2017
Ein christlicher Charakter
October 2017


Ein christlicher Charakter

Nach einer Ansprache bei einem Symposium an der Brigham-Young-Universität Idaho am 25. Januar 2003

Jesus hat am meisten erlitten und empfindet dennoch für uns alle, die wir viel weniger erleiden, das allergrößte Mitgefühl.

Bild
image of Christ

Das Licht der Welt, Gemälde von Howard Lyon

Elder Neal A. Maxwell (1926–2004) hat einen Grundsatz vermittelt, der mich tief bewegt hat. Ich habe mich ausgiebig damit befasst und viel darüber nachgedacht. Er hat gesagt: „Ohne die Charakterstärke Christi hätte es das Sühnopfer nicht geben können.“1 Seitdem ich diese klare, eindringliche Aussage gehört habe, bin ich bemüht, mehr über den Begriff „Charakter“ in Erfahrung zu bringen und ihn besser zu verstehen. Ich habe auch überlegt, wie der Charakter Christi und sein Sühnopfer zusammenhängen und wie sich das wiederum auf jeden von uns als Jünger Jesu auswirkt.

Der Charakter des Herrn Jesus Christus

Das vielleicht deutlichste Kennzeichen von Charakterstärke ist die Fähigkeit, dass man wahrnimmt und entsprechend handelt, wenn jemand die gleiche Prüfung durchmacht oder sich in der gleichen Notlage befindet, die uns gerade selbst besonders stark belastet. Charakterstärke wird beispielsweise offenbar, wenn wir das Leiden anderer erkennen können, obwohl wir selbst leiden, wenn wir den Hunger anderer wahrnehmen, obwohl wir selbst hungrig sind, und wenn wir die Kraft aufbringen, anderen zu helfen, die sich in geistiger Qual befinden, und ihnen Mitgefühl entgegenzubringen, obwohl wir uns selbst in geistiger Drangsal befinden. Wir zeigen also Charakterstärke, wenn wir uns um andere kümmern und ihnen die Hand entgegenstrecken, obwohl wir uns normalerweise instinktiv nur um uns selbst kümmern und uns zurückziehen würden. Wenn diese Fähigkeit also den obersten Maßstab für Charakterstärke darstellt, dann ist der Erretter der Welt das vollkommene Beispiel für einen derart gleichbleibenden und mildtätigen Charakter.

Beispiele für den Charakter Christi

Bild
Christ teaching

Diese Zwölf sandte Jesus aus, Gemälde von Walter Rane

Am selben Abend, als Christus das größte Leid auf sich nehmen sollte, das jemals jemand in allen von ihm erschaffenen Welten würde durchmachen müssen, sprach er in einem Obergemach beim Abschiedsmahl über den Tröster und über Frieden:

„Das habe ich zu euch gesagt, während ich noch bei euch bin.

Der Beistand aber, der Heilige Geist, den der Vater in meinem Namen senden wird, der wird euch alles lehren und euch an alles erinnern, was ich euch gesagt habe.

Frieden hinterlasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch; nicht einen Frieden, wie die Welt ihn gibt, gebe ich euch. Euer Herz beunruhige sich nicht und verzage nicht.“ (Johannes 14:25–27.)

Ihm war bewusst, dass er selbst bald ganz drastisch sowohl auf Trost als auch auf Frieden würde verzichten müssen. In einem Augenblick, da der Meister womöglich besorgt war und Angst hatte, nahm er sich anderer an und bot ihnen genau die Segnungen an, die ihn wohl gestärkt hätten.

Unmittelbar bevor Jesus mit seinen Jüngern auf die andere Seite des Baches Kidron zum Garten Getsemani ging, sprach er das große Abschiedsgebet. Der Meister betete für seine Jünger und „für alle, die durch ihr Wort an mich glauben.

Alle sollen eins sein: Wie du, Vater, in mir bist …

So sollen sie vollendet sein in der Einheit, damit die Welt erkennt, dass du mich gesandt hast und die Meinen ebenso geliebt hast wie mich. …

Ich habe ihnen deinen Namen bekannt gemacht und werde ihn bekannt machen, damit die Liebe, mit der du mich geliebt hast, in ihnen ist und damit ich in ihnen bin.“ (Johannes 17:20,21,23,26.)

Wenn ich darüber nachdenke, was sich alles zugetragen hat so kurz, bevor Jesus Christus verraten wurde und im Garten Getsemani Qualen litt, kommen mir immer wieder diese Fragen in den Sinn: Wie konnte er so kurz vor seinem eigenen Leiden um das Wohlergehen und die Einigkeit anderer beten? Wie war er dazu imstande, sich um Trost und Frieden für jemanden zu bemühen, der in viel geringerer Not war als er selbst? Wie konnte er, als ihn die von ihm selbst erschaffene, doch gefallene Welt derart auf ihm lastete, sich vollständig und ausschließlich auf die Umstände und Sorgen anderer konzentrieren? Wie konnte der Meister die Hand ausstrecken, wenn ein geringeres Wesen sich zurückgezogen hätte? Elder Maxwell beantwortet jede dieser eindringlichen Fragen so:

„Der Charakter Jesu machte sein bemerkenswertes Sühnopfer ja erst möglich. Ohne seinen edlen Charakter hätte es kein edles Sühnopfer geben können. Sein Charakter wird daran deutlich, dass er ,Versuchungen jeder Art‘ litt (Alma 7:11), ,ihnen aber keine Beachtung‘ schenkte (LuB 20:22).“2

Jesus hat am meisten erlitten und empfindet dennoch für uns alle, die wir viel weniger erleiden, das allergrößte Mitgefühl. Tatsächlich ist das Ausmaß von Leid und Mitgefühl eng verknüpft mit dem Ausmaß der Liebe desjenigen, der seinem Nächsten beisteht.

Bemüht euch aktiv um Nächstenliebe

Bild
young women at church

Wir können uns hier auf Erden darum bemühen, die wesentlichen Grundzüge eines christlichen Charakters zu erlangen und weiterzuentwickeln. Es ist tatsächlich möglich, dass wir uns in diesem Leben in Rechtschaffenheit darum bemühen, die geistigen Gaben zu erlangen, die mit der Fähigkeit einhergehen, dass man die Hand ausstreckt und entsprechend handelt, wenn jemand die gleiche Prüfung durchmacht oder sich in der gleichen Notlage befindet, die uns gerade selbst besonders stark belastet. Diese Fähigkeit erlangen wir jedoch nicht durch reine Willenskraft oder Entschlossenheit. Stattdessen brauchen wir „die Verdienste und die Barmherzigkeit und Gnade des heiligen Messias“ (2 Nephi 2:8) und sind davon abhängig. Doch „Zeile um Zeile[,] Weisung um Weisung“ (2 Nephi 28:30) und „im Laufe der Zeit“ (Mose 7:21) sind wir imstande, anderen die Hand entgegenzustrecken, selbst wenn wir uns normalerweise eher zurückziehen würden.

Ihr wie auch ich müssen beten, den tiefen Wunsch haben, uns darum bemühen und daran arbeiten, einen christlichen Charakter zu entwickeln, wenn wir uns die geistige Gabe der Nächstenliebe erhoffen, die ja die reine Christusliebe ist. Nächstenliebe ist keine Charaktereigenschaft, die man sich ausschließlich durch zweckorientierte Beharrlichkeit und Entschlossenheit aneignet. Natürlich muss man seine Bündnisse halten, würdig leben und alles geben, damit man die Gabe empfangen darf; aber letzten Endes besitzt die Gabe der Nächstenliebe uns, nicht wir sie. Der Herr bestimmt, ob und wann wir alle geistigen Gaben empfangen, aber wir dürfen nichts unversucht lassen, den tiefen Wunsch nach diesen Gaben zu haben, uns dafür zu öffnen und würdig zu machen. Wenn wir vermehrt im Einklang mit dem Charakter Christi handeln, tun wir dem Himmel vielleicht auf äußerst machtvolle Weise unseren Wunsch kund, die göttliche geistige Gabe der Nächstenliebe zu erlangen. Und zweifellos werden wir mit dieser erstaunlichen Gabe gesegnet, wenn wir vermehrt anderen die Hand entgegenstrecken, obwohl der natürliche Mensch in uns sich eher zurückziehen würde.

Jesus ist der Messias, der einziggezeugte Sohn des ewigen Vaters. Ich weiß, dass er lebt. Ich bezeuge, dass wir dank seiner Charakterstärke einst sowohl Unsterblichkeit als auch ewiges Leben erlangen können. Mögen wir anderen die Hand entgegenstrecken, selbst wenn wir uns normalerweise eher zurückziehen würden.

Anmerkungen

  1. Neal A. Maxwell, „The Holy Ghost: Glorifying Christ“, Ensign, Juli 2002, Seite 58

  2. Neal A. Maxwell, „O How Great the Plan of Our God!“, Ansprache vor Religionslehrern des Bildungswesens der Kirche, 3. Februar 1995, Seite 6, si.lds.org