Lehren der Präsidenten der Kirche
Wir müssen anderen von ganzem Herzen vergeben


Kapitel 9

Wir müssen anderen von ganzem Herzen vergeben

Der Herr gebietet uns, anderen zu vergeben, damit wir Vergebung für unsere eigenen Sünden erlangen und mit Frieden und Freude gesegnet werden können.

Aus dem Leben von Spencer W. Kimball

Als Präsident Spencer W. Kimball darüber sprach, wie wir Vergebung erlangen können, unterstrich er auch, wie wichtig der Grundsatz ist, anderen zu vergeben. Er legte allen Menschen ans Herz, sich zu bemühen, Vergebungsbereitschaft zu entwickeln. Dabei erzählte er folgende Begebenheit:

„In einer kleinen Gemeinde … hatte ich mit Schwierigkeiten zu tun. Zwei prominente Männer, beide in der Öffentlichkeit führend tätig, hatten sich in einem langen, unerbittlichen Streit festgefahren. Irgendein Missverständnis hatte sie entzweit, und es war Feindschaft entstanden. Im Lauf der Tage, Wochen und Monate verhärteten sich die Fronten immer mehr. Auch die betreffenden Familien mischten sich ein, und schließlich war fast die gesamte Gemeinde mit hineingezogen. Gerüchte schwirrten, der Meinungsstreit wurde öffentlich ausgetragen, Klatsch wurde wie mit feurigen Zungen weitergetragen, bis die kleine Gemeinde durch eine tiefe Kluft gespalten war. Ich wurde hingeschickt, um die Angelegenheit zu bereinigen. … Ich [kam] Sonntag abends um sechs Uhr in der schwierigen Gemeinde an. Sogleich hielt ich mit den Hauptgegnern eine Sitzung ab.

Wie rangen wir doch miteinander! Wie flehte und riet und warnte und drängte ich! Nichts schien sie zu rühren. Jeder war von seinem Standpunkt so sehr überzeugt und fühlte sich so sehr im Recht, dass es unmöglich war, sie von der Stelle zu bewegen.

Die Stunden vergingen. Es war schon lange nach Mitternacht, und es schien, als hüllte Verzweiflung uns alle ein. Die Stimmung war noch immer durch Gereiztheit und Unwillen gekennzeichnet. Keiner wollte seinen dickköpfigen Widerstand aufgeben. Dann aber geschah es. Wahllos schlug ich das Buch Lehre und Bündnisse auf, und da hatte ich es vor mir. Ich hatte es in der Vergangenheit viele Male gelesen, doch damals hatte es mir nichts Besonderes bedeutet. An dem Abend aber war es genau die richtige Antwort. Es war ein Appell, eine flehentliche Bitte und zugleich eine Drohung, und es kam offenbar direkt vom Herrn. Ich las [Abschnitt 64] von Vers sieben an vor, aber die streitenden Parteien gaben um kein Haarbreit nach, bis ich zu Vers neun kam. Da sah ich sie zusammenzucken, erschreckt und verwundert. Konnte das denn stimmen? Der Herr spricht uns an, uns alle: ‚Darum sage ich euch: Ihr sollt einander vergeben.‘

Das war eine Verpflichtung, und die hatten sie schon früher gehört. Sie hatten es selbst gesagt, wenn sie das Vaterunser beteten. Aber jetzt: ‚Denn wer seinem Bruder dessen Verfehlungen nicht vergibt, der steht schuldig vor dem Herrn.‘

Sie mochten noch im Stillen gedacht haben: ‚Ja, ich kann ihm vergeben, wenn er umkehrt und um Verzeihung bittet; aber er muss den Anfang machen!‘ Dann traf sie die letzte Zeile mit voller Wucht: ‚Denn auf ihm verbleibt die größere Sünde.‘

Was? Bedeutet das denn, dass ich meinem Gegner vergeben muss, selbst wenn er ungerührt, gleichgültig und niederträchtig bleibt? Jawohl, daran ist nicht zu zweifeln.

Es ist ein weit verbreiteter Irrtum, dass derjenige, der das Unrecht begangen hat, sich zu entschuldigen und bis in den Staub zu demütigen habe, ehe man ihm vergeben muss. Zwar stimmt es, der Beleidiger soll zuerst alles tun, was von seiner Seite aus erforderlich ist, um die Sache zu bereinigen, aber was den Beleidigten betrifft, so muss er dem Beleidiger vergeben, wie auch immer dessen Einstellung sein mag. Manchmal empfindet jemand Genugtuung, wenn der andere auf den Knien liegt und sich in den Staub wirft, aber das ist nicht, wie es im Evangelium sein soll.

Bestürzt setzten sich die zwei Männer auf, lauschten und dachten eine Minute lang nach; dann fingen sie an nachzugeben. Nach all den anderen Schriftstellen, die ich vorgelesen hatte, zwang diese sie in die Knie. Zwei Uhr morgens war es, als sich zwei bitterböse Feinde die Hand reichten, lächelten und einander vergaben und um Verzeihung baten. Die Umarmung der beiden hatte eine tiefe Bedeutung, es war eine heilige Stunde. Was sie sich früher vorgeworfen hatten, war vergeben und vergessen, und aus den Feinden wurden wieder Freunde. Der Streit kam nie wieder zur Sprache. Es war, als hätte man die Skelette der Vergangenheit begraben, die Grabkammer zugeschlossen und den Schlüssel weggeworfen. Der Friede war wiederhergestellt.“1

Seine ganze Amtszeit hindurch ermahnte Präsident Kimball die Mitglieder, vergebungsbereit zu sein: „Gibt es Missverständnisse, so klären Sie sie, vergeben und vergessen Sie; lassen Sie nicht zu, dass alter Groll Ihre Seele verändert und beeinflusst und Ihre Liebe und Ihr Leben zerstört. Bringen Sie Ihr Haus in Ordnung. Lieben Sie einander, lieben Sie Ihren Nächsten, Ihre Freunde, die Menschen in Ihrer Nähe, so wie der Herr Ihnen diese Kraft gibt.“2

Lehren von Spencer W. Kimball

Wir müssen vergeben, um Vergebung zu erlangen.

Wenn nun die Vergebung eine unbedingte Voraussetzung für das ewige Leben ist, fragt man sich natürlich: Wie kann ich mir diese Vergebung am besten sichern? Aus den vielen grundlegenden Bedingungen sticht eine sogleich hervor, weil sie unerlässlich ist: Wer Vergebung erlangen will, muss selbst vergeben.3

„Denn wenn ihr den Menschen ihre Verfehlungen vergebt, dann wird euer himmlischer Vater auch euch vergeben.

Wenn ihr aber den Menschen nicht vergebt, dann wird euch euer Vater eure Verfehlungen auch nicht vergeben.“ (Matthäus 6:14,15.)

Ist es schwer? Gewiss. Der Herr hat uns nie verheißen, dass der Weg leicht, das Evangelium einfach, die Maßstäbe oder die Norm niedrig sein würden. Der Preis ist hoch, aber das Gute, das man erlangt, ist allen Aufwand wert. Auch der Herr hat die andere Wange hingehalten; er hat sich herumstoßen und schlagen lassen, ohne aufzubegehren; er hat jegliche Schmach erduldet, ohne auch nur ein verdammendes Wort auszusprechen. Und seine Frage an uns alle lautet: „Darum: Was für Männer sollt ihr sein?“ Und seine Antwort an uns ist die: „So, wie ich bin.“ (3 Nephi 27:27.)4

Wir müssen anderen aufrichtig vergeben, und es muss von ganzem Herzen kommen.

Dass es einem geboten ist, zu vergeben, und dass man schuldig gesprochen wird, wenn man es unterlässt, könnte gar nicht deutlicher ausgedrückt werden als in der folgenden neuzeitlichen Offenbarung an den Propheten Joseph Smith:

„Meine Jünger in alten Tagen haben Anlass gegeneinander gesucht und einander in ihrem Herzen nicht vergeben; und wegen dieses Übels sind sie bedrängt und schwer gezüchtigt worden.

Darum sage ich euch: Ihr sollt einander vergeben; denn wer seinem Bruder dessen Verfehlungen nicht vergibt, der steht schuldig vor dem Herrn; denn auf ihm verbleibt die größere Sünde.

Ich, der Herr, vergebe, wem ich vergeben will, aber von euch wird verlangt, dass ihr allen Menschen vergebt.“ (LuB 64:8-10.) …

Dies gilt auch heute für uns. Nachdem eine Versöhnung zustande gebracht worden ist, sagen viele, sie hätten einander vergeben, und doch bleiben sie bei ihrer Böswilligkeit, verdächtigen den anderen auch weiterhin und glauben nicht an seine Aufrichtigkeit. Das ist eine Sünde, denn wenn es zu einer Versöhnung gekommen und Umkehr zum Ausdruck gebracht worden ist, muss jeder vergeben und vergessen, die zerrissene Beziehung wieder anknüpfen und das frühere Einvernehmen wiederherstellen.

Offensichtlich haben die Jünger in der Urkirche ihre Vergebung mit Worten bekundet und die Sache oberflächlich wieder in Ordnung gebracht, aber sie haben „einander in ihrem Herzen nicht vergeben“. Das ist aber keine Vergebung, sondern riecht nach Heuchelei, Täuschung und Ausflüchten. Wie im Mustergebet Christi mit inbegriffen, muss es eine Tat des Herzens sein und man muss sich innerlich reinigen [siehe Matthäus 6:12; siehe auch Vers 14 und 15]. Vergebung bedeutet, dass man vergisst. Eine Frau in einer kleinen Gemeinde hatte sich zur Versöhnung bewegen lassen und hatte die entsprechenden Gesten und eine Unmenge Worte der Verzeihung von sich gegeben. Dann aber stieß sie mit blitzenden Augen hervor: „Ich vergebe ihr, aber ich habe ein Gedächtnis wie ein Elefant. Vergessen werde ich es niemals!“ Ihr vorgebliches Verzeihen war wertlos, war null und nichtig. Im Herzen hegte sie noch immer Bitterkeit. Ihre freundlichen Worte waren wie ein Spinnennetz, die wieder angeknüpften Beziehungen waren wie Stroh, und sie selbst fand auch weiterhin keinen Seelenfrieden. Was aber noch schlimmer war, sie stand „schuldig vor dem Herrn“, und in ihr verblieb eine noch größere Sünde als in der anderen Frau, die ihr angeblich Unrecht zugefügt hatte.

Dieser zänkischen Frau wurde wohl kaum bewusst, dass sie der anderen überhaupt nicht vergeben hatte. Sie hatte nur so getan, als ob. Ihre Räder drehten durch, und sie kam nicht von der Stelle. In der oben zitierten Schriftstelle haben die Worte in ihrem Herzen eine tiefe Bedeutung. Man muss seine Gefühle und Gedanken frei machen und alle Bitterkeit von sich tun. Mit bloßen Worten ist es nicht getan.

„Denn siehe, wenn ein Mensch, der böse ist, eine Gabe gibt, so tut er es widerwillig; darum wird es ihm so angerechnet, als hätte er die Gabe zurückgehalten; darum wird er vor Gott als böse gezählt.“ (Moroni 7:8.)

Henry Ward Beecher hat diesen Gedanken folgendermaßen in Worte gefasst: „Vergeben, aber nicht vergessen zu können heißt mit anderen Worten, nicht vergeben zu können.“

Ich darf noch hinzufügen: Wenn einer seinem Bruder dessen Verfehlungen nicht von ganzem Herzen vergibt, so ist er nicht würdig, am Abendmahl teilzunehmen.5

Wir sollen das Urteil dem Herrn überlassen.

Wenn wir im Recht sein wollen, müssen wir vergeben, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob unser Gegner Umkehr übt und wie aufrichtig seine Wandlung ist und ob er uns um Verzeihung bittet oder nicht. Wir müssen dem Beispiel und der Lehre unseres Meisters folgen, der gesagt hat: „Ihr solltet in eurem Herzen sprechen: Lass Gott richten zwischen mir und dir und dir vergelten gemäß deinen Taten.“ (LuB 64:11.) Die Menschen wollen es aber dem Herrn oft nicht überlassen, weil sie fürchten, der Herr werde zu barmherzig sein und nicht so streng verfahren, wie es der Fall erfordere.6

Einige Leute können oder wollen nicht nur nicht vergeben und vergessen, sondern versteigen sich auch noch dazu, den mutmaßlichen Übertreter zu jagen und zu quälen. Ich bin schon von vielen angeschrieben und angerufen worden, die entschlossen waren, das Schwert der Gerechtigkeit selbst in die Hand zu nehmen, und sich angemaßt haben, dafür zu sorgen, dass der Übertreter seine Strafe finde. „Dieser Mensch muss ausgeschlossen werden“, ereiferte sich eine Frau, „und ich werde nicht ruhen, bis er bekommen hat, was er verdient.“ Eine andere sagte: „Ich finde keine Ruhe, solange diese Person noch Mitglied der Kirche ist.“ Dann wieder jemand: „Ich komme so lange nicht mehr ins Gemeindehaus, wie dieser Bruder hinein darf. Ich will, dass ein Gericht darüber befindet, ob er Mitglied bleiben darf.“ Ein Mann fuhr sogar mehrmals nach Salt Lake City und schrieb einige lange Briefe, um sich über den Bischof und den Pfahlpräsidenten zu beschweren, die keine ausreichenden disziplinarischen Maßnahmen gegen jemand durchgeführt hätten, der, wie er behauptete, gegen die Gesetze der Kirche verstieß.

All denen, die selbst das Recht in die Hand nehmen möchten, lesen wir abermals die eindeutige Feststellung des Herrn vor: „Denn auf ihm verbleibt die größere Sünde.“ (LuB 64:9.) In der Offenbarung heißt es weiter: „Und ihr solltet in eurem Herzen sprechen: Lass Gott richten zwischen mir und dir und dir vergelten gemäß deinen Taten.“ (LuB 64:11.) Wenn jemand von einer Übertretung erfahren und sie ordnungsgemäß dem zuständigen Beamten der Kirche gemeldet hat, soll er die Sache nicht weiter verfolgen und die Verantwortung dem Beamten überlassen. Wenn ein Beamter zulässt, dass Mitglieder sündigen, lädt er eine furchtbare Verantwortung auf sich und wird dafür zur Rechenschaft gezogen werden.7

Der Herr wird uns nach den gleichen Maßstäben beurteilen, die wir an andere anlegen. Wenn wir streng und hart sind, dürfen wir nichts anderes erwarten als Härte und Strenge. Wenn wir zu denen, die uns kränken, barmherzig sind, wird er auch zu uns barmherzig sein, wenn wir Fehler begehen. Wenn wir nicht bereit sind zu vergeben, wird er uns nicht aus unseren Sünden herausheben.

Nicht nur, dass die heilige Schrift deutlich sagt, dem Menschen würden einmal die gleichen Maßstäbe angelegt werden, mit denen er gemessen hat – nein, auch dort, wo regelmäßig Urteil gesprochen werden muss, steht das nicht dem Laien zu, sondern den befugten Autoritäten der Kirche und des Staates. Das letzte, entscheidende Urteil wird vom Herrn gefällt. …

Der Herr kann die Menschen nicht nur nach ihren Worten und Taten richten, sondern auch nach ihren Gedanken; denn er kennt sogar die Absichten ihres Herzens, was freilich die Menschen nicht können. Wir hören, was jemand sagt, wir sehen, was jemand tut, aber wir vermögen nicht zu erkennen, was jemand denkt und beabsichtigt, und darum urteilen wir oft falsch, wenn wir versuchen, die Beweggründe für sein Handeln zu erforschen und seinen Gedanken zu folgen, ihnen dann aber unsere eigene Auslegung unterschieben.8

Auch wenn es schwer ist, können wir vergeben.

Im Zusammenhang mit dem Thema Vergebungsbereitschaft fragte mich ein guter Bruder: „Ja, das sollte man tun, aber wie bringt man es fertig? Dazu ist doch fast ein Übermensch notwendig.“

„Ja“, antwortete ich, „aber es ist uns geboten, ein Übermensch zu sein. Der Herr hat ja gesagt: ‚Ihr sollt also vollkommen sein, wie es auch euer himmlischer Vater ist.‘ (Matthäus 5:48.) Wir sind Götter im Embryonalzustand, und der Herr verlangt von uns, dass wir vollkommen werden.“

„Sicher, Christus hat denen vergeben, die ihm Böses angetan haben; aber er war auch mehr als ein Mensch“, gab er zurück.

Worauf ich ihm antwortete: „Es gibt dennoch viele Menschen, die imstande gewesen sind, diese göttliche Eigenschaft anzuwenden.“

Offenbar gibt es viele, die wie dieser gute Bruder die bequeme Theorie vertreten, die Vergebung … sei mehr oder weniger das Monopol von Gestalten aus der heiligen Schrift oder der Dichtung und dürfe von wirklichen Menschen in der heutigen Welt kaum erwartet werden. Das stimmt nicht.9

Ich kannte eine junge Mutter, deren Ehemann gestorben war. Der Familie war es schlecht ergangen, und die Versicherungssumme belief sich auf nur 2000 Dollar, aber dies war wie ein Geschenk des Himmels. Nach Erhalt der amtlichen Sterbeurkunde übersandte ihr die Versicherungsgesellschaft sofort den Scheck. Die junge Witwe beschloss, das Geld für den Notfall zu sparen, und so zahlte sie es bei der Bank ein. Andere erfuhren von diesem Guthaben, und ein Angehöriger überredete sie, ihm die 2000 Dollar zu einem sehr hohen Zinssatz zu borgen.

Jahre vergingen, und sie erhielt weder Zinsen noch Kapitalrückzahlungen. Sie bemerkte, dass ihr der Schuldner aus dem Weg ging und, sooft sie ihn nach dem Geld fragte, ausweichende Versprechungen machte. Inzwischen benötigte sie das Geld und konnte es nicht bekommen.

„Wie ich ihn hasse!“, sagte sie zu mir, und ihr Mund spie Gift und Galle, ihre dunklen Augen blitzten. Er war doch ein gesunder Mann – wie konnte er eine junge Witwe betrügen, die noch dazu für ihre Kinder sorgen musste! „Ich verabscheue ihn!“, wiederholte sie immer wieder. Dann erzählte ich ihr davon, wie ein Mann dem Mörder seines Vater vergeben hatte. Sie hörte aufmerksam zu. Ich sah, wie beeindruckt sie war. Zum Schluss hatte sie Tränen in den Augen und flüsterte: „Danke, vielen herzlichen Dank. Sicherlich muss auch ich meinem Feind vergeben. Ich werde jetzt mein Herz von aller Verbitterung reinigen. Ich rechne nicht damit, dass ich mein Geld jemals wiedersehe, aber ich überlasse ihn, der mir ein Unrecht angetan hat, dem Herrn.“

Wochen später kam sie wieder zu mir und berichtete mir, dass diese vergangenen Wochen die schönsten ihres ganzen Lebens gewesen seien. Ein neuer Friede umfing sie, und sie war imstande, für den Missetäter zu beten und ihm zu vergeben, obwohl sie nie auch nur einen Dollar von ihrem Geld zurückbekam.10

Wenn wir anderen vergeben, machen wir uns von Hass und Verbitterung frei.

Warum verlangt der Herr von Ihnen, dass Sie Ihre Feinde lieben und Schlechtes mit Gutem vergelten? Damit Sie selbst Nutzen daraus ziehen können. Es schadet nämlich nicht demjenigen, den Sie hassen, vor allem dann nicht, wenn er weit weg ist und mit Ihnen nicht in Kontakt kommt. Aber Hass und Verbitterung zerfressen Ihr unversöhnliches Herz. …

Vielleicht hatte Petrus Menschen getroffen, die ihm ständig etwas antaten. Er fragte:

„Herr, wie oft muss ich meinem Bruder vergeben, wenn er sich gegen mich versündigt?“

Und der Herr sagte:

„Nicht siebenmal, sondern siebenundsiebzigmal.“ (Matthäus 18:21,22.) …

Die meisten von uns können vergeben, wenn der andere Umkehr geübt und auf Knien um Verzeihung gebeten hat, aber der Herr hat verlangt, dass wir selbst dann vergeben, wenn der andere nicht umkehrt und uns auch nicht um Verzeihung bittet. …

Es muss uns daher völlig klar sein, dass wir auch dann ohne Vergeltung und Rache vergeben müssen, denn der Herr wird alles für uns tun, was notwendig ist. … Verbitterung verletzt denjenigen, der sie empfindet; sie verhärtet, erniedrigt und zerfrisst uns.11

Oft kommt es vor, dass jemand beleidigt wird, und der Übeltäter ist sich dessen gar nicht bewusst. Er hat etwas gesagt oder getan, was falsch ausgelegt oder missverstanden worden ist. Der Betroffene behält die Beleidigung im Herzen und fügt noch anderes hinzu, was Öl ins Feuer gießen und seine Schlussfolgerungen rechtfertigen könnte. Es mag sein, dass der Herr deswegen verlangt, dass derjenige, der beleidigt worden ist, den ersten Schritt zur Versöhnung hin machen soll.

„Und wenn dir dein Bruder oder deine Schwester Unrecht tut, sollst du ihn oder sie nehmen, zwischen ihm oder ihr und dir allein; und wenn er oder sie bekennt, sollst du versöhnt sein.“ (LuB 42:88.) …

Befolgen wir dieses Gebot oder schmollen wir in unserer Verbitterung und warten darauf, dass derjenige, der uns beleidigt hat, davon erfährt und reumütig vor uns auf die Knie fällt?12

Vielleicht ärgern wir uns über unsere Eltern, über einen Lehrer oder den Bischof und stürzen uns selbst in einen unermesslichen Abgrund hinab, wenn wir unter dem Gift der Verbitterung und des Hasses verkümmern und eingehen. Der gehasste Mensch geht weiter seinen Angelegenheiten nach und bemerkt kaum das Leid des Hasserfüllten – dieser betrügt sich also selbst. …

Wenn wir in der Kirche inaktiv werden, nur um den Führern eins auszuwischen oder unseren verletzten Gefühlen freien Lauf zu lassen, betrügen wir uns selbst.13

Inmitten der Misstöne von Hass, Verbitterung und Vergeltung, die man heutzutage so häufig hört, wirkt der weiche Klang der Vergebung wie heilender Balsam, und dieser zeigt gerade bei dem, der vergibt, eine große Wirkung.14

Wenn wir anderen vergeben, werden wir mit Freude und Frieden gesegnet.

Inspiriert vom Herrn Jesus Christus, hat Paulus uns die Lösung für diejenigen Lebensprobleme gezeigt, die Verständnis und Vergebung erfordern. „Seid gütig zueinander, seid barmherzig, vergebt einander, weil auch Gott euch durch Christus vergeben hat.“ (Epheser 4:32.) Wenn es sich erreichen ließe, dass in jede Familie ein solcher Geist einzöge – nämlich dass man einander mit herzlichem Wohlwollen vergibt –, dann gäbe es bald keine Selbstsucht, kein Misstrauen und keine Verbitterung mehr, wodurch so viele Familien zerbrochen sind, sondern die Menschen würden friedlich zusammenleben.15

Vergebung ist eine wunderbare Substanz, die Harmonie und Liebe sichert, sei es in der Familie, sei es in der Gemeinde. Ohne Vergebung gibt es nur Streit. Ohne Verständnis und Vergebung kommt es zu Auseinandersetzungen, danach zum Mangel an Harmonie, und daraus entsteht Treulosigkeit – in der Familie, im Zweig, in der Gemeinde. Andererseits aber entspricht Vergebung dem Geist des Evangeliums, nämlich dem Geist Christi. Und das ist der Geist, von dem wir alle erfasst sein müssen, wenn wir für unsere eigenen Sünden Vergebung erlangen und schuldlos vor Gott stehen möchten.16

Häufig kommt uns der Stolz in den Weg und wird für uns zum Stolperstein. Doch wir alle müssen uns die Frage stellen: „Ist mir mein Stolz wichtiger als mein Seelenfrieden?“

Nur zu oft kommt es vor, dass jemand, der Hervorragendes geleistet und sich um die Menschheit verdient gemacht hat, von seinem Stolz daran gehindert wird, den Lohn zu erhalten, auf den er Anspruch gehabt hätte. Beständig müssen wir – sozusagen in Sack und Asche – ein verzeihendes Herz und einen zerknirschten Geist haben und bereitwillig echte Demut zeigen, wie es der Zöllner getan hat [siehe Lukas 18:9-14], und wir müssen, wenn wir Vergebung üben wollen, den Herrn um Hilfe bitten.17

So lange es das irdische Leben gibt, leben und arbeiten wir mit unvollkommenen Menschen; dabei gibt es Missverständnisse und Beleidigungen, und empfindliche Gefühle werden verletzt. Die besten Absichten werden häufig missverstanden. Es ist erfreulich, dass es viele gibt, die in wahrer Seelengröße ihr Denken berichtigt, ihren Stolz überwunden und vergeben haben, was sie als persönliche Kränkung angesehen haben. Zahllose andere, die auf gefährlichen, einsamen und dornigen Pfaden in hoffnungsloses Elend gelaufen sind, haben zuletzt doch die Verbesserung angenommen, den Irrtum eingesehen, ihr Herz von Verbitterung gesäubert und haben wieder Frieden erlangt, den begehrten Frieden, der einem so deutlich fehlt, wenn er nicht vorhanden ist. Und die Enttäuschungen, die Kritik, Verbitterung und daraus resultierende Entfremdung bewirken, haben Wärme, Licht und Frieden Platz gemacht.18

Man kann es schaffen, man kann sich selbst überwinden. Der Mensch kann damit fertig werden. Er kann allen vergeben, die sich gegen ihn verfehlt haben, und wenn er es tut, wird er in diesem Leben Frieden und in der künftigen Welt ewiges Leben haben.19

Wenn wir Frieden mit allen Mitteln anstrebten und die Initiative ergriffen, damit Streit beigelegt wird, wenn wir von ganzem Herzen vergäben und vergäßen, wenn wir unser eigenes Wesen von Sünde, Bitterkeit und Schuld säuberten, bevor wir einen Stein oder eine Anschuldigung auf andere werfen, wenn wir alle echten und eingebildeten Beleidigungen vergäben, bevor wir Vergebung für unsere eigenen Sünden erbitten, wenn wir unsere eigenen Schulden bezahlten, seien sie groß oder klein, bevor wir Druck auf unsere Schuldner ausüben, wenn wir dafür sorgten, dass wir unser eigenes Auge vom Balken, der uns blind macht, befreien, bevor wir das Staubkorn im Auge anderer aufbauschen – wie herrlich wäre dann doch diese Welt! Es gäbe fast keine Scheidungen mehr, die Gerichte müssten sich nicht immer wieder mit abstoßenden Fällen abmühen, das Familienleben wäre dem Himmel nah, der Aufbau des Gottesreiches ginge schneller voran, und der Friede, der das Verstehen übersteigt [siehe Philipper 4:7] brächte uns allen Freude und Glück, „was keinem Menschen in den Sinn gekommen ist“ [siehe 1 Korinther 2:9].20

Möge der Herr uns alle segnen, sodass wir immer den wahren Geist der Umkehr und Vergebung in unserem Herzen tragen, bis wir vollkommen geworden sind und den Herrlichkeiten der Erhöhung entgegensehen, die die erwarten, die in allem glaubenstreu sind.21

Anregungen für Studium und Unterricht

Beachten Sie diese Anregungen, wenn Sie sich mit dem Kapitel befassen oder sich auf den Unterricht vorbereiten. Weitere Anregungen siehe Seite vii-xii.

  • Lesen Sie die Geschichte auf Seite 106ff. noch einmal. Warum fällt es den Menschen manchmal so schwer, einander zu vergeben? Was bedeutet für Sie, „denn auf ihm verbleibt die größere Sünde“ (LuB 64:9)?

  • Lesen Sie die Schriftstelle Matthäus 6:14,15, die Präsident Kimball auf Seite 109 zitiert, noch einmal. Warum müssen wir Ihrer Meinung nach anderen vergeben, damit wir die Vergebung des Herrn erlangen können?

  • Welches Verhalten und welche Taten zeigen, dass unsere Bereitschaft, anderen zu vergeben, tief empfunden ist und von ganzem Herzen kommt? (Siehe Seite 109ff.) Warum muss Vergebung „eine Tat des Herzens“ sein?

  • Lesen Sie den Abschnitt, der auf Seite 112 beginnt, noch einmal durch. Welche Lehren des Evangeliums können uns helfen, dass wir bereit sind, das Urteil dem Herrn zu überlassen?

  • Wenn Sie die Geschichte der jungen Mutter auf Seite 114f. lesen, achten Sie darauf, was sie zunächst davon abgehalten hat, zu vergeben, und was ihr dann geholfen hat, schließlich doch zu vergeben. Wie können wir die Hindernisse überwinden, die unserem Wunsch und dem Bemühen, anderen zu vergeben, entgegenstehen?

  • Welche Folgen hat es, wenn wir nicht vergebungsbereit sind? (Siehe Seite 115f.) Welche Segnungen haben Sie erlangt, wenn Sie anderen vergeben haben? Überlegen Sie, wie Sie in Ihren Beziehungen Vergebungsbereitschaft praktizieren können.

Einschlägige Schriftstellen: Matthäus 5:43-48; Lukas 6:36-38; Kolosser 3:12-15; LuB 82:23

Anmerkungen

  1. The Miracle of Forgiveness, Seite 281f.

  2. The Teachings of Spencer W. Kimball, Hg. Edward L. Kimball, 1982, Seite 243

  3. Das Wunder der Vergebung, Seite 251

  4. Conference Report, Oktober 1977, Seite 71

  5. The Miracle of Forgiveness, Seite 262ff.

  6. The Miracle of Forgiveness, Seite 283

  7. The Miracle of Forgiveness, Seite 264

  8. Das Wunder der Vergebung, Seite 257.

  9. The Miracle of Forgiveness, Seite 286f.

  10. Conference Report, Oktober 1977, Seite 68f. Siehe auch Das Wunder der Vergebung, Seite 280.

  11. Faith Precedes the Miracle, Seite 191f.

  12. Faith Precedes the Miracle, Seite 194f.

  13. „On Cheating Yourself“, New Era, April 1972, Seite 33f.

  14. Das Wunder der Vergebung, Seite 256

  15. Das Wunder der Vergebung, Seite 284f.

  16. The Miracle of Forgiveness, Seite 275

  17. Das Wunder der Vergebung, Seite 284

  18. Conference Report, April 1955, Seite 98

  19. Das Wunder der Vergebung, Seite 287

  20. Faith Precedes the Miracle, Seite 195f.

  21. Conference Report, Oktober 1949, Seite 134