2021
Wie kann ich verzeihen, wo es doch so schwer ist?
Juni 2021


Nur online: Junge Erwachsene

Wie kann ich verzeihen, wo es doch so schwer ist?

Jemandem zu verzeihen kann einem manchmal schwerfallen – doch durch den Herrn wird auch Schwieriges machbar

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Eine junge Frau fasst den Erretter bei der Hand

Im Evangelium, so wird uns oft gesagt, sei Vergebung unerlässlich, um Frieden, Glück, Heilung und Umkehr erfahren zu können. Ich habe herausgefunden, dass dieser Grundsatz wirklich wahr ist. Dennoch fiel es mir zunächst unglaublich schwer, zu vergeben. Die Vergebungsbereitschaft stellte sich nicht einfach so von selbst ein.

War ich von jemandem gekränkt oder beleidigt worden, dachte ich für gewöhnlich bei mir: „Ja, sicher habe ich dem Betreffenden vergeben.“ Doch wenn mich irgendetwas daran erinnerte, wie sehr ich verletzt worden war, waren Wut, Kummer oder Schmerz sofort wieder da.

Vielleicht kannst du das nachvollziehen.

Wie lernen wir also, „allen Menschen“ (Lehre und Bündnisse 64:10) zu vergeben, wie es der Erretter von uns verlangt? Bis ins Letzte weiß ich das nicht, um ehrlich zu sein. Es gibt da manches, was ich mit der Hilfe des Herrn immer noch ergründe; das eine oder andere habe ich unterdessen aber bereits gelernt.

Christus hat Schmerz jeder Art gelitten

Zunächst habe ich erkannt, dass die Macht Jesu Christi und die Segnungen seines Sühnopfers unglaublich wichtig und beeindruckend sind und sich einfach auf alles erstrecken. Die Macht des Herrn ist wirklich grenzenlos.

Wir wissen, dass er durch das Sühnopfer für unsere Sünden gelitten hat, sodass wir umkehren können. Darüber hinaus wissen wir, dass er unsere Schmerzen und Bedrängnisse auf sich genommen hat, „auf dass sein Inneres von Barmherzigkeit erfüllt sei gemäß dem Fleische, damit er gemäß dem Fleische wisse, wie er [uns] beistehen könne gemäß [unseren] Schwächen“ (Alma 7:11-14). Das bedeutet, dass Christus sich in mich hineinversetzen und alle Schmerzen nachvollziehen kann, die ich erlitten habe, mögen sie von einem gebrochenen Arm oder einem gebrochenen Herzen herrühren.

Er kennt meine Sünden und Schwächen und ist dennoch bereit, mir zu vergeben, wenn ich mal wieder etwas verpatzt habe. Er war bereit, sich für mich zu opfern.

Ich habe lange dafür gebraucht, aber da ich daran glaube, dass sein Sühnopfer mir ganz persönlich gilt und dass mir vergeben werden kann, fasste ich einen Entschluss: Ich musste auch daran glauben, dass allen, die mich verletzt haben, und allen, die ich liebe, ebenfalls vergeben werden kann. Schließlich hat Christus sich für alle geopfert.

Vergebung geschieht schrittweise

Elder Richard G. Scott (1928–2015) vom Kollegium der Zwölf Apostel hat vor einigen Jahren darüber gesprochen, inwiefern Vergebung zu Heilung führt: „Wenn Sie die Tat vergeben können, werden Ihnen der Schmerz und der Kummer genommen.“ Er versicherte uns zudem, dass wir, wenn wir vergeben können, „größeren Frieden verspüren“1.

Doch zu vergeben kann schwierig sein. Es gab Zeiten, da allein der Gedanke, jemandem zu vergeben, mir bereits vollkommen abwegig erschien. Dann fand ich Trost in Elder Scotts Worten: „Wie unmöglich Ihnen das jetzt auch vorkommen mag: Die Heilung, die Ihnen vom Erlöser zukommt, wird Sie mit der Zeit in die Lage versetzen, dem Täter wahrhaftig zu vergeben. … Wenn aber der Gedanke an Vergebung – auch wenn diese ein wichtiger Teil der Heilung ist – Ihnen nur mehr Schmerz bereitet, dann lassen Sie diesen Schritt beiseite, bis Sie selbst mehr Erfahrung mit der heilenden Macht des Erlösers gemacht haben.“2

So habe ich das gehalten. Ich musste mir zugestehen, erst mal einen Schritt zurückzutreten, mich auf meine Beziehung zum Herrn zu konzentrieren und mich letztlich auf die Liebe und die Heilung zu verlassen, die ich empfangen habe. Dann erst konnte ich mich dem Thema Vergebungsbereitschaft erneut widmen, das ich zuvor nicht in Angriff hatte nehmen können. Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass der Herr unser Herz und unsere Gedanken kennt und in der Zeit, die wir zur Heilung brauchen, bei uns ist.

Vergebungsbereitschaft erleichtert unsere innere Genesung

Mein Zeugnis von der Heilkraft der Vergebung wächst weiterhin. Meiner Erfahrung nach stimmt, was Elder Scott uns zugesichert hat, dass nämlich „Vergebungsbereitschaft … schreckliche, tragische Wunden [heilt]“3. Wir müssen nur zulassen, dass der Herr uns das Herz mit Liebe erfüllt und uns hilft, jedweden Hass abzulegen – ganz gleich, was wir getan haben oder was uns angetan worden ist.

Ich glaube, dass dem Vater im Himmel bewusst ist, dass es manchmal etwas dauert, bis wir bereit sind, Schwieriges anzupacken. Doch wenn wir dann bereit sind, ist er meiner Meinung nach sogleich zur Stelle und hilft uns zu verzeihen, auch wenn es schwierig ist.

Anmerkungen

  1. Richard G. Scott, „Damit die niederschmetternden Folgen des Missbrauchs geheilt werden können“, Liahona, Mai 2008, Seite 42

  2. Richard G. Scott, „Damit die niederschmetternden Folgen des Missbrauchs geheilt werden können“, Seite 42

  3. Richard G. Scott, „Die schrecklichen Narben der Misshandlung heilen“, Der Stern, Juli 1992, Seite 30