.

Annie wurde eine machtvolle Missionarin. Sie erzählte jedem, der ihr nur zuhörte, vom Evangelium. Sogar Herr Gulbrandsen, dem die Sägemühle gehörte, schloss sich der Kirche an, nachdem Annie ihn im Evangelium unterwiesen hatte. Sie gab stets ihr Zeugnis, bis sie dann in Norwegen im Alter von 81 Jahren starb. Einige ihrer Kinder und Enkel wanderten nach Amerika aus.

Noch heute hören ihre Ururenkel gern die Geschichte vom Wunder mit Annie, die losging, um einen Kohl für das Weihnachtsessen zu holen.

Trisa Martin gehört zur Gemeinde Bountiful 30 im Pfahl Bountiful Utah Ost.

„Gott wird uns bewahren und beschützen und den Weg für uns bereiten, damit wir leben und uns mehren … und immer seinen Willen tun.“

Präsident Joseph F. Smith (1838–1918), Generalkonferenz, Oktober 1905.