1990–1999
Eine königliche Priesterschaft
April 1991


Eine königliche Priesterschaft

Wir alle engagieren uns im Dienst am Nächsten. Wir müssen ihn unterweisen, erbauen, stützen und inspirieren.

Liebe Brüder auf der ganzen Welt, die Sie das Priestertum tragen: Sie inspirieren mich. Oder um es mit einem Lieblingswort der heutigen Jugend zu sagen: Es ist eine „tolle” Aufgabe, zu Ihnen zu sprechen. Ich bete darum, daß der Herr mir helfen möge.

Sie alle sehen sehr entschlossen aus. Sie wissen, wer Sie sind und was Sie gemäß Gottes Willen werden sollen. Wenn ich mir die vielen jungen Männer ansehe, die sich heute Abend hier zusammengefunden haben, dann weiß ich, daß sie eine große Zukunft vor sich haben.

Als ich etwa neun Jahre alt war und zur Grundschule hier in Salt Lake City ging, mußten alle Schulkinder der Stadt einen Fragebogen ausfüllen und angeben, was sie einmal werden wollten, wenn sie groß waren. Diese Bogen wurden in einer wasserfesten Kiste unter einem neu aufgerichteten Fahnenmast begraben, der am Eingang zur Stadtverwaltung stand. Viele Jahre später sollte die Kiste dann wieder geöffnet und sollten die Bogen herausgeholt werden.

Als ich damals mit dem Stift in der Hand dasaß, überlegte ich mir angestrengt, was ich werden sollte. Und dann schrieb ich es hin: „Cowboy”. Beim Mittagessen erzählte ich meiner Mutter, was ich geschrieben habe. Ich sehe sie noch vor mir, wie sie mit mir schimpfte: „Du gehst sofort wieder zurück und änderst das. Schreib, Bankier’ oder, Rechtsanwalt’!” Ich gehorchte, und mein Traum vom Cowboydasein war für immer ausgeträumt.

Steve Alfort - er spielt in der Basketball-Nationalmannschaft - wußte schon als Kind genau, was er einmal werden wollte. Als er in der achten Klasse war, füllte seine Lehrerin einen Bogen aus, auf dem angegeben werden sollte, was er einmal werden wollte. Steve Alfort sagte: „Ich werde in der Basketball-Nationalmannschaft spielen.” Darauf meinte die Lehrerin. „Das kann ich doch nicht hinschreiben.” „Aber genau das werde ich tun. Dann lassen Sie die Zeile eben frei.” Und er hat es geschafft.

Einer der größten Führer unserer Zeit, nämlich Präsident Harold B. Lee, hat in einer Ansprache an der Brigham-Young-Universität von einem jungen Mann - einem Mitglied - erzählt, der sich während des Zweiten Weltkriegs in England befand. Einmal war er in einen Offiziersclub gegangen, wo heftig gefeiert wurde. Da sah er, abseits vom Trubel, einen jungen britischen Offizier stehen, dem die Feier überhaupt nicht zu gefallen schien. Er ging zu ihm hinüber und sagte: „Die Feier scheint Ihnen ja gar keine Freude zu machen.” Und der junge Offizier richtete sich hoch auf und sagte: „Nein, Sir, ich kann an einer solchen Feier nicht teilnehmen, denn ich gehöre zum englischen Königshaus.” Als unser junger Mann sich wieder ab wandte, sagte er zu sich. „Ich kann auch nicht daran teilnehmen, denn ich gehöre zum Königshaus Gottes.” („Be Loyal to the Royal within You”, Ansprache an der Brigham-Young-Univer sität, 1973.)

Vielleicht hat der junge Mann an die kühne Erklärung des Apostels Petrus gedacht, der gesagt hat: „Ihr aber seid ein auserwähltes Geschlecht, eine königliche Priesterschaft, ein heiliger Stamm, ein Volk, das sein besonderes Eigentum wurde, damit ihr die großen Taten dessen verkündet, der euch aus der Finsternis in sein wunderbares Licht gerufen hat.” (l Petrus 2:9.) Brüder, stehen Sie dazu, daß Sie einem königlichen Geschlecht angehören.

Vor kurzem habe ich über etwas nachgedacht, was der Erretter während der Woche gesagt hat, wo er das Sühnopfer gebracht hat, nämlich: „Dann wird der König denen auf der rechten Seite sagen: Kommt her, die ihr von meinem Vater gesegnet seid, nehmt das Reich in Besitz, das seit der Erschaffung der Welt für euch bestimmt ist.

Denn ich war hungrig, und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig, und ihr habt mir zu trinken gegeben; ich war fremd und obdachlos, und ihr habt mich aufgenommen; ich war nackt, und ihr habt mir Kleidung gegeben; ich war krank, und ihr habt mich besucht; ich war im Gefängnis, und ihr seid zu mir gekommen.

Dann werden ihm die Gerechten antworten: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und dir zu essen gegeben, oder durstig, und dir zu trinken gegeben? Und wann haben wir dich fremd und obdachlos gesehen und aufgenommen, oder nackt und dir Kleidung gegeben? Und wann haben wir dich krank oder im Gefängnis gesehen und sind zu dir gekommen? Darauf wird der König ihnen antworten: Amen, ich sage euch: Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.” (Matthäus 25:34-40.)

Liebe Brüder, wir möchten Ihnen unser Lob dafür aussprechen, daß Sie das Gesetz des Fastens befolgen und großzügig das Fastopfer spenden. Wir möchten auch die Diakone und die Lehrer loben, die in vielen Teilen der Welt mithelfen, das Fastopfer einzusammeln. Das Wohlfahrtsprogramm ist von Gott inspiriert, und wer in Not ist, bekommt Hilfe vom Bischof, der sich an die Inspiration des Geistes und an die Wohlfahrtsgrundsätze hält, wenn es darum geht, Hilfe zu leisten.

Heute möchte ich Ihnen nicht nur sagen, was mit Ihren regelmäßigen Fastopferzahlungen geschieht - und die Summe ist sehr hoch - sondern ich möchte Sie auch darüber informieren, welche Beträge durch Sonderfastentage und die damit zusammenhängenden Sonderspenden eingegangen sind. Seit den beiden Sonderfasttagen im Jahr 1985 belaufen sich die Spenden für die Notleidenden bis heute auf 13145527 Dollar. Diese Spenden sind folgendermaßen verteilt worden: 8662765 Dollar in Afrika, der Rest in den Vereinigten Staaten, Lateinamerika, Asien, Europa und dem Nahen Osten. Insgesamt sind 11460 780 Dollar ausgegeben worden, so daß noch ein Restguthaben von 1684767 Dollar verbleibt.

Ich will ausführlicher von den Projekten und den Menschen erzählen, denen Sie durch Ihre Großzügigkeit geholfen haben.

Im fruchtbaren Tiefland Ost-Guatemalas, in der Nähe von San Esteban, helfen die Kirche und das Ezra–Taft-Benson-Institut für Landwirtschaft und Nahrungsmittel armen Bauern, ihren Ernteertrag zu steigern. Sie zeigen ihnen, wie sie das Land bearbeiten, düngen und bewässern müssen, um reichlicheren Ertrag zu erzielen und damit besser für die Ernährung ihrer Familie und Futter für das Vieh sorgen zu können.

Am Anfang haben 160 Familien von dieser Hilfe profitiert; in kurzer Zeit werden es fast 400 Familien sein. Und wenn die Menschen ihre Kenntnisse und Fertigkeiten an ihre Nachbarn weitergeben, werden bald viele tausend Familien davon profitieren.

Und wenn sie dann nicht mehr in Armut leben und keine Not mehr leiden müssen, können sie die geistigen Gaben, die der himmlische Vater für sie bereithält, auch besser aufnehmen. Und wir, die wir ihnen helfen, verstehen dann besser, was die folgenden Worte bedeuten: „Ich war im Gefängnis, und ihr seid zu mir gekommen.” (Matthäus 25:36.)

Die Kinder in den afrikanischen Ländern werden geimpft, weil man hofft, auf diese Weise alle bekannten ansteckenden Krankheiten bis zum Ende des Jahrhunderts ausrotten zu können. Bei einem Projekt beispielsweise - es geht darum, der Kinderlähmung vorzubeugen - arbeitet die Kirche mit dem internationalen Rotary-Club zusammen. Die Kirche hat Impfstoff für 300000 Kinder gekauft. In den abgelegenen Gesundheitsstellen sind gas- und strombetriebene Kühlschränke aufgestellt worden, wo der Impfstoff bis zur Verwendung frisch gehalten wird. Sie, liebe Brüder, und Ihre Familien haben mitgeholfen, diesen Traum Wahrheit werden zu lassen.

Nicht weit vom Tabernakel hier in Salt Lake City entfernt haben sich mehrere Zahnärzte zusammengeschlossen und ermöglichen den Bewohnern eines Obdachlosenasyls die kostenlose Zahnbehandlung. Zahnärzte, Spezialisten für Zahnhygiene und andere opfern aus freien Stücken ihre Zeit und stellen ihre Fähigkeiten anderen zur Verfügung. Die Kirche hilft bei der Finanzierung der notwendigen Ausrüstung.

Damit tragen sie aber nicht nur dazu bei, Unwohlsein und Schmerzen zu lindern, sondern zaubern ein Lächeln auf das Gesicht ihrer Patienten und schenken ihnen neuen Mut. Allen, die bei einer solchen Aufgabe helfen, schenken die folgenden Worte des Herrn Frieden: „Ich war fremd und obdachlos, und ihr habt mich aufgenommen.” (Matthäus 25:35.)

Auf den Philippinen unterstützt die Kirche die Mabuhay-Deseret-Stiftung, die vielen hundert Kindern Operationen ermöglicht, wo deformierte Gaumen und Lippen sowie alte Brüche und Brandwunden behandelt werden. Kinder, die einmal niemand haben wollte, führen jetzt ein ganz normales Leben. Ihre Bewegungen und ihr fröhliches Lachen sagen uns: „Ich war krank, und ihr habt mich besucht.” (Matthäus 25:36.)

Großzügige Kleiderspenden an Deseret Industries tragen dazu bei, daß Männer, Frauen und Kinder auf der ganzen Welt mit Kleidung versorgt werden können. Die Kleidung wird sortiert, nach Größen geordnet und bis nach Rumänien, Peru, Zimbabwe und Sierra Leone versandt, aber auch in Nordamerika verteilt. Diese Kleider haben Menschen in Flüchtlingslagern und Waisenhäusern Wärme und Trost geschenkt. Die gutgeschnittenen und qualitativ hochwertigen Kleider, die die Spender nicht mehr brauchten, kleiden jetzt Alte und Arme. Für diese sind sie neu und wunderschön. Jetzt wissen Sie, was der Erretter mit folgendem sagen wollte: „Ich war nackt, und ihr habt mir Kleidung gegeben.” (Matthäus 25:36.)

Auch in vielen anderen amerikanischen Städten bietet die Kirche den Hungrigen und Obdachlosen humanitäre Hilfe an. In Utah beispielsweise, an der Grenze zu Texas, Arizona und Kalifornien bis hinein in die Appalachen, verteilen private Hilfsorganisationen gespendete Nahrungsmittel und Kleidungsstücke. Manchmal gehen solche Spenden auch direkt an ein Kinderheim, eine Vorratsstelle für Lebensmittel oder eine kostenlose Essensausgabe. Die meisten Lebensmittelspenden gehen auf eine Initiative örtlicher verantwortlicher Pfähle zurück. Die Lebensmittel werden in kircheneigenen Konservenfabriken verarbeitet und eingedost und dann von den Vorratshäusers ausgegeben, wo Wohlfahrtsempfänger und ehrenamtliche Helfer arbeiten, um ihren armen und bedürftigen Nächsten innerhalb und außerhalb der Kirche zu helfen. Viele könnten aus tiefstem Herzen sagen: „Ich war hungrig, und ihr habt mir zu essen gegeben.” (Matthäus 25:35.)

Weit entfernt, am Fuß des Westhanges des Kenia, an der Randzone des Rift Valley, wird den Durstigen reines Wasser zugänglich gemacht. Ein Trinkwasserprojekt hat das Leben von mehr als 1100 einheimischen Familien verändert. Zusammen mit Techno - Serve, einer privaten Hilfsorganisation, arbeitet die Kirche an einem Projekt, das die Trinkwasserversorgung von fünfzehn Dörfern sicherstellt, und zwar durch eine 40 Kilometer lange Pipeline, durch die Trinkwasser gepumpt wird. Dieses Projekt, nämlich die Versorgung mit gesundem Trinkwasser, ruft uns die folgenden Worte des Erretters ins Gedächtnis: „Ich war durstig, und ihr habt mir zu trinken gegeben.” (Matthäus 25:35.)

Im Namen der vielen Tausend, die von Ihrem großzügigen Fastopfer profitiert haben - Kinder, die jetzt laufen können, die lächeln, die ausreichend Nahrung und Kleidung erhalten, und Eltern, die jetzt mit ihren Kindern ein normales Leben führen können - danke ich Ihnen, dem Priestertum dieser Kirche, mit den Worten: „Danke, und möge Gott Sie segnen.”

Vor zweitausend Jahren saß Jesus von Nazaret an einem Brunnen in Samaria und sprach mit einer Frau über das lebendige Wasser: „Jesus antwortete ihr: Wer von diesem Wasser trinkt, wird wieder Durst bekommen;

wer aber von dem Wasser trinkt, das ich ihm geben werde, wird niemals mehr Durst haben; vielmehr wird das Wasser, das ich ihm gebe, in ihm zur sprudelnden Quelle werden, deren Wasser ewiges Leben schenkt.” (Johannes 4:13,14.)

Das Evangelium des Herrn Jesus Christus ermöglicht allen Menschen diese kostbare Gabe. König Benjamin hat in seiner unvergeßlichen Ansprache erklärt: „Wenn ihr euren Mitmenschen dient, allein dann dient ihr eurem Gott.” (Mosia 2:17.)

Liebe Brüder im Priestertum, wir alle engagieren uns im Dienst am Nächsten. Wir müssen ihn unterweisen, erbauen, stützen und inspirieren, denn „die Seelen haben großen Wert in den Augen Gottes” (LuB 18:10).

Überall in unserer Nähe gibt es Menschen, die in anderen das Bedürfnis, ja, den Durst nach dem lebendigen Wasser erkannt haben und die diesen Durst durch ihr Leben und ihren Dienst stillen.

Der verstorbene James Collier ist ein gutes Beispiel für wahre Liebe und inspiriertes Unterweisen. Er hat es geschafft, zahlreiche Brüder in der Gegend von Bountiful hier in Utah zu reaktivieren. Einmal hat er mich eingeladen, vor den Brüdern zu sprechen, die inzwischen zu Ältesten ordiniert worden und mit ihrer Frau und ihren Kindern im Salt-Lake-Tempel gewesen waren, um die ewigen Bündnisse einzugehen und die Segnungen zu erlangen, die sie sich so sehr ersehnt hatten.

Bei dem zu Ehren von Bruder Collier veranstalteten Festessen konnte ich deutlich sehen und spüren, wie sehr er die Männer liebte, die er unterwiesen und gerettet hatte. Bruder Collier war zu der Zeit schon schwerkrank und hatte große Mühe gehabt, die Ärzte zu überreden, ihn für einen Abend aus dem Krankenhaus gehen zu lassen. Als er dann am Rednerpult stand, breitete sich ein glückliches Lächeln über sein Gesicht aus. Mit Tränen in den Augen sagte er den Anwesenden, wie sehr er sie liebte. Auch nicht ein einziges Auge blieb trocken. Bruder Collier sagte scherzend: „Jeder möchte gerne ins celestiale Reich, aber keiner möchte vorher sterben.” Dann senkte er die Stimme und fuhr fort: „Ich bin bereit zu sterben, und ich werde auf der anderen Seite auf euch warten, meine lieben Freunde, und euch begrüßen.” Dann kehrte er ins Krankenhaus zurück. Nur wenige Wochen später wurde er begraben.

Darf ich zum Schluß zwei eigene Erlebnisse erzählen - eins aus meiner Kindheit und eins aus dem Erwachsenenleben?

Als ich Diakon war, spielte ich für mein Leben gern Baseball; das tue ich übrigens noch heute. Ich besaß einen Fanghandschuh, auf dem „Mel Ott” stand. Mel Ott war zu meiner Zeit der berühmteste Baseballspieler überhaupt. Meine Freunde und ich spielten immer auf dem schmalen Weg, der hinter den Häusern unserer Eltern verlief. Wir hatten dort zwar nicht viel Platz, aber das war nicht weiter schlimm, vorausgesetzt allerdings, man schlug den Ball geradewegs ins Mittelfeld. Wenn der Ball aber rechts vom Mittelfeld niederging, waren wir in Schwierigkeiten. Dort wohnte nämlich eine alte Dame namens Mrs. Shinas, die uns beim Spielen zuzusehen pflegte, und sobald der Ball auf ihr Grundstück rollte, stürzte sich ihr Hund auf den Ball, schnappte ihn und brachte ihn seinem Frauchen, das inzwischen die Tür geöffnet hatte. Mrs. Shinas ging dann mit dem Ball ins Haus und legte ihn zu den vielen anderen, die sie schon beschlagnahmt hatte. Sie war unser böser Geist und verdarb uns jeden Spaß; sie war schuld daran, daß unser Leben manchmal trüb und öde war. Niemand wußte etwas Gutes über Mrs. Shinas zu sagen, dafür aber viel Schlechtes. Und wenn Halloween war, rieben wir ihre Fenster dicker mit Seife ein als alle anderen. Keiner aus unserer Gruppe sprach mit Mrs. Shinas, und sie sprach auch nicht mit uns. Mrs. Shinas hatte ein steifes Bein und humpelte; wahrscheinlich hatte sie auch große Schmerzen. Sie und ihr Mann hatten keine Kinder, lebten völlig isoliert und verließen kaum jemals das Haus.

Unser privater Krieg dauerte eine Weile, vielleicht zwei Jahre. Aber dann geschah etwas, was das Eis zwischen uns schmelzen und gute Gefühle wachsen ließ. Eines Abends - ich wässerte gerade mit dem Gartenschlauch den Rasen vor unserem Haus, denn das war meine Aufgabe - fiel mir auf, daß Mrs. Shinas Rasen trocken war und schon langsam braun wurde. Ich kann beim besten Willen nicht mehr sagen, was über mich gekommen ist, aber ich nahm den Gartenschlauch und wässerte ihren Rasen ebenfalls. Das machte ich dann jeden Abend, und als es Herbst wurde, holte ich die Blätter nicht nur von unserem, sondern auch von ihrem Rasen und schichtete sie an der Straßenecke auf, wo sie später entweder verbrannt oder eingesammelt wurden. Während des ganzen Sommers hatte ich Mrs. Shinas nicht gesehen. Wir spielten schon lange nicht mehr Baseball auf dem Weg hinter den Häusern, denn die Bälle waren uns ausgegangen, und wir hatten kein Geld, um neue zu kaufen.

Dann öffnete sich eines Abends die Haustür, und Mrs. Shinas winkte mir, über den niedrigen Zaun zu springen und zum Haus zu kommen. Das tat ich auch, und als ich am Haus angekommen war, bat Mrs. Shinas mich ins Wohnzimmer und wies auf einen bequemen Sessel, wo ich Platz nehmen sollte. Dann ging sie in die Küche und kam mit einer großen Kiste voller Bälle zurück. Das waren die Bälle, die sie in den vergangenen Jahren eingesammelt hatte. Diese Kiste gab sie mir. Aber nicht das war das Wichtigste, sondern ihre Stimme. Zum erstenmal sah ich ein Lächeln auf ihrem Gesicht, und sie sagte: „Tommy, ich möchte, daß du diese Bälle behältst, und ich möchte dir auch dafür danken, daß du so nett zu mir warst.” Ich meinerseits bedankte mich bei ihr und ging dann wieder nach Hause - mit einer ganz anderen Einstellung. Wir waren jetzt keine Feinde mehr, sondern Freunde. Die Goldene Regel hatte sich wieder einmal bestätigt.

Liebe Brüder, manchmal sieht es so aus, als ob diejenigen, die unsere Hilfe brauchen, überhaupt keinen Wert darauf legen. Einmal war ich Missionspräsident in Toronto. Wenn mich damals jemand gefragt hätte, bei welchen von meinen Bekannten es am unwahrscheinlichsten sei, daß sie sich der Kirche anschlössen, hätte ich sicher auch Shelley genannt, den ich schon seit vielen Jahren kannte. Seine Frau hatte vergeblich versucht, in ihm Interesse an der Kirche zu wecken. Auch seine Tochter und sein Sohn hatten alles versucht, aber nichts hatte geholfen. Vielleicht lag es daran, daß Shelley einfach nicht in der Lage war, seine Gefühle zu zeigen. Auch die Gemeinde hatte sich mit ihm alle Mühe gegeben, aber ohne Erfolg. Shelley blieb ein Außenseiter.

Dann aber geschah ein Wunder. Vielleicht lag es daran, daß sein Sohn an Krebs starb, oder daran, daß er sich fast jedes Mal freundlich mit einem Schülerlotsen unterhielt, dem er morgens und nachmittags manchmal begegnete, oder vielleicht lag es auch an den Heimlehrern in der Gemeinde, in deren Einzugsbereich Shelley und seine Familie jetzt wohnten.

Nach drei Jahren in Kanada kehrte ich mit meiner Familie nach Salt Lake City zurück. Die Zeit verging, und ich hörte erst wieder nach meiner Berufung als Apostel etwas von Shelley. Eines Abends rief er mich an und fragte mich auf die für ihn so typische direkte Art, ob ich die heilige Handlung im Tempel vollziehen und seine Familie für die Ewigkeit siegeln wolle. Ich antwortete: „Shelley, das würde ich sehr gerne tun, aber Sie müssen erst einmal Mitglied der Kirche werden.” Können Sie sich meine Überraschung vorstellen, als er mir sagte: „Ich habe mich der Kirche angeschlossen. Ich trage jetzt das Melchisedekische Priestertum und bin sehr aktiv.”

Wie sehr habe ich mich gefreut, Shelley, seine Frau Eugenia, seine Tochter Utahna und - durch einen Stellvertreter - seinen Sohn Robert im Siegelungsraum des Salt-Lake-Tempels begrüßen zu können! Ich übertrug ihnen die Segnungen der Ewigkeit. Dann, nur drei Jahre später, hielt ich die Trauerrede für Shelley. Er hatte die Zweifel überwunden und den Glauben gefunden, und nun hatte er einen weiteren Schritt getan - er hatte die Erde verlassen und war ins Paradies eingetreten. Heute ist er mit seiner lieben Frau und mit Robert vereint, und gemeinsam warten sie auf Utahna. Wenn ich über Shelley nachdenke, spüre ich tiefe Dankbarkeit für den demütigen Schülerlotsen, die glaubenstreuen Heimlehrer, seine geduldige Frau, seine Tochter und alle, die dazu beigetragen haben, daß Shelley und seine Familie die Segnungen der Ewigkeit erhalten konnten.

Unser Herr und Erretter hat gesagt: „Komm und folge mir nach.” (Lukas 18:22.) Wenn wir seiner Aufforderung folgen und in seine Fußstapfen treten, wird er uns zeigen, wohin wir gehen sollen. Mit sanfter Stimme zeigt er uns den Weg durchs Leben und erinnert uns an unsere Pflicht: „Sammelt euch nicht Schätze hier auf der Erde, wo Motte und Wurm sie zerstören und wo Diebe einbrechen und sie stehlen, sondern sammelt euch Schätze im Himmel, wo weder Motte noch Wurm sie zerstören und keine Diebe einbrechen und sie stehlen. Denn wo dein Schatz ist, da ist auch dein Herz.” (Matthäus 6:19-21.)

Mögen wir auf seine Stimme hören und seinem Beispiel folgen. Mögen wir nach dem leben, was er gelehrt hat. Dann werden wir, wie der Apostel Petrus erklärt hat, eine „königliche Priesterschaft” sein. Ich bete darum, daß der Herr zu uns allen sagen wird: Er zog umher und hat Gutes getan, denn Gott war mit ihm (siehe Apostelgeschichte 10:38). Im Namen Jesu Christi. Amen.