2023
Mittwochs nennen sie ihn Oskar
Juni 2023


„Mittwochs nennen sie ihn Oskar“, Liahona, Juni 2023

In Treue altern

Mittwochs nennen sie ihn Oskar

Obwohl Ken mit den Auswirkungen seines Alters und einer Krebserkrankung zu kämpfen hat, fand er eine sinnvolle Möglichkeit, seinen Mitmenschen zu dienen.

Bild
Ein Mann schiebt eine Mülltonne

Bruder Williams stellt für 28 Nachbarn die geleerten Mülltonnen ans Haus zurück. „Wir müssen dem Beispiel des Erretters folgen und den Menschen Gutes tun“, sagt er.

Fotos von Richard M. Romney

Jeden Mittwoch trägt der 81-jährige Ken Williams ein bestimmtes Hemd und dieselbe Kappe. Auf beiden ist eine bekannte Figur aus der Sesamstraße zu sehen: Oskar, der in einer Mülltonne wohnt. Dieser Oskar ist als liebenswerter Griesgram bekannt. Ken hingegen ist einfach nur liebenswert.

Er wartet an seiner Haustür und lauscht. Er wartet auf das Geräusch des Müllwagens. Geräusche sind für Ken wichtig, denn er ist nahezu blind. Dazu kommt noch, dass er 14 Jahre Chemotherapie ertragen hat – und trotzdem steht er immer bereit, hinauszugehen und seinen Nachbarn zu helfen. Allen 28.

Jeder in der Nachbarschaft weiß, wer Ken ist, und hegt freundschaftliche Gefühle für ihn. Er ist der Mann, der die Mülltonnen zurückstellt.

Wenn der Müllwagen kommt

„Wir sehen den Müllwagen vorbeifahren“, sagt Laura Willes, die in der Straße wohnt, „und kurz darauf kommt Ken, der mit seinem weißen Blindenstock den Gehweg entlangmarschiert und von Haus zu Haus geht, um die Mülltonnen hineinzubringen.“

„Er macht das, damit es in unserer Nachbarschaft gut aussieht“, erklärt Kens Frau De Ann. „Außerdem ist so dafür gesorgt, dass die Straßen frei sind. Ich weiß nicht, ob ein Feuerwehrwagen durch die Straße käme, ohne alle Mülltonnen über den Haufen fahren zu müssen.“

Laura ergänzt, dass Kens Einsatz auch für die Nachbarn eine Beruhigung ist, die nicht zuhause sind: „So merkt niemand, wenn jemand nicht da ist.“

Doch wie schafft es Ken, die Mülltonnen zu bewegen, obwohl er mit einem Blindenstock unterwegs ist? „Den Stock nutze ich eigentlich nur zur Sicherheit“, sagt Ken. „Es reicht mir aber auch aus, wenn ich mich auf die Mülltonne stütze.“ Mithilfe einer speziellen Kontaktlinse kann er gerade noch genug auf einem Auge sehen, um sich zu orientieren. Wenn Schnee liegt, meidet er Stellen, an denen er ausrutschen und fallen könnte.

„Wenn er die Tonnen einmal nicht zurückstellen kann, benachrichtige ich die Nachbarn“, sagt De Ann.

Bild
Ein Ehepaar

Eine wachsende Aufgabe

Ken hat sich nicht von Anfang an um alle Mülltonnen gekümmert. Es handelte sich vielmehr um eine Aufgabe, die sich entwickelt hat. „Wenn der Müllwagen weg war, ging er zunächst nur zu unseren direkten Nachbarn und schob die Tonnen von der Straße zurück“, erklärt De Ann. „Langsam entwickelte sich das weiter. Er hat erst noch ein Haus versorgt und dann noch eins, bis die Anzahl von Häusern erreicht waren, die er heute schafft.“

Und wie kommt er zu seinem Spitznamen Oskar? „Den hat unsere Tochter Collette ihm gegeben“, erzählt De Ann. „Der Name kam gut an.“

Ken hat sich mit langjährigen Bewohnern der Straße genauso angefreundet wie mit neuen Nachbarn, ob Großeltern, Kinder oder Enkelkinder. „Es ist lustig, wie viele ihn als Oskar kennen“, findet Laura.

Ken ist einfach nur er selbst

Warum leistet Ken immer wieder diesen Dienst am Nächsten? Seine Antwort ist tiefgründig. „Wir müssen dem Beispiel des Erretters folgen und den Menschen Gutes tun. Das versuche ich. Und damit zeige ich anderen, dass auch sie ihrem Nächsten Gutes tun können.“

Tatsache ist, dass Ken sein ganzes Leben damit zugebracht hat, anderen zu helfen. Als Berater in der Automobilbranche arbeitete er mit Händlern zusammen, um ihre Betriebe zu verbessern. Als Mitglied der Kirche hat er Berufungen angenommen und das Evangelium verbreitet. Und zwar, wie er betont, „nicht dadurch, dass ich meinen Mitmenschen Predigten gehalten habe, sondern indem ich ihnen gezeigt habe, welche Freude es macht, dem Erretter nachzufolgen“.

De Ann erinnert sich: „Als Ken Chemotherapie bekam, erzählten mir die Krankenschwestern und einer der Ärzte, dass er vielen anderen Patienten half, ihre Therapie zu überstehen, was vor allem auf seine Persönlichkeit zurückzuführen ist. Es war ihm nicht einmal bewusst, dass er etwas Besonderes tat. Er war einfach nur er selbst, einfach Ken.“

Noch immer kämpft Ken mit vier Krebsarten, aber seit vier Jahren bekommt er keine Chemotherapie mehr. „Der Onkologe sagt, Ken sei ein wandelndes Wunder“, sagt De Ann.

Jeden Mittwoch kann man ihn in seinem Oskar-Outfit sehen, wie er auf den Müllwagen wartet und dann hinausgeht und seinen Nachbarn hilft. „Es geht ja eigentlich gar nicht darum, die Mülltonnen zurückzustellen“, erklärt Ken. „Ich kam zu dem Schluss, dass dies eine der wenigen Möglichkeiten war, anderen zu dienen, die mir noch geblieben waren. Und solange ich es schaffe, meinen Nachbarn zu dienen, werde ich das machen.“

Der Verfasser lebt in Utah.