2021
Nach dem Siegespreis jagen
Mai 2021


Nach dem Siegespreis jagen

Es geht nicht so sehr darum, was wir im Leben durchmachen, sondern darum, was wir werden

Wenn ich die Apostelgeschichte und die Briefe von Paulus lese, bin ich erstaunt, wie Paulus angetrieben von Liebe und Dankbarkeit diente, lehrte und für Jesus Christus Zeugnis ablegte. Wie kann ein Mensch, der doch so viel Leid erfuhr, mit solcher Liebe und Dankbarkeit dienen? Was hat Paulus dazu beflügelt, zu dienen? „Das Ziel vor Augen, jage ich nach dem Siegespreis: der himmlischen Berufung Gottes in Christus Jesus.“1

Nach dem Siegespreis zu jagen bedeutet, glaubenstreu auf dem engen und schmalen Pfad voranzuschreiten, der zum ewigen Leben mit unserem Erretter und unserem Vater im Himmel führt.2 Paulus war der Ansicht, dass seine Leiden „nichts bedeuten im Vergleich zu der Herrlichkeit, die an uns offenbar werden soll“3. Im Brief des Paulus an die Philipper, den er im Gefängnis verfasste, kommt eine überbordende Freude zum Ausdruck, die uns alle insbesondere in dieser schwierigen und unsicheren Zeit beglückt und aufmuntert. Wir alle sollten uns von Paulus Mut machen lassen: „Ich halte dafür, dass alles Verlust ist, weil die Erkenntnis Christi Jesu, meines Herrn, alles überragt. Seinetwegen habe ich alles aufgegeben und halte es für Unrat, um Christus zu gewinnen.“4

Wenn wir uns anschauen, wie Paulus gedient hat, werden wir auch durch heutige „Paulusse“ inspiriert und erbaut, die ebenfalls mit Liebe und Dankbarkeit dienen, lehren und Zeugnis ablegen, während sie sich selbst oder ihre Lieben Herausforderungen gegenübersehen. Vor neun Jahren hatte ich ein Erlebnis, das mir zeigte, wie wichtig es ist, nach dem Siegespreis zu jagen.

Als ich 2012 zum ersten Mal an der Führerschaftsversammlung der Generalkonferenz teilnahm, fühlte ich mich einfach nur überwältigt und unzulänglich. In meinem Kopf wiederholte eine Stimme unaufhörlich: „Du gehörst nicht hierher! Da liegt ein ganz großer Fehler vor!“ Als ich mir gerade einen Sitzplatz suchte, entdeckte mich Elder Jeffrey R. Holland. Er kam zu mir, sagte: „Edward, schön, Sie hier zu sehen“, und tätschelte mir sanft die Wange. Ich fühlte mich wie ein Baby! Seine Liebe und seine Umarmung wärmten mir das Herz, und ich konnte den Geist der Zugehörigkeit und der Bruderschaft spüren. Am nächsten Tag sah ich, wie Elder Holland das Gleiche tat, was er tags zuvor bei mir gemacht hatte: Er tätschelte Elder Dallin H. Oaks liebevoll die Wange – und dieser ist ja schon länger Apostel als Elder Holland!

In dem Moment spürte ich die Liebe des Herrn durch diese Männer, die wir als Propheten, Seher und Offenbarer bestätigen. Mit seinen freundlichen, ungekünstelten Gesten half mir Elder Holland, meine Ich-Bezogenheit und mein Gefühl der Unzulänglichkeit zu überwinden. Er half mir, mich auf das heilige und freudvolle Werk zu besinnen, zu dem ich berufen worden war – nämlich Seelen zu Christus zu bringen. Wie einst Paulus lenkte er meine Aufmerksamkeit darauf, nach dem Siegespreis zu jagen.

Interessanterweise ermahnt uns Paulus, vorwärtszustreben und dabei das, was hinter uns liegt, zu vergessen – vergangene Ängste, vergangene Hauptinteressen, vergangene Fehlschläge und vergangene Traurigkeit. Wie unser lieber Prophet, Präsident Russell M. Nelson, bittet er uns, „einen neuen, heiligeren Ansatz“5 zu verfolgen. Die Verheißung des Erretters ist wahr: „Denn wer sein Leben retten will, wird es verlieren; wer aber sein Leben um meinetwillen verliert, wird es finden.“6

In meiner ersten Generalkonferenzansprache erzählte ich, wie meine Mutter mir beibrachte, auf unserem Feld zu arbeiten. „Schau nie zurück“, sagte sie. „Schau nach vorn – auf das, was wir noch zu tun haben!“7

Gegen Ende ihres Lebens, als sie gegen ein Krebsleiden ankämpfte, wohnte sie bei Naume und mir. Eines Abends hörte ich sie in ihrem Schlafzimmer schluchzen. Sie hatte starke Schmerzen, obwohl sie ihre letzte tägliche Dosis Morphium erst zwei Stunden zuvor eingenommen hatte.

Ich ging in ihr Zimmer und schluchzte mit ihr. Ich betete laut, dass ihre Schmerzen sofort nachlassen mögen. Und dann tat sie das Gleiche, was sie Jahre zuvor auf dem Feld getan hatte: Sie hielt inne und brachte mir etwas Wichtiges bei. Nie werde ich ihr schmerzverzerrtes Gesicht in diesem Moment vergessen – angegriffen und geschwächt sah sie voller Mitleid ihren ernsthaft besorgten Sohn an. Sie lächelte unter Tränen, blickte mir fest geradewegs in die Augen und sagte: „Es liegt weder in deiner Hand noch in der eines anderen Menschen, ob diese Schmerzen nachlassen. Das liegt allein in Gottes Hand.“

Ich saß still da. Auch sie saß still da. Das Bild ist mir noch lebhaft in Erinnerung. An diesem Abend lehrte mich der Herr durch meine Mutter eine Lektion, die ich nie vergessen werde. Als meine Mutter erklärte, dass sie Gottes Willen annahm, musste ich daran denken, weshalb Jesus Christus im Garten Getsemani und am Kreuz auf Golgota gelitten hatte. Er sagte: „Siehe, ich habe euch mein Evangelium gegeben, und dies ist [mein] Evangelium, das ich euch gegeben habe – dass ich in die Welt gekommen bin, um den Willen meines Vaters zu tun, denn mein Vater hat mich gesandt.“8

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Christus in Getsemani

Mir kommen da die prophetischen Fragen in den Sinn, die Präsident Nelson uns bei der letzten Generalkonferenz gestellt hat. Er fragte: „Sind Sie bereit, Gott in Ihrem Leben siegen zu lassen? Sind Sie bereit, Gott den größten Einfluss in Ihrem Leben zu gewähren? … Werden Sie zulassen, dass seine Stimme … einen höheren Stellenwert [hat] als [jedes andere] Bestreben? Sind Sie bereit, Ihren Willen in seinem verschlungen sein zu lassen?“9 Meine Mutter hätte mit einem gefühlsbetonten, aber festen „Ja“ geantwortet, und andere glaubenstreue Mitglieder der Kirche überall auf der Welt würden da ebenfalls gefühlsbetont mit „Ja“ antworten. Vielen Dank, Präsident Nelson, dass Sie uns mit diesen prophetischen Fragen inspiriert und erbaut haben.

Neulich unterhielt ich mich mit einem Bischof in Pretoria in Südafrika, der seine Frau und seine erwachsene Tochter am gleichen Tag beerdigt hatte. Die Coronapandemie hatte beide das Leben gekostet. Ich fragte, wie es ihm gehe. Die Antwort von Bischof Teddy Thabete bestärkte mich in meinem Vorsatz, den Worten und dem Rat der Propheten, Seher und Offenbarer des Herrn Folge zu leisten. Bischof Thabete antwortete, es gebe stets Hoffnung und Trost in der Erkenntnis, dass der Erretter die Schmerzen seines Volkes auf sich genommen habe, damit er wisse, wie er uns beistehen könne.10 Mit tiefem Glauben bekundete er: „Ich bin dankbar für den Erlösungsplan, den Plan des Glücklichseins.“ Dann stellte er mir eine Frage: „Hat unser Prophet uns nicht genau das bei der letzten Generalkonferenz sagen wollen?“

Die Herausforderungen des Erdenlebens ereilen uns alle auf die eine oder andere Weise. Mögen wir uns dabei auf das Ziel konzentrieren, „nach dem Siegespreis [zu jagen]: der himmlischen Berufung Gottes“11.

Meine einfache Bitte an uns alle lautet: Geben wir niemals auf! Wir sind aufgerufen, „alle Last und die Sünde ab[zu]werfen, die uns so leicht umstrickt. Lasst uns mit Ausdauer in dem Wettkampf laufen, der vor uns liegt, und dabei auf Jesus blicken, den Urheber und Vollender des Glaubens.“12

Es geht nicht so sehr darum, was wir im Leben durchmachen, sondern darum, was wir werden. Es macht Freude, wenn wir nach dem Siegespreis jagen. Ich bezeuge, dass er, der alles überwand, uns beisteht, wenn wir auf ihn blicken. Im Namen Jesu Christi. Amen.