2023
In unserer nicht ganz dem Idealbild entsprechenden Familie die göttliche Absicht erkennen
Januar 2023


„In unserer nicht ganz dem Idealbild entsprechenden Familie die göttliche Absicht erkennen“, Liahona, Januar 2023

Junge Erwachsene

In unserer nicht ganz dem Idealbild entsprechenden Familie die göttliche Absicht erkennen

Es kann schmerzlich sein, auf der Erde keine „ideale“ Familie zu haben, doch können wir unsere Lebenswirklichkeit dazu nutzen, dem Erretter näherzukommen.

Bild
Eine junge Frau stellt sich in einer Gedankenblase eine Familie vor

Illustrationen von David Green

Nichts vermittelt uns ein tieferes Empfinden für Sinnhaftigkeit, Freude, Sehnsucht oder Schmerz als jene Beziehungen, die im Erdenleben an vorderster Stelle stehen – die Beziehungen innerhalb der Familie nämlich. Und eben weil diese Beziehungen so ausschlaggebend sind, wurden die Führer der Kirche inspiriert, die Proklamation zur Familie zu verfassen.1 Die Wahrheiten darin geben Zeugnis für einen liebevollen Vater, der sich sehnlichst wünscht, dass wir die göttlichen Muster verstehen, die zu ewigem Glück im Familienleben führen.

Präsident Henry B. Eyring, Zweiter Ratgeber in der Ersten Präsidentschaft, hat erklärt: „Da unser Vater seine Kinder liebt, lässt er uns nicht im Ungewissen über das, was in diesem Leben am wichtigsten ist und wo unsere Aufmerksamkeit uns glücklich und Gleichgültigkeit uns traurig machen kann.“2 Dazu gehören die zahlreichen, heiligen innerfamiliären Rollen, die wir im Leben innehaben könnten: Tochter oder Sohn, Schwester oder Bruder, Mutter oder Vater, Tante oder Onkel, Großmutter oder Großvater.

Die Wahrheiten in der Proklamation zur Familie erhellen den Weg zu jenem „ewigen Idealbild“, das sich viele von uns so inniglich wünschen, nämlich feste, glückliche und ewige Familienbande. Das Problem dabei ist allerdings, dass wir in der „irdischen Realität“ leben und die Kluft zwischen „Realität“ und „Idealbild“ schmerzlich sein kann. Manchmal sehen wir in der Proklamation zur Familie nicht jenen Leitstern, als der sie uns dienen soll, sondern eher als erbarmungslose Erinnerung daran, inwiefern wir genau diesem „Ideal“ eben „nicht gerecht werden“.

  • Vielleicht sehnen wir uns danach, zu heiraten, doch dies scheint außer Reichweite.

  • Vielleicht waren wir verheiratet und hatten dann eine kräfteraubende Scheidung.

  • Vielleicht wünschen wir uns ein Kind, können aber keines bekommen.

  • Vielleicht wurde in der Familie unser Vertrauen missbraucht und es kam zu Missbrauch oder Misshandlung.

  • Vielleicht hat einer unserer Lieben eine Entscheidung getroffen, die uns über die Maßen wehtut.

  • Vielleicht scheint Eintracht unerreichbar, obschon wir uns nach Kräften darum bemühen.

  • Vielleicht sind wir enttäuscht, weil das, wonach wir uns sehnen und was uns ja auch verheißen ist, nicht eintritt.

In der Realität machen alle Menschen innerfamiliäre Herausforderungen sowie Schmerz und Kummer durch – manche mehr als andere. Bis zu einem gewissen Grad weichen wir alle von den idealen Mustern ab, die in der Proklamation zur Familie umrissen werden.

Was uns vielleicht nicht bewusst ist, ist die göttliche Absicht hinter dieser Lebenswirklichkeit.

Den Erretter suchen und sich ihm fügen

Als alleinstehende Frau, die sich viele Jahre lang nach einem Ehepartner und Kindern gesehnt hatte, wünschte und dachte ich mir, ein grundlegender Zweck meines Lebens bestehe darin, die Ideale des Familienlebens zu erreichen, die in der Proklamation zur Familie dargelegt werden. Doch trotz meiner innigen Bemühungen konnte ich dies offenbar nicht so verwirklichen, wie ich es meiner Ansicht nach sollte. Das war schmerzlich.

Damals konnte ich das wunderbare Werk nicht erkennen, das der Herr durch das innere Ringen in meinem Herzen zuwege brachte.

Rückblickend spielte das unerfüllt gebliebene Sehnen jedoch eine heilige Rolle dabei, dass ich das Herz meinem Erlöser zuwandte, mich um jenen Frieden und jene Führung bemühte, die nur er geben kann, und mein Vertrauen in seine vollkommene Liebe und helfende Macht festigte. Das tägliche Gebet, das Schriftstudium und vor allem die Aussagen bei der Generalkonferenz wurden zu einem richtungsweisenden Anker der Hoffnung. Ich fühlte mich gedrängt, mich den Worten meines Patriarchalischen Segens sowie weiterer Priestertumssegen zuzuwenden, in denen ich liebevolle Führung – maßgeschneidert für mich von meinem ewigen Vater – fand.

Als ich dem Herrn mein Herz ausschüttete – selbst als ich versucht war, mich verbittert von ihm abzuwenden –, kamen mir heilige Eingebungen in Sinn und Herz, die mir versicherten, er wisse, wo ich gerade stehe, mein Leben habe einen wunderbaren Plan und ich könne ihm vertrauen. Durch Bündnisse zu meinem Erlöser zu gehören,3 wurde für mich zu einem Strom tiefen Friedens und großer Freude, der alle anderen Quellen der Erfüllung oder des Glücks übertrifft.

Obwohl ich gemeint hatte, der Sinn meines Lebens bestehe darin, mein Traumbild von der idealen Familie zu verwirklichen, erkannte ich, dass der Herr das möglich macht, was Elder Jeffrey R. Holland vom Kollegium der Zwölf Apostel als Hauptzweck des Erdenlebens bezeichnet hat. Elder Holland zitierte König Benjamin und führte aus: „Vielleicht besteht der Hauptzweck darin‚ ‚durch das Sühnopfer Christi, des Herrn, ein Heiliger [zu werden]‘, was erfordert, dass wir ‚wie ein Kind [werden], fügsam, sanftmütig, demütig, geduldig, voller Liebe und willig, sich allem zu fügen, was der Herr für richtig hält, ihm aufzuerlegen, so wie ein Kind sich seinem Vater fügt.‘“4

Mein Bedürfnis nach der Hilfe und Kraft des Erretters veranlasste mich dazu, die Art Herz anzustreben, die dem seinen gleicht, und mir sein Maß an Fügsamkeit, Sanftmut, Demut, Geduld und Liebe anzueignen. Im Zuge dessen erfuhr ich durch seine helfende Macht eine Veränderung. Und in Wahrheit war dies doch genau das, was ich mir am meisten gewünscht hatte. Was mir „nicht ideal“ schien, hatte in der Tat den Weg für das schönste „Ideal“ geebnet.

Mein Bekannter und Kollege Ty Mansfield schildert eine ähnliche Wahrheit. Als Mann mit gleichgeschlechtlichen Neigungen erlebte Ty jenes geistige Wachstum, das stattfinden kann, wenn wir unser Leben in Jesus Christus verankern und ihm bereitwillig unser ganzes Herz hingeben, sodass er alle schwierigen Erfahrungen zu unserem Besten weihen kann. Für Ty begann es damit, dass ihm der Geist vermittelte: „Ganz gleich, ob ich jemals heirate oder nicht, werde ich doch von Gott unendlich geliebt und akzeptiert. Meine Aufgabe besteht darin, weiterhin einen Tag nach dem anderen zu nehmen und mich dabei um die Führung des Geistes zu bemühen und ihr zu folgen.“5 Schließlich führte dieses Gottvertrauen dazu, dass Ty und seine Frau eine glückliche, erfüllende und ewige Ehe eingingen.

Eine tiefere Beziehung zum Erretter entwickeln

Auch ich fand schließlich einen Partner, obgleich ich daran gezweifelt hatte, ob ich jemals heiraten werde. Obwohl ich vor Jahren an meinen Mann gesiegelt wurde, spüre ich jedoch weiterhin die Notwendigkeit; in Jesus Christus fest verankert zu sein – und das vielleicht sogar noch stärker als zuvor. Wieder fing ich an, mich um inneren Frieden an ihn zu wenden, als ich unter meiner Unfruchtbarkeit litt. Ich hatte keine Ahnung, wie ich ohne Kinder jemals die Freude verspüren sollte, die ich mir vom Familienleben erhofft hatte. Doch selbst nachdem mein Mann und ich mit zwei Kindern gesegnet worden waren, richtete ich mein Augenmerk oft auf meine Schwächen als Mutter. Obwohl ich endlich all das hatte, was ich mir immer gewünscht hatte, schien mir die Kluft zwischen dem „Idealbild“ und der „Realität“ in gewisser Weise noch zuzunehmen.

Dadurch dachte ich erneut über den Zweck des Erdenlebens und die von Gott verordneten Abläufe, wie wir wachsen, nach. Vielleicht besteht der Sinn des Lebens ja gar nicht darin, dem Idealbild der Familie gerecht zu werden. Vielleicht gibt es dieses Ideal im Erdenleben nicht einmal. Vielleicht ist die Familie vielmehr eine Gelegenheit, Fortschritt zu machen.

Vielleicht erfüllt die Realität, in der man sich so schmerzlich „weniger als ideal“ fühlt, sogar den heiligen Zweck, zu dem Wachstum beizusteuern, dessen es bedarf, um tatsächlich „ideale“ Beziehungen zu führen. Vielleicht liegt Stärke in der Tatsache, dass die tiefe Kluft zwischen der Realität und dem Idealbild uns zu einer tieferen Beziehung zu Jesus Christus ermuntert, sodass er das, was verletzt worden ist, heilt und heiligt und dabei zunehmend auch Weisheit, Kraft und Liebe aufbaut. Auf wundersame Weise können wir durch seine Gnade und Erlösung – und zwar nur durch seine – die Art Mensch in jener Art verschiedener Beziehungen werden, die wir uns im Himmel wünschen.

Ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass „Vollkommenheit“ in familiären Beziehungen eigentlich für niemanden erreichbar ist – zumindest nicht in diesem Leben. Doch Ehrlichkeit, Redlichkeit und aufrichtige Nähe sind möglich. Wenn man Vollkommenheit vorgibt oder erwartet, beeinträchtigt das sogar die aufrichtige Nähe zu Gott, zu unserer Familie und zu anderen. Wenn wir uns stattdessen vor Christus, der Familie und anderen so zeigen, wie wir wirklich sind – auch mit allem, was „nicht ideal“ ist –, öffnen wir uns für seine heiligende Macht. Wir erleben, wie seine wundersame Macht Unvereinbares zusammenführt, uns mit seiner Liebe erfüllt und uns zu einem Wesen macht, das eine engere Beziehung zu ihm und seinen Lieben hat.

Der vielleicht heiligste Zweck der Proklamation zur Familie besteht darin, dass sie uns versichert, dass die „ideale“ Familie dank Jesus Christus für jeden von uns unsere ewige Bestimmung sein kann.

Als geliebte Söhne und Töchter himmlischer Eltern gehören wir alle einer ewigen Familie an. Unsere einzigartigen Erfahrungen im Erdenleben sind ein wesentlicher Bestandteil von Gottes Plan und helfen uns, Fortschritt zu machen und „letztlich als Erben des ewigen Lebens [unsere] göttliche Bestimmung zu verwirklichen“6 – also dasselbe wunderbare Familienleben zu genießen, das auch er hat, und zwar ungeachtet dessen, wie sehr unser derzeitiges Familienleben von jenem „Idealbild“ abweichen mag. Auch Elder D. Todd Christofferson hat festgestellt: „Im Sühnopfer Jesu Christi [wurden und werden] alle Entbehrungen und Verluste derjenigen, die zu ihm kommen, vorweggenommen … und letztendlich wiedergutgemacht. … Niemand ist von vornherein dazu bestimmt, nur einen Bruchteil von dem zu empfangen, was der Vater für seine Kinder bereithält.“7

So wie der Herr es auch Jakob inmitten von dessen Schwierigkeiten innerhalb seiner „weniger als idealen“ Familie verheißen hat, sichert uns seine Bündnisbeziehung mit uns gleichfalls zu: „Ich bin mit dir, ich behüte dich, wohin du auch gehst, und bringe dich zurück [nach Hause]. Denn ich verlasse dich nicht, bis ich vollbringe, was ich dir versprochen habe.“(Genesis 28:15.) Wenn wir Christus nachfolgen – ganz gleich wie unvollkommen unsere Wirklichkeit auch aussieht –, hält er uns so lange an der Hand fest, bis wir zu alledem geworden sind, was wir uns wünschen, und in familiäre Beziehungen von höchster ewiger Freude eingebunden sind.