2020
Meine brandneue, alte Familie
Juli 2020


Meine brandneue, alte Familie

Der Verfasser lebt heute in Utah.

Wenn man es zulässt, gibt es nichts, was das Evangelium nicht ändern kann

Bild
boy looking at family photo

Illustration von Lobo

Die Missionare zeigten mir ein Foto. „Was siehst du?“, fragten sie.

„Eine glückliche Familie“, erwiderte ich.

„Sind alle Familien glücklich?“

Ich schüttelte den Kopf. „Ihr habt doch meine Familie erlebt“, erklärte ich.

Ich war 16 Jahre alt und in Brasilien geboren und aufgewachsen. Die Missionare unterwiesen mich bereits seit ein paar Wochen, aber niemand sonst aus meiner Familie wollte ihnen zuhören. Inzwischen hatten die Missionare schon oft Streit in meiner Familie miterlebt. Meine Familie hatte mit den grinsenden Leuten auf dem Foto überhaupt nichts gemeinsam.

„Vielleicht ist deine jetzige Familie nicht so wie die auf dem Bild“, meinte einer der Missionare. „Aber deine künftige Familie kannst du doch anders gestalten.“

Bevor sie gingen, baten sie mich erneut, über das zu beten, womit wir uns befasst hatten. Wie immer wollte ich ihnen das aber nicht versprechen. Zwar gefielen mir die Besuche der Missionare und auch das Evangelium leuchtete mir ein, aber ich fürchtete mich vor der Antwort, die ich möglicherweise erhielt. Falls das Evangelium wahr war, musste ich eine Menge ändern.

Eine neue Entscheidung

Nachdem die Missionare gegangen waren, musste ich immerzu an glückliche Familien denken. Meine war weit davon entfernt. Zu meinem Vater hatte ich keinen Kontakt. Zu meiner Mutter hatte ich kein optimales Verhältnis. Meine Großmutter kümmerte sich um uns, aber keiner verhielt sich so, wie sich gemäß den Missionaren eine Familie verhalten sollte. Nie sagten oder zeigten wir einander, dass wir uns liebhatten, und viel Zeit verbrachten wir schon gar nicht miteinander.

Mein Leben lang hatte ich mir schon geschworen, eines Tages ein guter Vater zu sein. Ich würde meine Kinder so behandeln, wie ich es selbst nie erlebt hatte. Doch als die Missionare mich unterwiesen, erkannte ich, dass ich mich genauso verhielt wie meine Eltern, als sie in meinem Alter gewesen waren. Abends blieb ich lange weg, ich machte, was ich wollte, und rebellierte immerzu. Ich wiederholte die gleiche Geschichte, auch wenn ich das gar nicht wollte.

Ich musste endlich Gott fragen.

Als ich schließlich betete, kam die Antwort, mit der ich ohnehin schon gerechnet hatte: Die Kirche ist wahr! Nun musste ich eine Entscheidung treffen.

Ein neues Ich

Bevor ich mich taufen lassen konnte, brauchte ich die Erlaubnis meiner Großmutter. Sie war dagegen, aber ich bestand darauf.

„Oma, welcher Leonardo ist dir denn lieber?“, fragte ich. „Der Leonardo, der säuft und raucht und spät heimkommt? Oder ist dir lieber, wie ich jetzt bin? Ich habe mich ja gerade dank des Evangeliums geändert!“

Schließlich gab mir meine Großmutter ihre Erlaubnis, und ich wurde getauft und konfirmiert. Von diesem Augenblick an geschah in meiner Familie etwas Interessantes, was mir aber erst ein paar Jahre später völlig bewusst wurde.

Bild
happy family

Eine neue Familie

Kurz vor meiner Abreise auf Mission nach Südbrasilien kam meine Großmutter mit mir zu einer Pfahlkonferenz. Im Anschluss gab es eine kleine Zeugnisversammlung mit Familie und Freunden. Zu meiner Überraschung meldete sich auch meine Großmutter zu Wort.

„Seitdem sich Leonardo eurer Kirche angeschlossen hat, entwickelt sich meine Familie zu einer echten Familie“, sagte sie. Sie zählte auf, inwiefern sich unsere Familie nun näher stand: Wir verbrachten Zeit miteinander. Wir sprachen aus, dass wir einander liebhatten, was wir früher nie getan hatten. Wir stritten nicht mehr. Wir entwickelten untereinander ein echtes Freundschaftsverhältnis. Wir hatten mehr Essen und waren auch in anderen Bereichen reichlich gesegnet.

Diese Veränderungen hatte ich zwar wahrgenommen, aber mir war überhaupt nicht klar gewesen, dass sie auf meine Taufe damals zurückzuführen waren.

„Ich gehöre eurer Kirche zwar nicht an“, sagte sie, „aber ich bin eine Freundin eurer Kirche. Ich weiß, dass unsere Familie dank Leonardos Entscheidung gesegnet worden ist.“

Ein neues Verständnis

Ich konnte es kaum glauben! Aber als meine Großmutter davon sprach, dass sich unsere Familie nähergekommen war, musste ich plötzlich an das Foto denken, das mir die Missionare vor ein paar Jahren gezeigt hatten. Damals dachte ich, meine einzige Chance auf eine glückliche Familie wäre meine künftige Familie.

Ich hatte mich geirrt. Meine jetzige Familie war glücklich! Wir hatten gelernt, liebevoll miteinander umzugehen.

Vielleicht wird sich niemand aus meiner Familie in diesem Leben der Kirche anschließen. Trotzdem weiß ich, dass Gott uns auf vielerlei Weise gesegnet hat. Das Evangelium Jesu Christi zeigt uns, wie man das Familienleben verbessern kann, und da spielt es keine Rolle, wie die familiären Umstände ausschauen.