1990–1999
Umkehr
April 1991


Umkehr

„Der innere Frieden, den das Evangelium den Menschen schenkt, wird uns nur dann zuteil, wenn wir unser falsches Verhalten nicht rechtfertigen und nicht andere für unser Unglücklichsein verantwortlich machen.”

Sie werden sich wahrscheinlich nicht mehr daran erinnern: als ich das letzte Mal hier am Rednerpult stand, habe ich über die Umkehr gesprochen. Heute will ich das wieder tun.

Es gibt ein Spiel, das die Kinder gerne auf dem Schulhof spielen. Dabei stellen sie sich im Kreis auf, und ein Kind schlägt das andere auf den Rücken und sagt dabei: „Gib’s weiter.” Das nächste Kind schlägt dann wieder seinen Nachbarn auf den Rücken und sagt: „Gib’s weiter.” Und so geht das weiter und weiter; jeder versucht, den Schmerz, den er empfunden hat, sowie seine Verantwortung abzuschütteln, indem er beides an einen anderen weitergibt.

Wir machen es oft auch so. Vielleicht ohne es recht zu merken, spielen wir als Erwachsene die Spiele weiter, die wir als Kinder gelernt haben, riskieren dabei aber viel mehr als einen Schlag auf den Rücken. Lassen Sie mich das erklären.

Heute ist es meistens so, daß niemand mehr bereit ist, die Verantwortung für sein Handeln zu übernehmen und für die Folgen einzustehen. Wer hat nicht schon davon gehört, daß jemand, der betrunken Auto gefahren ist, seinen Gastgeber dafür verantwortlich gemacht hat, daß er nichts dagegen unternommen hat, oder daß jemand, der bei einem Unfall verletzt wurde, den Arzt, der ihm doch nur helfen wollte, für die zurückbleibenden Schäden verantwortlich macht? Wie oft kommt es vor, daß jemand, der ein scheußliches Verbrechen begangen hat, sich auf Unzurechnungsfähigkeit beruf t oder die Schuld der Gesellschaft zuweist. Die Obdachlosen schieben alles auf den Alkohol. Der Alkoholiker gibt einen genetischen Defekt als Grund an. Wer andere mißhandelt oder Ehebruch begeht, gibt seinem zerrütteten Elternhaus die Schuld. Und es gibt immer wieder genug Menschen, die die Betreffenden darin bestärken und ihnen versichern, sie brauchten sich nicht schuldig zu fühlen, wenn ihnen nicht danach sei.

Aber die Gewohnheit, die Schuld auf jemand anderen abzuwälzen, die im weltlichen Bereich ja noch verständlich sein mag, zieht im geistigen Bereich schwerwiegende Folgen nach sich. Aber auch hier hat die Schuldzuweisung Tradition.

Kain gab Gott die Schuld, als dieser sein Opfer nicht annahm. „Ich war auch ergrimmt”, sagte er, „denn sein Opfer hast du angenommen und meines nicht.” (Mose 5:38.)

Laman und Lemuel gaben Nephi für fast alle Schwierigkeiten die Schuld. (Siehe l Nephi 16:35-38.) Pilatus wälzte die Schuld auf die Juden ab, als er angeordnet hatte, daß Jesus, den er als unschuldig befunden hatte, dennoch gekreuzigt werden sollte. (Siehe Lukas 23:4; siehe auch Matthäus 27:24.)

Selbst die Besten haben manchmal der Versuchung nachgegeben, andere für ihren Ungehorsam oder ihnen vorenthaltene Segnungen verantwortlich zu machen. Aaron zum Beispiel gab den Israeliten die Schuld, als Mose ihm vorwarf, er habe eine große Sünde begangen, indem er ihnen ein goldenes Kalb machte. (Siehe Exodus 32:19-24.) Und Marta wird wohl Maria die Schuld dafür gegeben haben, daß sie den Erretter an jenem unvergeßlichen Tag in Betanien ganz für sich in Anspruch nahm. (Siehe Lukas 10:40.)

Heute ist es nicht anders. Überall bekommt man zu hören: „Meine Frau versteht mich einfach nicht”, „jezt reg dich nicht auf, das machen doch alle” oder „ich konnte doch nichts dafür”. Jeder, der sagt: „Er hat angefangen” oder „sie verdient es nicht anders” übertritt das zweite wichtige Gebot (siehe Matthäus 22:35-40). Junge Leute und auch Erwachsene geben als Entschuldigung für falsches Verhalten oft im Scherz an: „Da muß mich der Teufel geritten haben.”

Wenn man mit den Folgen einer Übertretung konfrontiert wird, dann neigen viele Menschen dazu, den Fehler nicht bei sich zu suchen, sondern lieber bei jemand anders. Anstatt aus dem Kreis auszubrechen, geben sie ihrem Nächsten die Schuld für das, was sie leiden müssen, und versuchen, es weiterzugeben. Um Umkehr zu üben, muß man sich aber aus diesem Teufelskreis befreien.

Der erste Schritt bei der Umkehr besteht ganz einfach darin, daß man sich bewußt macht: Ich habe etwas falsch gemacht. Wenn man aber tief in Stolz verstrickt ist, immer Entschuldigungen findet, Angst hat, sich bloßzustellen, und seine vermeintliche Selbstachtung nicht verlieren will, dann ist man nicht in der Lage zuzugeben, daß man etwas falsch gemacht hat, und befindet sich in ernsten Schwierigkeiten. Man weiß dann nämlich nicht, ob der Herr Wohlgefallen an einem hat, weil man „kein Gefühl” mehr hat (siehe l Nephi 17:45). Aber alle Menschen müssen umkehren, wo sie sich auch befinden mögen. (Siehe 3 Nephi 11:32.) Wer das nicht tut, geht zugrunde. (Siehe Lukas 13:3; Helaman 7:28.)

Wenn man andere für sein eigenes falsches Verhalten verantwortlich macht, so ist das im günstigsten Fall als Anmaßung zu bezeichnen. Außerdem wirkt es sich höchst negativ auf die geistige Gesinnung aus, denn wir glauben ja daran, „daß der Mensch für seine eigenen Sünden bestraft werden wird und nicht für die Übertretung Adams” (2. Glaubensartikel). Das bedeutet nicht nur, daß wir nicht für das bestraft werden, was Adam im Garten von Eden getan hat, sondern es bedeutet auch, daß wir unser eigenes Verhalten nicht dadurch entschuldigen können, daß wir auf Adam oder jemand anderen verweisen. Wenn man es nicht schafft, die Verantwortung für sein Verhalten zu übernehmen, wird man nie auf den engen und schmalen Pfad gelangen. Darin liegt die wirkliche Gefahr. Wenn man sich falsch verhält und nicht das Bedürfnis verspürt, Umkehr zu üben, so mag das zuerst ganz angenehm sein, aber nicht für lange.

Und außerdem kann man auf diese Weise nie ewiges Leben erlangen.

Genauso töricht wie der Gedanke, man könne seine Schuld „weitergeben”, ist die Vorstellung, wenn man sich in einem geschlossenen Kreis - welcher Art auch immer - befinde, seien die Fehler, die man dort macht, nicht so schlimm. Viele Menschen glauben das, und es gibt auch ein Sprichwort dafür, nämlich: „Der Zweck heiligt die Mittel.” Wenn wir das vorurteilslos übernehmen, legen wir der Umkehr ebenfalls einen Stein in den Weg und berauben uns der Erhöhung.

Wer so etwas verkündet, versucht fast immer auch, den Einsatz von falschen oder zumindest zweifelhaften Mitteln zu entschuldigen. Er sagt etwa: „Ich wollte doch etwas Gutes tun, ich wollte glücklich werden; da ist es doch nicht schlimm, wenn man ein bißchen lügt, die Wahrheit ein bißchen zurechtrückt, mal ein bißchen unehrlich ist oder das Gesetz zurechtbiegt.”

Manchmal sagen Menschen auch, es sei nichts dabei, die Wahrheit zu verheimlichen, seinem Widersacher eine Grube zu graben oder auf den eigenen Vorteil bedacht zu sein, zum Beispiel durch mehr Wissen oder eine höhere Stellung. Sie sagen: „Das machen doch alle” oder „ich will eben ich selber sein” oder „im Krieg und in der Liebe ist alles erlaubt” oder „so ist eben das Leben”. Aber wenn die Mittel, mit denen man seine Ziele zu erreichen sucht, falsch sind, dann läßt sich das auch durch noch so viele Ausreden und Erklärungen nicht zurechtrücken.

Wer das nicht glaubt, dem legt Nephi ans Herz: „Ja, und es wird viele geben, die auf diese Weise falsche und unnütze und törichte Lehren predigen; und sie werden sich im Herzen aufblasen und mit ihren Plänen tief verborgen sein wollen vor dem Herrn.” (2 Nephi 28:9.)

Manchmal versucht jemand auch, sein Verhalten mit einer Schriftstelle zu entschuldigen. Wenn jemand deutlich machen will, daß es manchmal nötig ist, ein Gesetz zu brechen, um etwas Gutes zustande zu bringen oder ein ganzes Volk davor zu bewahren, in Unglauben zu verfallen, weist er zum Beispiel oft darauf hin, daß Nephi Laban umgebracht hat. Aber dabei unterschlägt er die Tatsache, daß Nephi sich zweimal geweigert hat, auf die Eingebung des Geistes zu hören. Und schließlich übertrat er das Gebot auch nur deshalb, weil er überzeugt war, daß „der Herr die Schlechten” tötet, „um seine rechtschaffenen Absichten zu verwirklichen” (l Nephi 4:13; Hervorhebung hinzugefügt), und weil er wußte (das glaube ich zumindest), daß der Herr, der ja das Recht hat, eine Strafe festzulegen oder aufzuheben, in diesem besonderen Fall die Strafe für Blutvergießen aufgehoben hatte.

Wir werden ja nach dem Maß gemessen, das wir selbst anlegen, und nicht nach den Zielen, die wir erreichen wollten. Es wird uns am letzten Tag wenig nützen, wenn wir dem großen Richter sagen: „Ich weiß, daß ich nicht so gut war, wie ich hätte sein können, aber ich hatte immer nur die besten Absichten.”

Es ist gefährlich, wenn man sich nur auf seine Ziele konzentriert. Solchen Menschen hat der Erretter gesagt:

„An jenem Tag werden viele zu mir sprechen: Herr, Herr, haben wir nicht in deinem Namen prophezeit? Haben wir nicht in deinem Namen Teufel ausgetrieben? Haben wir nicht in deinem Namen viele wunderbare Werke getan?

Und dann werde ich ihnen bekennen: Ich habe euch noch nie gekannt; weicht von mir, ihr Übeltäter!” (3 Nephi 14:22,23.)

Im Kampf im Himmel ging es in erster Linie auch darum, mit welchen Mitteln der Erlösungsplan in die Tat umgesetzt werden sollte. Hier wird deutlich, daß die Mittel selbst für das größte Ziel von allen, nämlich das ewige Leben, wichtig sind. Deshalb müßte es eigentlich jedem denkfähigen Mitglied klar sein, daß sich dieses Ziel niemals mit den falschen Mitteln erreichen läßt.

Wenn man meint, der Zweck heilige die Mittel, trifft man ein Urteil, das einem nicht zusteht. Da liegt die große Gefahr. Wer gibt uns denn das Recht zu behaupten, der Herr werde Schlechtigkeit vergeben, wenn man damit „etwas Gutes” erreichen wollte? Selbst wenn das Ziel gut ist, darf man doch nicht darüber hinausschauen und es versäumen, von den Fehlern umzukehren, die man auf dem Weg dorthin begangen hat.

Natürlich haben wir das Recht, nach Glück zu streben. Aber es wäre gut, wenn wir dabei hin und wieder eine Pause einlegten und über uns nachdächten. Wir dürfen nicht vergessen, daß schlecht zu sein noch nie glücklich gemacht hat (siehe Alma 41:10). Der innere Frieden, den das Evangelium den Menschen schenkt, wird uns nur dann zuteil, wenn wir unser falsches Verhalten nicht rechtfertigen und nicht andere für unser Unglücklichsein verantwortlich machen. Es gibt einen Weg aus dem Teufelskreis. Denken wir an das sinnlose Kinderspiel, und gehen wir still weg. Heben wir den Kopf, hören wir auf, verlassen wir den Kreis, bekennen wir unsere Schuld, entschuldigen wir uns, geben wir zu, daß wir anderen geschadet haben, und gehen wir einfach weg.

Es gibt hier auf der Erde so viel Wichtiges, was wir tun müssen. Wir haben einfach nicht genug Zeit, als daß wir sie an Spiele verschwenden könnten. Wir müssen wichtige heilige Handlungen vollziehen. Wir müssen heilige Bündnisse schließen und einhalten. Wir müssen von jedem Wort leben, „das aus dem Mund Gottes kommt” (LuB 98:14). Das gilt auch für Kleinigkeiten. Wir müssen Prüfungen bestehen, und wahrscheinlich wird es noch andere Kreise geben, aus denen wir ausbrechen müssen. Aber wie es mit unserer Errettung bestellt sein wird, entscheidet sich an unserem Verhalten.

Deshalb lege ich allen, die sich immer wieder einmal gesagt haben: „Ich habe keine Schuld - die Umstände haben mich dazu gezwungen” ans Herz - und das gilt auch für mich: „Das mag schon sein, aber gerade da lauert große Gefahr. Und wenn wir unserer Sache nicht ganz sicher sind, wollen wir lieber umkehren.” Oder, um es mit Ijob auszudrücken: „War’ ich im Recht, mein eigener Mund spräche mich schuldig; wäre ich gerade, er machte mich krumm.” (Ijob 9:20.)

Und denen, die sagen: „Ich mag ja etwas getan haben, was nicht ganz richtig war, aber meine Absichten dabei waren gut und Gott wird mich schon rechtfertigen”, halte ich entgegen: „Das mag schon sein, aber verlassen Sie sich lieber nicht darauf.” Denn im Buch, Lehre und Bündnisse’, Abschnitt 137, Vers 9, heißt es:

„Denn ich, der Herr, werde alle Menschen gemäß ihren Werken richten, gemäß den Wünschen ihres Herzens.”

Möge der Herr uns segnen, damit wir uns so sehen, wie wir wirklich sind, und Umkehr üben, wenn die Notwendigkeit dazu besteht. Darum bete ich im Namen Jesu Christi. Amen.