2010
Die anders sind
August 2010


Sie haben zu uns gesprochen

Die anders sind

Aus einer Ansprache anlässlich einer Pfahlkonferenzübertragung im Kreis Utah am 7. September 2008

Möge Gott uns mit der Erkenntnis segnen, dass ein wichtiger Maßstab für unseren Fortschritt in dem Prozess, zu Christus zu kommen, darin besteht, wie gut wir andere behandeln, vor allem diejenigen, die anders sind.

Bild
Elder Marlin K. Jensen

Zwei Jahre vor meiner Geburt im Jahr 1942 brachte meine Mutter meinen Bruder Gary zur Welt. Gary ist ein ganz besonderer Mensch. Bei seiner Geburt führte ein Sauerstoffmangel zu einer Hirnschädigung. Sein Verstand entwickelte sich nicht über das Niveau eines Sechs- oder Siebenjährigen hinaus.

Über sechzig Jahre lang erlebte ich mit, wie sich meine Eltern um Gary kümmerten. Sie halfen ihm, sich die Zähne zu putzen, die Haare zu kämmen und am Sonntag die Krawatte zu binden. Da er Pferde und Cowboys liebte, nahmen sie ihn zu Rodeos mit und schauten mit ihm Western an. Sie vollbrachten unzählige liebevolle, gütige Taten für ihn.

Bedauerlicherweise sind die Menschen nicht immer so freundlich zu denen, die anders sind. Leider muss ich hier anmerken, dass manche Kinder – auch Kinder von aktiven Mitgliedern der Kirche – meinen Bruder schlecht behandelten. Sie ließen ihn nicht mitspielen, gaben ihm üble Schimpfnamen und hänselten ihn erbarmungslos.

Gary hatte ein kindliches Gemüt und verzieh leicht. Er mochte und akzeptierte jeden. Ich glaube, dass mein Bruder Gary neben meinen Eltern in meiner Kindheit meine Lebensauffassung mehr geprägt hat als sonst jemand. Manchmal denke ich darüber nach, wie es nach der Auferstehung sein wird, wenn alles, wie Alma beschreibt, „zu seiner rechten und vollkommenen Gestalt wiederhergestellt werden“ wird (Alma 40:23). Dann werden wir den wahren Gary kennen, und wir werden sicher sehr dankbar sein für all das Gute, was wir für ihn getan haben, und sehr traurig über Momente, in denen wir liebevoller sein und mehr Verständnis für seine besondere Situation hätten aufbringen können.

Liebe und Verständnis sind nötig

Es gibt auf der Welt viele Menschen wie Gary. Auch in der Kirche gibt es Brüder und Schwestern, die man als „anders“ bezeichnen kann und die ganz besonders unsere Liebe und unser Verständnis brauchen. Liebe und Verständnis sind unter anderem deshalb nötig, weil sich aus unserem Bestreben, gemäß Gottes Plan zu leben, eine bestimmte Kultur entwickelt hat. Diese Kultur, die aus unseren Bemühungen, gemäß dem Evangelium Jesu Christi zu leben, entstanden ist, schließt wie alle Kulturen auch bestimmte Erwartungen und sittlich verbindliche Gepflogenheiten mit ein. Beispielsweise haben Ehe und Familie einen hohen Stellenwert, und Väter und Mütter haben eine gottgegebene Aufgabe zu erfüllen. Kinder und Jugendliche sind aufgefordert, nach bestimmten Maßstäben zu leben und auf vorgezeichneten Wegen zu gehen, um bestimmte Ausbildungsziele und Ziele im geistigen Bereich zu erreichen.

Die erwünschten Ergebnisse eines Lebens, das am Evangelium ausgerichtet ist, werden als Ideale hochgehalten, nach denen wir alle streben sollen. Natürlich beruhen diese Ideale auf der Lehre und stellen wünschenswerte Ziele in unserem Streben nach ewigem Leben dar, aber manchmal können sie bei denen, deren Leben vom Ideal abweicht, auch Enttäuschung und Schmerz verursachen.

Unbehagen und unerfüllte Erwartungen beunruhigen beispielsweise jemanden, der geschieden wurde, jemanden, der im heiratsfähigen Alter, aber noch alleinstehend ist, jemanden, der wiederholt mit Depressionen oder einer Essstörung kämpft, oder Eltern, deren Kind auf Abwege geraten ist. Auch Mitglieder der Kirche, die aufgrund ihrer Herkunft einer Minderheit angehören, die zu kämpfen haben, weil sie sich zum eigenen Geschlecht hingezogen fühlen, oder ein junger Mann, der sich aus welchem Grund auch immer dafür entscheidet, im entsprechenden Alter nicht auf Mission zu gehen, können das Gefühl haben, nicht der Norm zu entsprechen. Mitglieder, die umkehren und deren Übertretungen formelle und daher öffentliche Disziplinarmaßnahmen der Kirche erfordern, empfinden ebenfalls ihren gesellschaftlichen Umgang in der Kirche oft als schwierig.

Selbst Mitglieder, die würdig sind, deren Leben aber nicht dem Ideal entspricht und die daher als „anders“ angesehen werden, fühlen sich oft minderwertig und schuldig. Solche Gefühle werden noch verstärkt, wenn wir als ihre Brüder und Schwestern es versäumen, so rücksichtsvoll und einfühlsam zu sein, wie wir es sein sollen. Überlegen Sie beispielsweise einmal, welche unbeabsichtigte Wirkung es auf ein kinderloses Ehepaar hat, wenn ein Mitglied der Gemeinde die beiden fragt, wann sie Kinder haben werden, und nicht ahnt, dass sie schon lange Kinder haben wollen, aber keine bekommen können.

Wenn wir diese schwierige Situation verbessern wollen, muss uns klar sein, dass die Lösung nicht darin besteht, das Ideal zu verwerfen oder auf eine niedrigere Stufe herabzusetzen. Propheten und Apostel hatten schon immer die Pflicht, das Ideal zu lehren und uns anzuspornen, nach diesem Ideal zu streben. Das hat auch der Erlöser getan. Sein Gebot lautete: „Ihr sollt also vollkommen sein“ (Matthäus 5:48) und nicht nur: „Genieß den Tag!“

Jeder ist anders

Vor einigen Jahren gewann ich eine wertvolle Erkenntnis, als ich las, was der Heiland über den Mann sagte, der ein Schaf verloren hatte. Der Erlöser fragt: „Lässt er dann nicht die neunundneunzig auf den Bergen zurück und sucht das verirrte?“ (Matthäus 18:12.)

Als Priestertumsführer hatte ich mich viele Jahre lang immer als Hirte gesehen – als derjenige, der hinausgeht, um nach dem verlorenen Schaf zu suchen. Aber als ich über diese Schriftstelle nachsann, wurde mir bewusst, dass wir alle auf die eine oder andere Weise wie das verlorene Schaf sind. Wir alle haben unsere Schwächen, und auf irgendeine Weise weicht unser Leben vom Ideal ab. Jeder ist anders! Dies ist eine demütig stimmende, aber nützliche Erkenntnis.

Wir tun auch gut daran, zu bedenken, dass der Erlöser zwar das Ideal gelehrt, aber auch anerkannt hat, dass es nicht immer sofort erreichbar ist. Über die geistigen Gaben – die wunderbaren Gaben des Heiligen Geistes – sagte Jesus: „Sie sind zum Nutzen derer gegeben, die mich lieben und alle meine Gebote halten.“ Alle Gebote halten zu müssen, um sich der geistigen Gaben erfreuen zu können, scheint eine unerreichbar hohe Anforderung zu sein, aber zum Glück sagt der Erlöser weiter, dass die geistigen Gaben auch zum Nutzen dessen gegeben sind, „der dies zu tun trachtet“ (LuB 46:9; Hervorhebung hinzugefügt). Danach zu trachten, alle Gebote zu halten – auch wenn wir das Ideal manchmal nicht erreichen –, das ist für jeden von uns möglich und ist für den Vater im Himmel annehmbar.

Da wir alle bei der Taufe gelobt haben, „mit den Trauernden zu trauern, ja, und diejenigen zu trösten, die des Trostes bedürfen“ (Mosia 18:9), ist ein wichtiger Aspekt unserer Anstrengung, Jünger Christi zu sein, dass wir mitfühlend sind und einfühlsam mit Menschen umgehen, die besondere Lebensumstände haben – die anders sind. Über Jesus schrieb Nephi: „Er tut nichts, was nicht der Welt zum Nutzen ist.“ (2 Nephi 26:24.) Es ist unvorstellbar, dass der Erlöser irgendetwas tun oder sagen würde, was die Schmerzen eines Kindes Gottes intensivieren oder es verletzen würde. Ja, Alma erklärte, dass Christus als Teil des Sühnopfers freiwillig unsere Schmerzen, Krankheiten und Schwächen durchlebte, „damit er gemäß dem Fleische wisse, wie er seinem Volk beistehen könne“ (Alma 7:12).

Es ist für uns sehr tröstlich, dass Christus in der Lage ist, unsere Erfahrungen nachzuempfinden – eine Eigenschaft, die Empathie genannt wird. Der Bericht über das Wirken Jesu ist reich an Beispielen für sein Einfühlungsvermögen und seine Freundlichkeit gegenüber denen, die anders waren.

Als das Liederbuch für Kinder 1989 für die PV zusammengestellt wurde, sollte auch ein Lied enthalten sein, das Kinder – und damit uns alle – auf diejenigen aufmerksam macht, die ganz besonders auf unsere Liebe und unser Verständnis angewiesen sind, weil sie anders sind. Dieses einfache Lied mit dem Titel „Ich geh mit dir“ fasst wunderbar zusammen, wie wir liebevoll und verständnisvoll sein können:

Kannst du nicht wie die anderen gehn,

lässt man dich oft alleine stehn;

doch ich nicht, ich nicht!

Sprichst du nicht wie die anderen hier,

treibt jemand seinen Spott mit dir;

doch ich nicht, ich nicht!

Ich geh mit dir, ich red mit dir;

so zeig ich meine Liebe dir.

Jesus half, wo Not er sah,

war liebevoll für alle da.

Auch ich tu’s, ich tu’s!

Er tat Gutes tausendfach

und rief uns zu: „Kommt, folgt mir nach!“

Auch ich tu’s, ich tu’s!

Ich tu’s, ich tu’s!

Ich geh mit dir, ich red mit dir,

so zeig ich meine Liebe dir.1

Möge Gott uns mit der Erkenntnis segnen, dass ein wichtiger Maßstab für unseren Fortschritt in dem Prozess, zu Christus zu kommen, darin besteht, wie gut wir andere behandeln, vor allem diejenigen, die anders sind. Und mögen wir daran denken, dass jeder auf irgendeine Weise anders ist.

Anmerkung

  1. „Ich geh mit dir“, Liederbuch für Kinder, Seite 78

Wiedergefunden, Gemälde von Del Parson, Vervielfältigung untersagt

Foto von Robert Casey