Frieden und Gewalt unter den Heiligen der Letzten Tage im 19. Jahrhundert
Die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage ist auf die Lehren Jesu Christi gegründet. Die Tugenden Friedfertigkeit, Liebe und Vergebungsbereitschaft sind Kernbestandteil der Lehre und der Grundsätze der Kirche. Die Heiligen der Letzten Tage glauben die Aussage des Heilands, die im Neuen Testament und im Buch Mormon zu finden ist: „Selig, die Frieden stiften; denn sie werden Söhne Gottes genannt werden.“1 In den heiligen Schriften der Kirche Jesu Christi gebietet der Herr seinen Anhängern: „Entsagt dem Krieg und verkündigt Frieden.“2 Die Mitglieder der Kirche Jesu Christi sind bestrebt, den Worten des Propheten und Königs Benjamin aus dem Buch Mormon zu folgen: Wer sich zum Evangelium Jesu Christi bekehrt hat, wird „nicht im Sinn haben, einander zu verletzten, sondern friedlich zu leben“3.
Trotz dieser Ideale war es für die ersten Heiligen der Letzten Tage nicht einfach, Frieden zu erlangen. Sie wurden wegen ihres Glaubens verfolgt – oft auch gewaltsam. Tragischerweise beteiligten sich einige Mitglieder der Kirche im 19. Jahrhundert auch an ein paar abscheulichen Gewalttaten gegen Menschen, die sie als ihre Feinde ansahen. Ein Ereignis sticht da besonders hervor: das Massaker von Mountain Meadows. In dieser Abhandlung geht es sowohl um die Gewalt, die gegen Mitglieder der Kirche Jesu Christi verübt wurde, als auch um diejenige, die von ihnen ausging. Der historische Kontext mag zwar mehr Licht auf diese Gewalttaten werfen, rechtfertigen kann er sie aber nicht.
Religiöse Verfolgung in den 30er und 40er Jahren des 19. Jahrhunderts
In den ersten zwei Jahrzehnten nach Gründung der Kirche wurden die Heiligen der Letzten Tage oft Opfer von Gewalt. Kurz nachdem Joseph Smith die Kirche 1830 im Bundesstaat New York gegründet hatte, ließen sich ihre Mitglieder – und er selbst auch – nach und nach in den westlich davon gelegenen Gebieten wie Ohio, Missouri oder Illinois nieder. Immer wieder versuchten sie, ihre Zionsgemeinschaft zu errichten, wo sie Gott verehren und in Frieden leben konnten. Doch ihre Hoffnungen wurden mehrfach zunichtegemacht, und sie wurden gewaltsam vertrieben. Pöbelhorden verjagten sie 1833 erst aus dem Kreis Jackson in Missouri und 1839 dann aus dem ganzen Bundesstaat, nachdem dessen Gouverneur Ende Oktober 1838 einen Befehl ausgegeben hatte, dass die Mormonen von dort zu vertreiben oder „auszurotten“4 seien. 1846 folgte die Vertreibung aus Nauvoo, ihrer Stadt in Illinois. Danach begann für die Mitglieder der Kirche der schwierige Auszug über die Great Plains nach Utah.5
Obwohl sie solchen Schwierigkeiten ausgesetzt waren, lag ihnen doch viel daran, den Offenbarungen zu folgen, die Joseph Smith erhalten hatte, und ihre Religion im Frieden mit ihren Nachbarn auszuleben. Ihre Gegner in Ohio, Missouri und Illinois nahmen ihnen nichtsdestotrotz ihre andersartigen religiösen Ansichten sowie ihre gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Gepflogenheiten übel. Darüber hinaus fühlten sie sich von den Mormonen bedroht, weil diese durch ihre stetig wachsende Anzahl auch immer mehr Einfluss bei Abstimmungen und Wahlen ausüben konnten. Es waren diese Gegner, die die Mitglieder der Kirche zunächst verbal und schließlich auch körperlich angriffen. Führer der Kirche, darunter auch Joseph Smith, wurden geteert und gefedert, verprügelt und ungerechtfertigt ins Gefängnis gesteckt. Andere Mitglieder wurden zudem Opfer von Gewaltverbrechen. Bei dem Massaker von Hawnʼs Mill – dem schlimmsten Zwischenfall – wurden mindestens 17 Männer und Jungen im Alter von 9 bis 78 Jahren niedergemetzelt.6 Einige Frauen der Kirche wurden während der Verfolgung in Missouri vergewaltigt oder wurden das Ziel sonstiger sexueller Übergriffe.7 Bürgerwehren und Pöbelhorden zerstörten die Häuser der Mitglieder und beraubten sie ihres Eigentums.8 Viele Gegner der Heiligen bereicherten sich an Hab und Gut, das eigentlich nicht ihnen gehörte.9
Der Vertreibung aus Missouri fielen mindestens 8000 Heilige der Letzten Tage zum Opfer10. Sie fand in den Wintermonaten statt, was das Leid der vielen tausend Flüchtlinge noch verstärkte. Es fehlte an Nahrung und Unterkunft, und hin und wieder hatten sie auch mit Seuchen zu kämpfen.11 Als Joseph Smith, der im März 1839 im Gefängnis zu Liberty in Missouri inhaftiert war, von dem Leid der im Exil lebenden Mitglieder der Kirche erfuhr, rief er aus: „O Gott, wo bist du?“ Und er betete: „Gedenke deiner Heiligen, die leiden, o unser Gott.“12
Nach der Vertreibung aus Missouri wurden die Heiligen im benachbarten Bundesstaat Illinois zunächst aufgenommen und fanden vorübergehend Frieden in Nauvoo. Doch dann brachen erneut Konflikte aus, als Nichtmormonen und unfolgsame Mitglieder wieder mit Angriffen begannen. Joseph Smith und sein Bruder Hyrum erlitten während der Gefangenschaft in einem Gefängnis in Illinois den Märtyrertod. Sie wurden von einer Pöbelhorde brutal umgebracht, obwohl der Gouverneur des Staates ihnen für die Dauer der Inhaftierung seinen Schutz zugesagt hatte.13 18 Monate später machte sich dann die erste Gruppe Mitglieder im kalten Februar des Jahres 1846 unter gewaltigem Druck auf den Weg und verließ Nauvoo. In Iowa und Nebraska ließen sie sich mitten in der Prärie in provisorischen Lagern nieder, die man heutzutage wohl als Flüchtlingslager bezeichnen würde. Schätzungsweise jeder zwölfte Heilige in diesen Lagern starb noch im ersten Jahr.14 Einige der Alten und Armen blieben zunächst in Nauvoo zurück. Sie hofften, sich der Gruppe später anschließen zu können. Doch im September 1846 vertrieb sie der Pöbel gewaltsam aus Nauvoo und entweihte anschließend den Tempel.15 Ein Nicht-Mormone, der kurz darauf die Lager der Heiligen passiert hatte, schrieb: „Verängstigt und zermürbt durch die Kälte und die brennende Sonne, die sich Tag und Nacht abwechselten, waren sie fast alle hilflos der Krankheit ausgeliefert. … Sie konnten das schwache Flehen ihrer Kranken nicht erfüllen und hatten kein Brot, das hungrige Weinen ihrer Kinder zu beruhigen.“16 Noch nie in der Geschichte der Vereinigten Staaten war einer religiösen Gemeinschaft mit einem solchen Ausmaß an Gewalt begegnet worden.
Wiederholt ersuchten die Führer und die Mitglieder der Kirche die örtlichen Behörden und die Regierungen der beteiligten Bundesstaaten um Entschädigung. Als diese Bittgesuche wirkungslos blieben, appellierte man an die amerikanische Regierung, Fehler der Vergangenheit wiedergutzumachen und für die Zukunft Schutz zu gewähren – doch vergebens.17 Den Mitgliedern der Kirche blieben die Verfolgungen, die sie erlitten, und der Unwille der Behörden, die sie weder schützen noch Angreifer rechtlich verfolgen lassen wollten, noch lange in Erinnerung. Sie beklagten sich oft darüber, dass sie in einem Land, in dem eigentlich Religionsfreiheit zugesichert war, religiöser Verfolgung ausgesetzt waren.18 Angesichts der anhaltenden Verfolgung reagierten ab 1838 einige der Heiligen mit Verteidigungsmaßnahmen, als es zu Zwischenfällen kam, teilweise auch mit Vergeltungsmaßnahmen.
Gewalt und Selbstjustiz im 19. Jahrhundert in den Vereinigten Staaten
Im 19. Jahrhundert war Gewaltanwendung in der amerikanischen Gesellschaft nicht ungewöhnlich, sie wurde oft sogar gebilligt. Ein Großteil der Gewalt, die von den Heiligen der Letzten Tage oder gegen sie ausgeübt wurde, ist dem damals in Amerika üblichen Brauch der Selbstjustiz zuzurechnen. Wenn man das Gefühl hatte, vom Staat unterdrückt oder im Stich gelassen zu werden, formierte sich eine Bürgerwehr. Für gewöhnlich nahm diese dann Minderheiten ins Visier oder Menschen, die man für kriminell hielt oder die am Rand der Gesellschaft standen. Diese Vorgehensweise wurde bisweilen mit religiösem Pathos noch angefacht.19
Die Tatsache, dass es sowieso schon Bürgermilizen gab, verschärfte die Neigung, zur Selbstjustiz zu greifen. Der Kongress hatte 1792 ein Gesetz verabschiedet, wonach jeder körperlich gesunde Mann zwischen 18 und 45 Jahren sich einer Bürgermiliz anschließen musste.20 Im Laufe der Zeit wurde aus diesen Milizen die Nationalgarde. Anfangs war das oft ein wilder Haufen, der gegen Einzelne oder Gruppen, die man als Gefahr für die Allgemeinheit betrachtete, Gewalttaten verübte.
In den 30er und 40er Jahren des 19. Jahrhunderts waren die Gemeinschaften der Heiligen der Letzten Tage in Ohio, Missouri, Illinois und Utah ausnahmslos in den westlichen Grenzregionen der USA angesiedelt, wo Gewaltanwendung von der Gesellschaft ohne Weiteres gebilligt wurde.
Der Mormonenkrieg in Missouri und die Daniten
Die von einigen wenigen Mitgliedern der Kirche verübten Gewalttaten sollte man auch vor dem Hintergrund sehen, dass im 19. Jahrhundert in den Grenzregionen Amerikas Gewaltanwendung ein weit verbreitetes Phänomen war.21 1838 flohen Joseph Smith und andere Mitglieder der Kirche vor dem Pöbel aus Ohio und zogen nach Missouri, wo Heilige der Letzten Tage bereits Siedlungen errichtet hatten. Joseph Smith war überzeugt, dass der Widerstand von unfolgsamen Mitgliedern und sonstigen Gegnern dazu geführt hatte, dass die Gemeinschaft der Heiligen in Kirtland/Ohio, wo man erst zwei Jahre zuvor unter großen Opfern einen Tempel errichtet hatte, zunächst geschwächt und dann schließlich aufgerieben wurde. Im Sommer 1838 sahen die Führer der Kirche ihr Ziel, eine harmonische Gemeinschaft in Missouri aufzubauen, in ähnlicher Weise bedroht.
In der Mormonensiedlung in Far West gründeten einige Führer und Mitglieder eine paramilitärische Gruppe unter der Bezeichnung Daniten. Ihr Ziel war es, die Gemeinschaft gegen unfolgsame oder ausgeschlossene Mitglieder sowie gegen andere Einwohner Missouris zu verteidigen. Die Historiker sind sich im Großen und Ganzen einig, dass Joseph Smith die Gründung der Daniten zwar gestattete, aber wahrscheinlich nicht über alle ihre Pläne informiert wurde und auch nicht alle ihre Maßnahmen billigte. Die Daniten bedrohten unfolgsame Mitglieder und andere Einwohner Missouris. Zum Beispiel warnten sie einige Andersdenkende davor, den Kreis Caldwell zu verlassen. Als die Spannungen im Herbst 1838 im sogenannten Mormonenkrieg in Missouri eskalierten, waren die Daniten offenbar in Milizen aufgegangen, die hauptsächlich aus Mitgliedern der Kirche bestanden. Diese Milizen stießen in Missouri auf ihre Gegner. Auf beiden Seiten gab es einige Tote. Außerdem überfielen Bürgerwehren der Mormonen, darunter etliche Daniten, zwei Ortschaften, die ihrer Ansicht nach das Zentrum mormonenfeindlicher Aktivitäten waren. Sie brannten Häuser nieder und stahlen Warenvorräte.22 Obwohl es die Daniten nicht lange gab, hielt sich lange das Gerücht, es gebe eine geheime Bürgerwehr der Mormonen, und dieses Gerücht wurde kräftig aufgebauscht.
Infolge ihrer Erlebnisse in Missouri gründeten die Heiligen der Letzten Tage eine große, vom Staat genehmigte Miliz, die sie schützen sollte, nachdem sie nach Illinois gezogen waren: die Nauvoo-Legion. Diese Miliz wurde von vielen gefürchtet, die in den Mitgliedern der Kirche einen Feind sahen. Doch die Legion vermied Ausfälle oder Vergeltungsmaßnahmen. Sie trat noch nicht einmal in Erscheinung, als eine Krise dazu führte, dass Joseph Smith und sein Bruder Hyrum im Juni 1844 vom Pöbel ermordet wurden. Auch die Ermordung selbst löste keine Reaktion aus. Als der Gouverneur von Illinois die Auflösung der Legion anordnete, kamen die Heiligen dieser Anweisung nach.23
Gewalt im Territorium Utah
In Utah kam es besonders in den ersten zehn Jahren, nachdem die Heiligen der Letzten Tage sich dort niedergelassen hatten (1847–1857), zu Ausfällen gegen ihre Feinde oder zu Vergeltungsmaßnahmen. Für viele waren die Narben, die die ständige Verfolgung und der Auszug in die Rocky Mountains hinterlassen hatten, noch immer frisch und schmerzhaft. Auch als sie versuchten, unter großen Anstrengungen in der Wüste von Utah ein Auskommen zu finden, sahen sich die Heiligen der Letzten Tage ständig Konflikten ausgesetzt. Viele Faktoren sprachen dagegen, dass ihr großes Vorhaben in Utah erfolgreich sein sollte. Es gab Spannungen mit den Indianern, die durch die immer weiter um sich greifende Ansiedlung von Mormonen verdrängt wurden. Die US-Regierung übte insbesondere nach der öffentlichen Einführung der Mehrehe 1852 Druck aus. Es gab zweifelhafte Landansprüche und die Bevölkerungszahl schoss in die Höhe. Die Führer der Gemeinschaft spürten unablässig die Last der Verantwortung, und zwar nicht nur für das geistige Wohl der Kirche, sondern auch für das körperliche Überleben der Mitglieder. Viele dieser Führer, darunter auch der Präsident der Kirche und Gouverneur des Territoriums, Brigham Young, übten gleichzeitig sowohl kirchliche als auch zivile Ämter aus.
Das Verhältnis der Heiligen der Letzten Tage zu den Indianern
Wie andere Siedler im Grenzgebiet auch, besetzten die Heiligen Gebiete, die bereits von den Indianern besiedelt waren. Die tragische Geschichte von der Vernichtung zahlreicher Indianerstämme und dem schweren Schaden, der den übrigen durch die europäischen Einwanderer, das Militär und die Staatsmacht der USA zugefügt wurde, ist von Historikern hinlänglich dokumentiert worden. Im ganzen 19. Jahrhundert sind die Indianer von den Siedlern, darunter auch einigen Heiligen der Letzten Tage, in zahlreichen Konflikten misshandelt und umgebracht worden. Ihnen wurde das begehrte Land entrissen und sie wurden in Reservate verbannt.
Anders als die meisten anderen Amerikaner sahen die Heiligen die Indianer aber als ein auserwähltes Volk an – Israeliten wie sie selbst. Sie stammten von den Völkern im Buch Mormon ab und waren somit Erben der göttlichen Verheißungen. Als Präsident der Kirche, Gouverneur des Territoriums und Superintendent für Indianerfragen verfolgte Brigham Young eine Friedenspolitik, mit der die Ansiedlung von Mormonen in Indianergebieten erleichtert werden sollte. Die Mitglieder der Kirche lernten indianische Sprachen, bauten Handelsbeziehungen auf, verkündeten das Evangelium und versuchten auch sonst, mit den Indianern gut auszukommen.24 Diese Politik setzte sich jedoch nur ungleichmäßig durch und wurde nicht konsequent umgesetzt.25
Ein friedliches Miteinander war zwar die Norm und auch der Idealzustand, hin und wieder kam es aber zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Mitgliedern der Kirche und Indianern. In beiden Kulturkreisen – dem der Europäer und dem der Indianer – herrschten völlig unterschiedliche Auffassungen, was die Nutzung von Land und Besitz anging. Da verstand man einander nicht so recht. Die Mormonen beschuldigten die Indianer häufig des Diebstahls. Die Indianer hingegen meinten, die Mormonen müssten ihnen etwas von dem Vieh abgeben, das sie auf ihrem Stammesgebiet grasen ließen, und auch von den Feldfrüchten, die sie dort anbauten. In den Gebieten, wo sich die Mormonen niederließen, hatten die Indianer bislang nur mit Pelzjägern und Händlern Erfahrungen gemacht. Der Umgang mit diesen Europäern war zu beiderseitigem Nutzen. Es waren Durchreisende, die sich nur kurz im Land aufhielten oder niederließen und keine bleibenden Ansprüche erhoben wie die Mormonen. Missverständnisse führten schließlich zu Reibereien und zum Ausbruch von Gewalt zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen.26
Gegen Ende des Jahres 1849 eskalierten die Spannungen zwischen den Indianern des Stammes Ute und den Mormonen im Utah Valley. Ein Mormone hatte einen Ute-Indianer namens Old Bishop ums Leben gebracht, den er bezichtigte, sein Hemd gestohlen zu haben. Zusammen mit zwei Kameraden hatte der Mormone daraufhin die Leiche des Opfers im Provo River versteckt. Die näheren Einzelheiten zu diesem Mordfall wurden Brigham Young und anderen Führern der Kirche wohl zumindest anfangs verschwiegen. Siedler in Fort Utah berichteten indes von weiteren Schwierigkeiten mit den Indianern. Auf die Siedler war geschossen worden, und man hatte ihnen Vieh und Feldfrüchte gestohlen. Brigham Young riet zur Geduld. Er sagte: „Befestigt euer Fort, kümmert euch um eure eigenen Angelegenheiten und lasst die Indianer sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern.“27 Trotzdem spitzte sich die Situation in Fort Utah zu. Das lag unter anderem daran, dass die dortigen Mormonen sich weigerten, die an der Ermordung von Old Bishop Beteiligten an die Ute-Indianer auszuliefern oder für seinen Tod eine Entschädigung zu zahlen. Im Winter 1849/50 breitete sich eine Masernepidemie von den Mormonensiedlungen in die Lager der Ute aus. Viele Indianer kamen um, wodurch die Spannungen sich noch mehr verschärften. In einer Sitzung von Führern der Kirche, die am 31. Januar 1850 in Salt Lake City stattfand, berichtete der Vertreter aus Fort Utah, dass die Ute immer gewaltbereiter würden und immer aggressiver vorgingen: „Sie sagen, sie wollen unser Vieh jagen und dann die anderen Indianer holen und uns umbringen.“28 Daraufhin bewilligte Gouverneur Young einen Militäreinsatz gegen die Ute, und so kamen im Februar 1850 in einer Reihe von Gefechten Dutzende Ute und ein Mormone ums Leben.29 Bei diesen und anderen Zwischenfällen gingen ein paar Heilige der Letzten Tage übermäßig brutal gegen die Ureinwohner vor.30
Dennoch pflegten sie im Vergleich zu Siedlern in anderen Gebieten im Westen Amerikas meist friedliche Beziehungen zu den Indianern. Brigham Young war mit mehreren Indianerführern befreundet und hielt sein Volk dazu an, wo es nur ging friedlich mit seinen indianischen Nachbarn zusammenzuleben.31 Einige Indianer unterschieden sogar zwischen den „Mormonees“, die sie sympathisch fanden, und den anderen amerikanischen Siedlern, die sie „Mericats“ nannten.32
Die Reformphase und der Utah-Krieg
Mitte des Jahres 1850 bewirkten eine Reformphase innerhalb der Kirche sowie Spannungen zwischen der US-Regierung und den Heiligen der Letzten Tage in Utah, dass diese sich angegriffen und wieder einmal verfolgt fühlten. Es kam zu mehreren Gewaltausbrüchen, die von Mitgliedern der Kirche ausgingen. Brigham Young und andere Führer der Kirche waren besorgt, dass die Heiligen in geistiger Hinsicht allzu selbstgefällig wurden, und so riefen sie sie in einer Reihe von Predigten dazu auf, umzukehren und sich ihren geistigen Idealen erneut zu verpflichten.33 Viele bezeugten, dass sie durch diesen Reformaufruf zu einem besseren Menschen geworden waren.34
Die Amerikaner des 19. Jahrhunderts waren mit der Sprache der Gewalt vertraut, auch in der Religion. Das ganze Jahrhundert über hatten Erweckungsprediger mit einer gewaltbeladenen Bildersprache versucht, Nichtbekehrte zur Umkehr zu bewegen und Abtrünnige zur Besserung.35 Während der Reformphase hielten Präsident Young, sein Ratgeber Jedediah M. Grant und andere Führer bisweilen feurige Reden und warnten vor den bösen Absichten derer, die sich von der Kirche abgewandt hatten oder ihr feindlich gesinnt waren. Einige Führer verkündeten unter Berufung auf Textstellen aus dem Alten Testament, dass einige Sünden so schwerwiegend seien, dass Vergebung erst dann möglich sei, wenn das Blut des Übeltäters vergossen würde.36 Solche Predigten verstärkten die Spannungen zwischen den Heiligen der Letzten Tage und den wenigen Nichtmitgliedern in Utah, worunter sich auch vom Staat eingesetzte Beamte befanden.
Zu Beginn des Jahres 1857 erhielt der damalige US-Präsident James Buchanan Berichte von einigen Staatsbediensteten, in denen sie behaupteten, dass Gouverneur Young und die Mitglieder der Kirche in Utah sich gegen die Autorität der Bundesregierung auflehnten. Eine ziemlich dreist formulierte Eingabe des Parlaments von Utah an die Bundesregierung überzeugte die Verantwortlichen davon, dass diese Berichte stimmten. Präsident Buchanan beschloss, Brigham Young als Gouverneur ersetzen zu lassen. Er entsandte eine Armee nach Utah, die diesen Austausch überwachen sollte. Das bezeichnete man später als den Utah-Krieg. Die Heiligen der Letzten Tage befürchteten, dass die herannahende Armee – sie war etwa 1500 Mann stark, und noch weitere sollten folgen – sie genau wie früher in Missouri und Illinois verfolgen und erneut aus ihren Häusern vertreiben würde. Hinzu kam noch, dass Parley P. Pratt, ein Mitglied des Kollegiums der Zwölf Apostel, im Mai 1857 in Arkansas ermordet wurde. Die Nachrichten über die Ermordung sowie Zeitungsberichte aus dem Osten der USA, in denen dieses Verbrechen gepriesen wurde, erreichten Utah Ende Juni 1857.37 Infolge dieser Geschehnisse rief Brigham Young in dem Territorium den Ausnahmezustand aus. Er wies die Missionare und Siedler in den Randbezirken an, nach Utah zurückzukehren, und leitete Vorbereitungen ein, um der Armee Widerstand zu leisten. Polemisierende Reden von Präsident Young und anderen Führern der Kirche sowie die bevorstehende Ankunft der Soldaten sorgten in Utah für ein Klima der Angst und des Misstrauens.38
Das Massaker von Mountain Meadows
Als diese Spannungen Anfang September 1857 ihren Höhepunkt erreichten, belagerte eine gänzlich aus Mormonen bestehende Milizeinheit aus dem Süden Utahs zusammen mit ein paar angeheuerten Indianern einen Wagenzug von Auswanderern, die von Arkansas nach Kalifornien unterwegs waren. Als dieser Wagenzug südlich an Salt Lake City vorbeiziehen wollte, kam es zwischen den Auswanderern und ortsansässigen Mormonen zu Streitigkeiten in der Frage, wo die Auswanderer ihr Vieh weiden dürften. Einige der Reisenden waren auch verbittert, weil die örtlichen Siedler ihnen Schwierigkeiten machten, Getreide und andere dringend benötigte Waren einzukaufen. Es hatte nämlich eine Anordnung gegeben, wegen des drohenden Krieges Getreide einzulagern. Aufgebracht drohten nun einige Auswanderer damit, sich den einmarschierenden Truppen anzuschließen, um dann gegen die Heiligen zu kämpfen.39
Während einige diese Drohungen einfach ignorierten, rieten andere Führer und Mitglieder der Kirche in Cedar City in Utah dazu, gewaltsam dagegen vorzugehen. Isaac C. Haight, Pfahlpräsident und Anführer einer Miliz, erteilte John D. Lee, einem Major der Miliz, den Auftrag, einen Angriff gegen die Auswanderer auszuführen. Als der Präsident seinen Ratsmitgliedern von diesem Plan berichtete, erhoben einige sogleich Einspruch. Sie forderten ihn auf, den Angriff abzublasen und stattdessen einen berittenen Eilboten zu Brigham Young nach Salt Lake City zu schicken und sich Weisung einzuholen. Doch die Männer, denen Haight den Befehl zum Angriff gegeben hatte, führten ihre Pläne aus, noch bevor der Befehl wieder zurückgenommen werden konnte. Die Auswanderer setzten sich jedoch zur Wehr, sodass es zu einer Belagerung kam.
In den darauffolgenden Tagen eskalierten die Ereignisse. Die Männer der Mormonenmiliz beschlossen ein Massaker und setzten diesen Plan in die Tat um. Sie lockten die Auswanderer mit einer Friedensfahne aus ihrer Wagenburg und metzelten sie dann mit Unterstützung der angeheuerten Paiute-Indianer nieder. Insgesamt kamen zwischen dem ersten Angriff und dem Blutbad, das darauf folgte, in dem Tal namens Mountain Meadows 120 Männer, Frauen und Kinder ums Leben. Nur die kleinen Kinder, die man für zu jung hielt, um von den Ereignissen erzählen zu können, blieben verschont. Der berittene Bote kehrte zwei Tage nach dem Massaker zurück. Er hatte einen Brief von Brigham Young bei sich, in dem die örtlichen Führer aufgefordert wurden, sich mit den Auswanderer nicht weiter einzulassen und sie den Süden Utahs passieren zu lassen.40 Die Männer der Miliz versuchten daraufhin, das Verbrechen zu vertuschen, indem sie die ganze Schuld den Paiutes zuschoben, von denen einige ebenfalls Mitglieder der Kirche waren.
Zwei Heilige der Letzten Tage wurden schließlich wegen ihrer Mitwirkung aus der Kirche ausgeschlossen. Ein großes Schwurgericht, zu dem auch Mitglieder der Kirche gehörten, erhob gegen neun Männer Anklage. Nur einer jedoch, nämlich John D. Lee, wurde wegen des Verbrechens verurteilt und hingerichtet. Das gab falschen Behauptungen Auftrieb, dass Brigham Young das Massaker angeordnet habe.
In den vergangenen Jahren hat die Kirche einiges unternommen, um so viel wie möglich über das Massaker in Erfahrung zu bringen. Ab dem Jahr 2000 forschten Historiker der Geschichtsabteilung der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage in Archiven überall in den USA nach historischen Belegen. Außerdem wurden sämtliche Aufzeichnungen der Kirche noch einmal gründlich überprüft. 2008 erschien dann bei Oxford University Press ein Buch. Darin kamen die Autoren Ronald W. Walker, Richard E. Turley Jr. und Glen M. Leonard zu dem Schluss, dass Brigham Young, George A. Smith und andere Führer zwar mit übertriebenen Reden gegen Außenstehende zu einem Klima der Feindseligkeit beigetragen hätten, dass Brigham Young aber das Massaker nicht befohlen habe. Vielmehr hätten mündliche Auseinandersetzungen zwischen einzelnen Angehörigen des Wagenzuges und Siedlern aus dem Süden Utahs große Angst ausgelöst, vor allem vor dem Hintergrund des Utah-Kriegs und anderer widriger Umstände. Das Massaker war die Folge einer Reihe tragischer Fehlentscheidungen der örtlichen Führer der Kirche, die auch im zivilen Bereich und in der Miliz im Süden Utahs eine führende Rolle spielten.41
Abgesehen von dem Massaker von Mountain Meadows gibt es noch ein paar weitere Mitglieder der Kirche, die gegen eine kleine Anzahl von unfolgsamen Glaubensgenossen und Außenstehenden Gewalttaten verübt haben. Besonders in den 50er Jahren des Jahrhunderts, als Furcht und Anspannung im Territorium Utah allgegenwärtig waren, griffen einige Heilige der Letzten Tage zur Selbstjustiz. Es mag sein, dass Führer der Kirche mit hitzigen Anfeindungen, die gegen unfolgsame Mitglieder gerichtet waren, bei einigen Mormonen den Eindruck erweckten, dass solche Handlungen gerechtfertigt seien.42 Die Übeltäter sind für ihre Verbrechen meist nicht bestraft worden. Dennoch sind etliche Anschuldigungen wegen solcher Gewalttaten unbegründet, und es haben mormonenfeindliche Autoren so manche ungeklärte Verbrechen oder verdächtige Todesfälle aus den Anfangsjahren in Utah den Führern der Kirche zur Last gelegt.43
Zum Abschluss
Im 19. Jahrhundert sind die Mitglieder der Kirche Jesu Christi von vielen ungerechterweise als gewaltbereites Volk beschrieben worden. Der Großteil der Heiligen lebte jedoch damals wie heute friedlich mit seinen Nachbarn und deren Angehörigen zusammen und bemühte sich um ein friedliches Zusammenleben in der Gesellschaft. Schon damals ist so manchem Reisenden aufgefallen, wie viel Frieden und Ordnung in den Mormonengemeinden in Utah und andernorts herrschten.44 Dennoch hat eine verhältnismäßig kleine Gruppe von Mitgliedern der Kirche mit ihren Taten teilweise tödliche Wunden geschlagen, die gesellschaftlichen Beziehungen belastet und der Wahrnehmung, dass die Mormonen ein friedfertiges Volk sind, geschadet.45
Die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage verurteilt verbale und körperliche Gewaltanwendung und ist entschlossen, in aller Welt für Frieden einzutreten. Über das Massaker von Mountain Meadows sagte Elder Henry B. Eyring, der damals dem Kollegium der Zwölf Apostel angehörte: „In dem Evangelium Jesu Christi, das wir vertreten, ist kein Platz für die kaltblütige Ermordung von Männern, Frauen und Kindern. Es legt uns vielmehr nahe, friedfertig und vergebungsbereit zu sein. Was hier vor langer Zeit von Mitgliedern unserer Kirche angerichtet wurde, stellt eine schreckliche und unentschuldbare Abkehr von der christlichen Lehre und von christlichem Verhalten dar.“46
Im Laufe der Geschichte haben die Führer der Kirche immer wieder bekräftigt, dass der Weg eines Jüngers Christi ein Weg des Friedens ist. Für Elder Russell M. Nelson vom Kollegium der Zwölf Apostel hat der Glaube an Jesus Christus, wie ihn die Heiligen der Letzten Tage verstehen, etwas mit aktiver Nächstenliebe und dem Streben nach Frieden mit allen Menschen zu tun: „Die Hoffnung der Welt ist der Fürst des Friedens … Was erwartet der Herr von uns, den Mitgliedern der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage? Als Kirche müssen wir ‚dem Krieg absagen und Frieden verkündigen‘. Als Einzelne müssen wir ‚nach dem streben, was zum Frieden … beiträgt‘. Wir sollen persönliche Friedensstifter sein.“47