2023
An unseren Früchten – nicht an der Herkunft – werden wir erkannt
Januar 2023


Nur online: Junge Erwachsene

An unseren Früchten – nicht an der Herkunft – werden wir erkannt

Meine familiären Beziehungen waren alles andere als vollkommen, doch ich wollte nicht zulassen, dass sie den Segnungen im Weg standen, die der Vater im Himmel für mich bereithielt

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Ein Mann sitzt unter großen Bäumen auf einer Bank

An einem kühlen Oktoberabend drängte sich zur Priestertumsversammlung der Generalkonferenz ein Vater nach dem anderen samt Söhnen ins alte Tabernakel in Alpine. Sogar die gepolsterten Sessel für den Chor wurden in Beschlag genommen. Ich saß in der letzten Reihe des großen Versammlungsgebäudes – wie immer allein. Es fiel mir schwer, die anderen Jungen nicht zu beneiden, deren Väter den Arm um sie gelegt hatten. Mir brachte niemand so viel Zuneigung entgegen. Ich war der 16-Jährige aus „zerrütteten Verhältnissen“. Ich war der Junge, dessen Vater die Familie verlassen hatte und der seinem Sohn ein peinliches Erbe väterlichen Fehlverhaltens hinterlassen hatte, dessen ich mich schämte.

Ich beobachtete, wie sich die Brüder Beck – der Vater ging voran – gut gelaunt zur obersten Reihe der gemütlichen Sessel vorarbeiteten. Mir war klar, dass sie nach der Versammlung wohl gemeinsam ein Eis essen gehen würden. Mir war auch bewusst, dass ich alleine nach Hause gehen würde.

Ich beugte mich, auf der unbehaglichen Kante der Holzbank sitzend, nach vorn und stützte die Ellbogen auf die Knie. Wenn die Versammlung doch endlich vorüber wäre! Dabei hatte sie noch gar nicht angefangen. Ich dachte bei mir: „Eines Tages will ich ein Vater sein, der seinen Söhnen den Arm um die Schulter legt und sie zu den Sesseln für den Chor führt. Eines Tages will ich all das sein, was mein Vater nicht war.“ Ich schwor mir, in jeder Hinsicht anders zu sein und selber eine Familie zu haben, die niemals solche Schande und Scham sollte durchmachen müssen.

Dann geschah ein Wunder: Elder Boyd K. Packer (1924–2015) vom Kollegium der Zwölf Apostel sagte, er wolle ein Thema anschneiden, das eigentlich jeder Vater mit seinem Sohn besprechen sollte. Da er aber wisse, dass viele junge Männer niemanden hätten, mit dem sie über solch heikle Themen sprechen könnten, wolle er sich selbst an die Jugendlichen wenden. Es war, als hätte Elder Packer mich herausgegriffen und direkt zu mir gesprochen, brachte er doch seine Bereitschaft zum Ausdruck, die Vaterfigur zu sein, nach der ich mich so viele Jahre gesehnt hatte.

Damals legte ich für mich fest: Meine familiäre Vorgeschichte, meine persönlichen Umstände oder meine alles andere als vollkommenen Familienbeziehungen dürfen die Fülle der Segnungen, die der Vater im Himmel für mich bereithält, nicht schmälern! An diesem Abend holte ich mir bei einem Propheten, Seher und Offenbarer Rat. Er sollte für mich der Vater sein, den ich nicht hatte. Ich konnte zwar nicht direkt mit ihm reden oder spüren, dass er mir den Arm um die Schulter legte, aber von da an bemühte ich mich aktiv darum, aus seinen Ansprachen, Büchern und Unterweisungen Rat zu schöpfen. So wollte ich mich über all die Schwierigkeiten und Enttäuschungen erheben, denen ich ausgesetzt war.

Ich fand zudem noch weitere Vaterfiguren und Familien mit positivem Einfluss auf mich. Enos aus dem Buch Mormon war mir wie ein Bruder. Er brachte mir bei, inständiger zu beten. Mein Bruder Nephi lehrte mich, Gott unbeirrbar zu gehorchen und schlechten Einflüssen mit geistiger Stärke zu begegnen. Alma wurde zu meinem Mentor. Er gab mir klugen Rat und half mir, unerschrocken zu sein, aber Anmaßung und Müßiggang zu meiden. Moroni zeigte mir, wie wir stets bemüht sein können, treu und gläubig zu bleiben, selbst wenn wir manche Stürme des Lebens allein überstehen müssen.

Meine Suche nach würdigen Vaterfiguren führte mich zu weiteren Männern, die mich zu guten Entscheidungen motivierten, wie etwa meine Schauspiel- und Debattierlehrer sowie der Footballtrainer. Sie alle kümmerten sich um mich. So war beispielsweise ein wunderbarer Nachbar, Bruder Beal, immer wieder zur Stelle und sorgte dafür, dass ich von seiner Frau regelmäßig die Haare geschnitten bekam. Sonntagmorgens holte er mich – einen Apfel in der Hand – von zuhause ab und begleitete mich zur Priestertumsversammlung.

Als ich an besagtem Abend das Tabernakel verließ, hatte ich nicht das Gefühl, allein nach Hause zu gehen oder aufgrund meiner familiären Umstände ausgegrenzt zu sein. In mir war Hoffnung aufgekeimt und ich hatte Mut gefasst, denn schließlich fühlte ich mich mit einem Apostel Jesu Christi verbunden! Fast auf den Tag genau 32 Jahre später hatten meine Frau und ich einen Termin bei Elder Packer im Büro. In seiner liebevollen Barmherzigkeit ermöglichte mir der Vater im Himmel, Elder Packer mitzuteilen, welch tragende Rolle er in meinem Leben gespielt hatte. Noch heute zehre ich von den weisen Worten und Ratschlägen, die meine Vaterfigur mir auf den Weg mitgab, als er mich als Missionspräsident berief.

Die Apostel bieten mir weiterhin Führung. Elder Gerrit W. Gong vom Kollegium der Zwölf Apostel hat festgestellt:

„So wie in der Familie Freude liegt, kann in ihr auch Kummer liegen. Niemand ist vollkommen. Das trifft auch auf alle Familien zu. Wenn diejenigen, die uns lieben, umsorgen und beschützen sollen, dies nicht tun, fühlen wir uns verlassen, beschämt und verletzt. Dann wird die Familie zu einer leeren Hülle. Doch mit Hilfe von oben können wir lernen, unsere Familie zu verstehen und Frieden miteinander zu schließen.

Manchmal ermöglicht uns unbeirrter Einsatz für dauerhafte Familienbeziehungen, Schwieriges zu bewältigen. In manchen Fällen wird eine Gemeinschaft zur Familie.“1

Wir lesen in den heiligen Schriften, dass wir an unseren „Früchten“ erkannt werden und uns unser liebevoller Vater im Himmel daran misst (siehe Matthäus 7:16-20). Es ist nicht unsere Herkunft, an der wir erkannt oder anhand derer wir bewertet oder eingeschränkt werden. Einige von uns entstammen Verhältnissen oder haben Erfahrungen gemacht, die alles andere als wünschenswert sind. Doch unsere Lebensumstände legen nicht fest, wer wir sind, und bestimmen auch nicht unser Schicksal. Unser allmächtiger Vater im Himmel kann und wird uns in seine himmlische Wohnstatt emporheben, wenn wir einfach dadurch zu seinem Sohn Jesus Christus kommen, dass wir gehorsam sind und unsere Bündnisse halten.

Sei dir bitte bewusst: Wer immer du bist und unter welchen Umständen du auch lebst – wenn du auf dem Weg der Bündnisse treu vorangehst, steht dir jede Segnung offen.