2003
Wir sind Töchter des Himmlischen Vaters, der uns liebt
Oktober 2003


Wir sind Töchter des Himmlischen Vaters, der uns liebt

Als ich mich im Klassenzimmer umsah und in die Gesichter der etwas befangenen, aber doch erwartungsvollen zwölfjährigen Mädchen blickte, dachte ich an die erste Zeile des JD-Leitgedankens: „Wir sind Töchter des himmlischen Vaters, der uns liebt.“

Ich fragte mich: „Woher wissen diese Mädchen, dass der himmlische Vater sie liebt?“ Also fragte ich sie.

Viele blickten auf den Boden oder scharrten nervös mit den Füßen, weil sie nicht angesprochen werden wollten. Mir war klar, dass sie Zeit brauchten, um über die Frage nachzudenken, und vielleicht auch nicht vor allen antworten wollten. „Denkt während des Unterrichts darüber nach“, sagte ich.

Seine Liebe finden

Am Ende teilte ich Papier aus und ließ die Mädchen anonym antworten, woher sie wussten, dass der himmlische Vater sie liebt. Während sie sich bemühten, es aufzuschreiben, hörte ich Bemerkungen wie „Das ist wirklich schwer“ und „Ich bin nicht sicher, ob ich es wirklich weiß“. Mir fiel vor allem Jocelyn auf, die fast die ganze Zeit über mit den Tränen kämpfte. Als ich später die Antworten las, wusste ich, welches zerknitterte Blatt von ihr war. Sie schrieb einfach: „Weil er meine Mutter gerettet hat.“

Ihre Mutter ist eine gute Freundin von mir, und auch ich hatte innig für sie gebetet. Sie hatte gerade eine Herzoperation erfolgreich hinter sich gebracht und sollte aus dem Krankenhaus entlassen werden, als eine Arterie in der Milz platzte. Innerhalb von Minuten stand sie an der Schwelle des Todes. Ein Ärzteteam arbeitete fieberhaft daran, sie für eine Notoperation vorzubereiten. Ihre Genesung kann nur als Wunder bezeichnet werden. Viele Gebete waren erhört worden, auch die von Jocelyn und mir. Es war ein machtvolles Zeugnis für Gottes Liebe.

Aber ich spürte auch einen Schauer bei Jocelyns Antwort. Was, wenn der himmlische Vater ihre Mutter nicht gerettet hätte? Wüsste sie dann trotzdem, dass der himmlische Vater sie liebt? Könnte sie die Liebe des Herrn auch inmitten der unvermeidlichen tragischen Ereignisse des Lebens spüren?

Da dachte ich an meine Nichte Ashley. Auch sie weiß, dass der Vater im Himmel sie liebt, obwohl das, was sie erlebt hat, genau das Gegenteil von Jocelyns Erfahrung war.

Vor etwa einem Jahr ging Ashley mit ihrem Vater und ihrer Mutter in der Nähe ihres Hauses in Nordkalifornien über Felsbrocken am Strand spazieren. Ihr Vater fotografierte die wunderschöne Landschaft, um sie später mit Aquarellfarben zu malen. Aus dem Nichts und ohne jede Vorwarnung spülte eine riesige Welle über das Ufer, riss ihren Vater hinaus aufs Meer und zog ihre Mutter an den Felsen entlang. Ashley war weit genug vom Meer entfernt, sodass die Welle sie nicht erfasste. Voller Entsetzen rannte sie um Hilfe.

Innerhalb von Minuten rief ein Mann mit dem Handy den Rettungsdienst und die Rettung begann. Ihre Mutter war an eine gefährliche Stelle gespült worden, wo sie nur mit dem Hubschrauber erreicht werden konnte. Sie hatte unerträgliche Schmerzen. Sie hatte sich den Rücken und den Arm gebrochen und hatte zahlreiche Schnittwunden von den scharfen Felsen. Ashleys Vater wurde nirgends gefunden. Als Ashleys Mutter am Ufer lag und auf ihre Rettung wartete, spürte sie die Gegenwart ihres Mannes und wusste ohne Zweifel, dass er von ihr gegangen war. Seine Leiche wurde nie gefunden.

Der himmlische Vater hatte Ashleys Vater nicht gerettet. Und doch weiß Ashley, dass er sie liebt. Sie sagt: „Ich spürte in der Zeit, wie der Heilige Geist mich tröstete. Ich wusste, ich würde meinen Vater wiedersehen. Und ich spürte die Liebe des Herrn durch die liebevolle Fürsorge meiner Mitmenschen.“

Überall in der Kirche stehen jede Woche die Jungen Damen und ihre Führerinnen auf und erklären: „Wir sind Töchter des himmlischen Vaters, der uns liebt …“ Wissen wir das wirklich ? Wissen wir es in unserem Innersten, sodass dieses Wissen uns stärkt und stützt? Wie können wir seine Liebe noch deutlicher erkennen und spüren? Das Beispiel von Jocelyn und von Ashley zeigt, dass wir Gottes Liebe erfahren können – sowohl im Glück als auch im Leid.

Seine Liebe in den heiligen Schriften finden

Als ich über diese gegensätzlichen Geschichten nachdachte, fielen mir auch vergleichbare Beispiele aus den heiligen Schriften ein – die Befreiung von Schadrach, Meschach und Abed-Nego aus dem Feuerofen im Gegensatz zu Abinadis Märtyrertod.

Schadrach, Meschach und Abed-Nego waren treue Diener des Herrn. Sie wussten, dass er sie liebte. Sie glaubten daran, dass er sie aus dem glühenden Feuerofen retten konnte, wenn es sein Wille war. Sie sagten: „Nur unser Gott, den wir verehren, [kann] uns erretten; auch aus dem glühenden Feuerofen und aus deiner Hand, König, kann er uns retten.“ (Daniel 3:17.) Sie glaubten aber nicht nur daran, dass der Herr sie retten konnte, sondern, was noch wichtiger ist, sie vertrauten darauf, dass sein Wille geschah, ob er sie nun beschützte oder nicht. Der staunende König Nebukadnezzar wurde Zeuge ihrer wundersamen Rettung und erkannte, wie sehr Gott seine Diener liebte, die auf ihn vertraut hatten (siehe Daniel 3:95).

Der Prophet Abinadi im Buch Mormon vertraute ebenso auf den Herrn, als ihm der Feuertod angedroht wurde. König Noa sagte: „Du [sollst] nun hingerichtet werden, wenn du nicht alle bösen Worte widerrufst, die du in Bezug auf mich und mein Volk gesprochen hast.“ (Mosia 17:8.)

Mutig wies Abinadi dies von sich. Als er verbrannt werden sollte, wurde er nicht auf wunderbare Weise gerettet. „Er [fiel] nieder, denn er hatte den Feuertod erlitten; ja, er war hingerichtet worden, weil er die Gebote Gottes nicht verleugnen wollte, und er besiegelte die Wahrheit seiner Worte mit seinem Tod.“ (Mosia 17:20.) Er vertraute auf die Liebe und den Willen des Herrn.

Schadrach, Meschach und Abed-Nego blieb der Feuertod erspart, Abinadi nicht. Doch der Herr liebte sie alle und sie alle wussten es.

Das Ende dieser beiden Geschichten zeigt uns, dass die Liebe Gottes über unsere irdischen Erfahrungen hinausgeht. Seine Liebe ist größer als das Gute oder Schlechte, das uns widerfahren kann. Manchmal segnet er uns, indem er unsere Herzenswünsche erfüllt, und manchmal segnet er uns mit Trost und Kraft, damit wir die Last unerfüllter oder zerstörter Wünsche tragen können.

In allem seine Liebe finden

Ich habe Gottes Liebe schon erfahren. Ich habe um bestimmte Segnungen gebetet und er hat sie mir gewährt. Ich spüre seine Liebe in seinen barmherzigen Taten und Wundern (siehe „Bless Our Fast, We Pray“, Hymns, Nr. 138), bei Geburten und Taufen, in Gesundheit und Heilung, am Morgen und in den Bergen, in Freundschaften und der Liebe in der Familie, in seinem Zeitplan und im Tempel.

Im Gegensatz dazu bin ich auch in den Widrigkeiten des Lebens bewahrt worden. Manche Last drückt mich nieder, obwohl ich mir wünsche, dass dieser Kelch von mir genommen werde (siehe Lukas 22:42). Gerade durch solche schwierigen Erfahrungen spüre ich meine Abhängigkeit vom Herrn umso mehr, empfange aber auch ein reicheres Maß seiner Liebe. Ich fühle mich ihm nahe und weiß, dass er mich trägt, mich tröstet und mir den Mut gibt, weiterzugehen. Ich weiß, wie Paulus die Römer gelehrt hat, dass nichts, wie schwer es auch sein mag, uns von der Liebe Gottes trennen kann:

„Was kann uns scheiden von der Liebe Christi? Bedrängnis oder Not oder Verfolgung, Hunger oder Kälte, Gefahr oder Schwert? …

Denn ich bin gewiss: Weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Gewalten der Höhe oder Tiefe noch irgendeine andere Kreatur können uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn.“ (Römer 8:35,38,39.)

Nichts konnte Jocelyn und Ashley von der Liebe Gottes scheiden, obwohl die Mutter der einen verschont wurde und der Vater der anderen nicht. Sie erkennen seine Liebe in allen Erfahrungen – den freudigen und den traurigen. Ich wünsche mir, dass alle jungen Damen auf der Welt, in welchen Umständen sie sich auch befinden mögen, wie Jocelyn und Ashley mit Gewissheit bezeugen können: „Wir sind Töchter des himmlischen Vaters, der uns liebt!“