2007
Der barmherzige Samariter – vergessene Symbole
Februar 2007


Der barmherzige Samariter – vergessene Symbole

Eine der einflussreichsten Geschichten, die Jesus Christus erzählt hat, ist das Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Jesus erzählte dieses Gleichnis einem Mann, der gefragt hatte: „Meister, was muss ich tun, um das ewige Leben zu gewinnen?“ Darauf fragte Jesus: „Was steht im Gesetz?“

Der Mann bezog sich in seiner Antwort auf Deuteronomium 6:5 und Levitikus 19:18: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen … und: Deinen Nächsten sollst du lieben wie dich selbst.“

Als Jesus ihm verhieß: „Handle danach und du wirst leben“, entgegnete der Mann herausfordernd: „Und wer ist mein Nächster?“ Als Antwort auf diese Frage erzählte ihm Jesus das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (siehe Lukas 10:25-35).

Eine tiefere Bedeutung

Der Erretter sprach oft in Gleichnissen, denn jedes hat eine tiefere Bedeutung, die nur der versteht, der wirklich hört (vgl. Matthäus 13:9,13). Der Prophet Joseph Smith hat bestätigt, dass ein Ungläubiger die Gleichnisse Jesu nicht verstand. „Doch seinen Jüngern erklärte [der Herr die Gleichnisse] ganz deutlich“, und wir können die Gleichnisse verstehen, sagt der Prophet, „wenn wir nur unsere Augen öffnen und mit offenem Herzen lesen“.1 Wenn wir dieses Prinzip kennen, können wir überlegen, welche symbolische Botschaft hinter dem barmherzigen Samariter steckt. Im Licht des Evangeliums Jesu Christi sehen wir, dass diese meisterhafte Geschichte den Erlösungsplan ganz hervorragend zusammenfasst – auf eine Weise, die vielleicht nur wenigen Lesern in der heutigen Zeit aufgefallen ist.

Die offenkundige Bedeutung dieses Gleichnisses ist sehr sinnfällig und packend, doch eine altehrwürdige christliche Tradition besagt, dass das Gleichnis auch eine eindrucksvolle Allegorie auf den Fall des Menschen und die Errettung der Menschheit darstellt. Diese frühe christliche Deutung des barmherzigen Samariters ist in der berühmten Kathedrale von Chartres dargestellt, die im elften Jahrhundert entstand. In einem der schönen Buntglasfenster sieht man die Vertreibung von Adam und Eva aus dem Garten von Eden ganz oben im Fenster und parallel dazu unten das Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Daran sieht man, dass „eine symbolische Auslegung des Gleichnisses Jesu im Mittelalter sehr verbreitet war“.2 Als ich dieses Fenster betrachtete, fragte ich mich: Was hat der Fall Adams und Evas mit dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter zu tun?

Schon bald fand ich die Antwort.3 Die Wurzeln dieser allegorischen Auslegung reichen tief in das frühe Christentum. Im zweiten Jahrhundert n. Chr. erkannten sowohl Irenäus in Frankreich als auch Clemens von Alexandria, dass der barmherzige Samariter ein Sinnbild für Christus ist, der das mit Sünden verwundete und gefallene Opfer rettet. Einige Jahre später erklärte Clemens’ Schüler Origenes, dass er diese Auslegung von frühen Christen übernommen hatte, die die Allegorie folgendermaßen beschrieben hatten:

„Der Mann, der sich auf den Weg macht, ist Adam. Jerusalem ist das Paradies, und Jericho ist die Welt. Die Räuber sind böse Mächte. Der Priester ist das Gesetz, der Levit stellt die Propheten dar, und der Samariter ist Christus. Die Wunden sind Ungehorsam, das Reittier ist der Körper des Herrn, die [Herberge], in die alle kommen können, die es wollen, ist die Kirche. … Der Wirt ist das Oberhaupt der Kirche, dem sie anvertraut worden ist. Und die Tatsache, dass der Samariter zurückkehren wird, ist ein Sinnbild für das Zweite Kommen des Erretters.“4

Diese sinnbildliche Auslegung wurde nicht nur von den frühen Nachfolgern Jesu verkündet, sondern war in der Anfangszeit des Christentums weit verbreitet. Sie wurde ebenso von Irenäus, Clemens und Origenes und im vierten und fünften Jahrhundert auch von Chrysostomos in Konstantinopel, Ambrosius in Mailand und Augustinus von Hippo in Nordafrika vertreten. Diese Interpretation findet sich auch vollständig in zwei weiteren Buntglasfenstern aus dem Mittelalter: in den Kathedralen von Bourges und Sens in Frankreich.

Ein Sinnbild des Erlösungsplans

Der Leser gewinnt viel, wenn er über die heiligen Schriften nachsinnt, vor allem dann, wenn die Schriften Zeugnis von Jesus Christus ablegen (siehe Johannes 5:39). Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter ist ein Zeugnis für Christus. Darin geht es um den Erlösungsplan, die sühnende Liebe des Erretters und unsere Reise dahin, dass wir das ewige Leben ererben. Man kann also nicht nur die Geschichte eines Mannes herauslesen, der von Jerusalem nach Jericho gehen wollte, sondern es ist die Geschichte eines jeden, der aus der Gegenwart Gottes gekommen ist, um auf der Erde zu leben. Diese Bedeutung wird ganz offensichtlich angesichts des Evangeliums Jesu Christi, das durch seine Propheten in den Letzten Tagen wiederhergestellt wurde.

Schauen wir uns einige Teile der Geschichte genauer an.

Ein Mann ging von Jerusalem nach Jericho hinab und wurde von Räubern überfallen.

Ein Mann. Die frühen Christen verglichen diesen Mann mit Adam. Dieser Zusammenhang war in den alten Sprachen vielleicht offensichtlicher als in den heutigen Übersetzungen. Im Hebräischen bedeutet das Wort Adam „Mann, Mensch, Menschen, Menschheit“ und ebenfalls „Adam“ als Eigenname.5 Daher hatte Clemens von Alexandria Recht, als er das Opfer in diesem Gleichnis als Symbol für „jeden von uns“ sah. Wir sind ja alle als ein Adam bzw. eine Eva herabgekommen und sind den Risiken und dem Auf und Ab des Lebens ausgeliefert: „Denn wie in Adam alle sterben …“ (1 Korinther 15:22).

Ging hinab. Der frühe christliche Autor Chrysostomos sah in dieser Formulierung den Abstieg Adams aus dem Garten in diese Welt – von der Herrlichkeit in die Weltlichkeit, von der Unsterblichkeit in die Sterblichkeit. Der Geschichte in Lukas 10 kann man entnehmen, dass der Mann sich absichtlich auf den Weg machte, er wusste um die Risiken, die mit der Reise verbunden waren. Niemand zwang ihn, nach Jericho zu gehen. Offenbar war er der Ansicht, die Reise lohne sich auch angesichts der allgemein bekannten Risiken des Verkehrs auf den Straßen zur Zeit Jesu, die in einem schlechten Zustand waren.6

Von Jerusalem. Jesus lässt diese Person nicht von irgendeinem gewöhnlichen Ort aufbrechen, sondern von Jerusalem. Da die Stadt mit dem Tempel heilig war, sahen die frühen Christen in diesem Detail sofort den Gedanken, dass diese Person aus der Gegenwart Gottes kam.

Nach Jericho. Jericho wurde gemeinhin mit dieser Welt gleichgesetzt. Die Stadt liegt über 250 Meter unter dem Meeresspiegel und ist die am niedrigsten gelegene Stadt der Welt. Aufgrund des milden Klimas im Winter wurde sie zu einem hedonistischen Erholungsort, an dem Herodes einen prächtigen Palast als Urlaubsdomizil errichtet hatte. Man beachte jedoch, dass der Reisende im Gleichnis noch nicht in Jericho angekommen war, als er von den Räubern überfallen wurde. Dieser Mann war auf dem steilen Weg hinab nach Jericho, aber er war noch nicht unten angekommen.

Überfallen. Darin steckt das Wort „fallen“, eine Anspielung auf den gefallenen, sterblichen Zustand des Menschen und die missliche Lage des Sünders: „Ja, alle sind gefallen und sind verloren.“ (Alma 34:9.)

Von Räubern. Die frühen christlichen Autoren sahen in den Räubern entweder den Teufel und seine satanischen Mächte, böse Geister oder falsche Lehrer. Das griechische Wort für „Räuber“, das Lukas verwendet, legt nahe, dass es sich hierbei nicht um Gelegenheitstäter handelte. Der Reisende wurde von einer Bande bösartiger Wegelagerer angegriffen, einer strukturierten Gruppe, die wohlüberlegt und gezielt gemeinsam handelte.

Sie plünderten ihn aus und schlugen ihn nieder; dann gingen sie weg und ließen ihn halb tot liegen.

Sie plünderten ihn aus. [In der englischen Bibel: Sie raubten ihm seine Kleidung; Anm. d. Ü.] Die frühen Christen spürten, dass Jesus hier etwas Wichtiges ansprach. Origenes und Augustinus sahen im Verlust der Kleidung ein Symbol dafür, dass die Menschheit die Unsterblichkeit und Unverdorbenheit verloren hatte. Chrysostomos sprach vom Verlust „seines Gewandes der Unsterblichkeit“ oder des „Gewandes des Gehorsams“. Ambrosius sprach davon, dass dem Reisenden „die Bekleidung seiner geistigen Herrlichkeit geraubt wurde, die wir [alle von Gott] erhalten haben“.

Offensichtlich wollten die Angreifer dem Reisenden die Kleidung stehlen, denn nirgendwo wird etwas von Wertgegenständen oder Handelsware erwähnt. Aus irgendeinem Grund wollten die Räuber unbedingt sein Gewand haben – etwas, was er von dem heiligen Ort mitgebracht hatte und worum sie ihn beneideten und was sie ihm deshalb wegnehmen wollten.

Sie schlugen ihn nieder. Dies wurde als Vergleich mit dem Kummer im Leben betrachtet, den Seelenqualen und den Bedrängnissen aufgrund verschiedener Sünden und Laster. Ja, die Feinde der Seele fügen Wunden zu (siehe Jakob 2:8,9). Übertretung hat reale Folgen (siehe Alma 41:10).

Halb tot. Die Räuber rannten fort und ließen den Betreffenden wahrhaftig „halb tot“ zurück. In diesem Detail können wir einen Vergleich mit dem ersten und zweiten Tod erkennen. Die Person war gefallen, war der Sünde ausgesetzt und hatte den ersten Tod erlitten, sie wurde sterblich. Doch der zweite Tod, die dauerhafte Trennung von Gott, konnte noch verhindert werden (siehe Alma 12:32-36).

Zufällig kam ein Priester denselben Weg herab; er sah ihn und ging weiter. Auch ein Levit kam zu der Stelle; er sah ihn und ging weiter.

Zufällig. Der jüdische Priester kam „zufällig“ dorthin, er hatte nicht bewusst nach dem Mann gesucht. Niemand hatte es so vorgesehen, dass er dorthin kam.

Ein Priester … Auch ein Levit. Alle frühen christlichen Kommentatoren sahen in dem Priester ein Symbol für das Gesetz des Mose. Sie hatten nicht die Vorstellung, dass jemand, der das im Alten Testament vorhandene Priestertum trug, einem gefallenen Menschen nicht helfen wollte, sondern dass das Gesetz des Mose einfach nicht die Macht hatte, ihn zu retten. Das Gesetz des Mose war ja nur ein Sinnbild, ein Vorzeichen des Sühnopfers, das noch vollbracht werden musste, und besaß nicht dessen volle Wirksamkeit (siehe Mosia 3:15-17).

Der Levit wurde als Symbol für die Propheten des Alten Testaments betrachtet, deren Worte der Herr auf Erden erfüllt hat (siehe Matthäus 5:17; 3 Nephi 15:2-5). Die Leviten waren den Priestern untergeordnet und erfüllten Aufgaben im Tempel. Immerhin kam dieser Levit „zu der Stelle“ und sah den Mann. Vielleicht wollte er ihm ja helfen, aber möglicherweise betrachtete er sich dafür als zu unbedeutend. Außerdem hatte er auch gar nicht die Macht, einen Sterbenden zu retten.

Dann kam ein Mann aus Samarien, der auf der Reise war. Als er ihn sah, hatte er Mitleid, ging zu ihm hin, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie.

Samariter. Alle frühen christlichen Autoren waren sich darüber einig, dass der barmherzige Samariter Christus darstellte. Chrysostomos meint, der Samariter sei eine treffende Darstellung für Christus, denn „so wie der Samariter nicht aus Judäa war, ist Christus nicht von dieser Welt“.

Seine Zuhörer in Jerusalem bemerkten wohl, dass der Erretter damit auf sich selbst anspielte. Einige Juden in Jerusalem lehnten Jesus mit der Schmähung ab: „Sagen wir nicht mit Recht: Du bist ein Samariter?“ (Johannes 8:48.) Da Nazaret auf der anderen Seite des Tales nördlich von Samarien liegt, konnte man die beiden Orte schon einmal über einen Kamm scheren. Und genauso wie die Samariter als die geringsten Menschen betrachtet wurden, so war auch prophezeit worden, der Messias werde „verachtet und von den Menschen gemieden“ und nicht geschätzt (siehe Jesaja 53:3).

Der auf der Reise war. Man könnte glauben, dass der Samariter (der Christus darstellt) nach Menschen Ausschau hielt, die Hilfe brauchten. Aus dem Text geht nicht hervor, dass er rein zufällig dort vorbeikam. Origenes schrieb: „Er ging mit der Absicht dort hinunter, den sterbenden Mann zu retten und sich seiner anzunehmen.“ Der Erretter kam mit lindernden Mitteln, in der Absicht, „der Welt die Erlösung zu bringen“ (3 Nephi 9:21).

Mitleid. Dieses wichtige Wort spiegelt die reine Christusliebe wider. Das griechische Wort drückt aus, dass der Samariter von tiefem, innigem Mitgefühl bewegt war. Dieses Wort wird im Neuen Testament nur dann verwendet, wenn der Verfasser Gottes barmherzige Gefühle beschreiben will. Es erscheint auch im Gleichnis vom unbarmherzigen Gläubiger, in dem der Herr (der Gott darstellt) Mitleid hatte (vgl. Matthäus 18:27), und im Gleichnis vom verlorenen Sohn, in dem der Vater (der ebenfalls Gott darstellt) sah, dass sein Sohn zurückkehrte, und „Mitleid mit ihm“ hatte. „Er lief dem Sohn entgegen, fiel ihm um den Hals und küsste ihn.“ (Lukas 15:20.) Ebenso stellt der Samariter den mit göttlichem Mitgefühl erfüllten Christus dar, der gelitten hat, „auf dass sein Inneres von Barmherzigkeit erfüllt sei gemäß dem Fleische, damit er gemäß dem Fleische wisse, wie er seinem Volk beistehen könne gemäß dessen Schwächen“ (Alma 7:12).

Verband seine Wunden. Einige frühe Christen erklärten, der Verband symbolisiere Liebe, Glauben und Hoffnung – „ein Band des Heils, das man nicht abstreifen kann“. Andere sahen in dem Verband die Lehren Christi, die uns an die Rechtschaffenheit binden. Ein Heiliger der Letzten Tage könnte noch ergänzen, dass der Gerettete durch Bündnisse an den Herrn gebunden ist (siehe LuB 35:24; 43:9).

Öl. Eine Lotion mit Olivenöl war sicher sehr wohltuend. Die meisten frühen christlichen Autoren sahen darin ein Symbol für den Trost, den Christus zuspricht, doch Chrysostomos betrachtete dies als „heilige Salbung“ – das könnte sich auf verschiedene Verordnungen des Priestertums beziehen: die Krankenheilung (siehe Jakobus 5:14), die Gabe des Heiligen Geistes (oft durch Olivenöl symbolisch dargestellt) oder die Salbung eines Königs oder einer Königin.

Wein. Der barmherzige Samariter goss auch Wein auf die offenen Wunden, um sie zu reinigen. Spätere christliche Autoren sahen in dem Wein das Wort Gottes – etwas, was brennt –, aber die frühere Interpretation legte den Wein als das Blut Christi aus, das beim Abendmahl symbolisch dargestellt wird (siehe Matthäus 26:27-29; 3 Nephi 18:8-11). Dieser Wein, das sühnende Blut, wäscht die Sünde fort und reinigt die Seele, sodass der Geist Gottes bei uns sein kann. Ein wahrhaft barmherziger Samariter leistet nicht nur physische Hilfe, sondern bietet auch die errettenden Grundsätze und Verordnungen des Evangeliums an. Der sühnende Wein tut anfangs vielleicht weh, aber in der Folge bewirkt er einen heilenden Frieden.

Dann hob er ihn auf sein Reittier, brachte ihn zu einer Herberge und sorgte für ihn.

Hob ihn auf sein Reittier. Christus nahm unsere Schmerzen auf sich und erfüllte so die Prophezeiung (siehe Jesaja 53:4; Alma 7:11). Im Reittier des Samariters sah man ein Symbol für den Leib Christi. Auf das Reittier gelegt werden bedeutet, daran glauben, dass Gott einen fleischlichen Körper bekam, unsere Sünden trug und für uns litt.

Herberge. Für die frühen Christen war ganz klar, dass dies ein Symbol für die Kirche war. Eine Herberge war ein öffentlicher Ort, der allen offenstand. Die Kirche Christi ist in vielerlei Hinsicht ein öffentlich zugänglicher Zufluchtsort. Eine Herberge am Wegesrand ist nicht das himmlische Ziel, aber ein notwendiges Hilfsmittel für die Reisenden, damit sie ihr ewiges Zuhause erreichen.

Sorgte für ihn. Der Samariter blieb bei dem Verletzten und versorgte ihn persönlich in der ersten Nacht. Er lieferte den Verletzten nicht einfach schnell beim Herbergswirt ab, sondern blieb in den schlimmsten Stunden an seiner Seite. Origenes schrieb, Jesus nehme sich des Verletzten an, und zwar „nicht nur am Tag, sondern auch in der Nacht. Er widmet ihm all seine Aufmerksamkeit und sein Tun.“

Am andern Morgen holte er zwei Denare hervor, gab sie dem Wirt und sagte: Sorge für ihn, und wenn du mehr für ihn brauchst, werde ich es dir bezahlen, wenn ich wiederkomme.

Am andern Morgen. Die frühen Kommentatoren sahen hierin den Gedanken, dass Jesus am Morgen der Auferstehung hervorkommt. Christus erwies seinen Jüngern für kurze Zeit persönlich seinen Dienst. Nach seiner Himmelfahrt überließ er den Reisenden der Kirche. Sie sollte sich seiner annehmen.

Der Wirt. Dementsprechend betrachteten die frühen Kommentatoren den Wirt als Paulus und die anderen Apostel und deren Nachfolger. Wenn die Herberge die Kirche im Allgemeinen darstellt, kann man im Wirt und seinen Mitarbeitern aber auch alle Führungskräfte und Helfer in der Kirche sehen, denen der Herr geboten hat, sich jeder geretteten Seele anzunehmen, die geheilt werden möchte, und sie zu nähren.

Wenn ich wiederkomme. Die Person, die Christus darstellt, verspricht ganz offen, dass sie wiederkommt – ein offensichtliches Sinnbild für das Zweite Kommen Christi. Das griechische Wort, das hier mit „wiederkommen“ übersetzt ist, erscheint nur noch ein weiteres Mal im Neuen Testament, und zwar in Lukas 19:15. Dort kehrt der Herr in einem Gleichnis zurück und richtet die Menschen danach, was sie mit dem anvertrauten Geld gemacht haben. Diese Verknüpfung bekräftigt eindeutig das Sinnbild für das Zweite Kommen.

Bezahlen oder belohnen. Zum Schluss wird dem Wirt versprochen, dass alle seine Kosten erstattet werden. „Ich werde dir wiedergeben, was auch immer du ausgibst.“ Dieses Element der Geschichte – der Wirt erhält ja sozusagen einen Blankoscheck – hat den Kommentatoren unserer Zeit, die diese Geschichte nur als Schilderung eines Ereignisses aus dem Leben hinnehmen, wohl am meisten Kopfzerbrechen bereitet. Welcher vernünftige Mensch würde denn eine so ungewisse Verpflichtung gegenüber einem unbekannten Wirt eingehen? Wenn man die Geschichte jedoch als Sinnbild auffasst, ergibt dieses Versprechen Sinn, denn der Samariter (Christus) und sein Wirt kannten sich bereits und vertrauten einander, als dieses Versprechen gegeben wurde.

Ein ewiger Auftrag

Da es für uns schwierig ist, das unendliche Wesen Gottes und seine göttliche Fülle zu begreifen, spricht er zu uns in Sinnbildern (siehe Mose 5:7). Anhand von Symbolen kann unser begrenzter Verstand heilige Wahrheiten erfassen, die in das einzigartige Evangelium Jesu, das so viele Geheimnisse birgt, eingebettet sind. Außerdem verleiht die allegorische Auslegung dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter neben seiner moralischen Aufforderung auch noch eine ewige Perspektive.

In seinen Gleichnissen vermittelte Jesus die Grundlagen des Erlösungsplans, den der Vater aufgestellt hat. Als Sinnbild und Vorzeichen für diesen Plan stellt der barmherzige Samariter die Akte der Nächstenliebe hier in diesem Leben in einen ewigen Kontext, nämlich damit, woher wir gekommen sind, wie wir in unsere gegenwärtige missliche Lage geraten sind und wie die bindenden Verordnungen und die heilende Liebe des verheißenen Erlösers und die Fürsorge seiner Kirche uns aus diesem Zustand retten können, wenn wir anderen dienen und so leben, dass wir bei seinem Zweiten Kommen Lohn verdienen.

Wenn wir das Gleichnis in diesem Licht sehen, können wir uns mit fast jeder Figur in der Geschichte identifizieren. Man kann sich gleichermaßen in der Rolle des barmherzigen Samariters sehen, der als tatsächlicher Retter auftritt, wie in der des Erretters auf dem Berg Zion, der bei der so bedeutsamen Arbeit mithilft, verlorene Seelen zu retten. Jesus sagte dem Pharisäer: „Dann geh und handle genauso!“ (Lukas 10:37.) Wenn wir so handeln wie der Samariter, schließen wir uns Christus an und helfen ihm, die Errettung und das ewige Leben des Menschen zustande zu bringen.

Ein Jünger Jesu betrachtet sich sicher auch als Wirt, dem von Jesus Christus aufgetragen wurde, die langfristige geistige Heilung von verwundeten Reisenden zu unterstützen.

Man kann sich aber auch in der Rolle des Reisenden sehen. Zu Beginn des Gleichnisses kann sich jeder in den einsamen und müden Reisenden hineinfühlen und hat Mitleid mit ihm. Wir alle müssen gerettet werden. Am Ende der Geschichte kann sich jeder Reisende sicher fühlen, denn er weiß jetzt, dass gemäß dieser Auslegung derjenige, der „sich als der Nächste dessen erwiesen [hat], der von den Räubern überfallen wurde“ (Lukas 10:36), niemand anders ist als der barmherzige Christus. Er ist das beste Beispiel dafür, wie man sich als „Nächster“ verhält.

Diese Erkenntnis ist die Antwort auf die zweite Frage des Gesetzeslehrers: „Und wer ist mein Nächster?“ Gleichzeitig wird auch die erste Frage beantwortet: „Was muss ich tun, um das ewige Leben zu gewinnen?“ Das ewige Leben bekommen wir, wenn wir Gott „lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all [unserer] Kraft und all [unseren] Gedanken“ (Lukas 10:27), und indem wir seinen Sohn (unseren Nächsten) wie uns selbst lieben. Und das tun wir, wenn wir uns aufmachen und das tun, was der Erretter getan hat – unseren Mitmenschen Liebe erweisen. Denn nur, wenn wir ihnen dienen, dienen wir auch unserem Gott (vgl. Mosia 2:17).

Symbole aus dem gleichnis vom barmherzigen Samariter

Symbol

Eine frühe christliche Auslegung

der barmherzige Samariter

Jesus Christus

das Opfer

ein durch Sünden verwundeter Mensch

Jerusalem

das Paradies

Jericho

die Welt

der Priester

das Gesetz des Mose

der Levit

die Propheten

das Reittier

der Körper Christi

die Herberge

die Kirche

der Herbergswirt

das Oberhaupt der Kirche

Anmerkungen

  1. History of the Church, 2:266

  2. Malcolm Miller, Chartres Cathedral, 1985, Seite 68

  3. Eine ausführliche Schilderung und Quellen der Zitate in diesem Artikel in John W. Welch, „The Good Samaritan: A Type and Shadow of the Plan of Salvation“, Brigham Young University Studies, Frühjahr 1999, Seite 51–115. Andere Heilige der Letzten Tage, darunter Hugh Nibley, Stephen Robinson, Lisle Brown und Jill Major, haben das Gleichnis vom barmherzigen Samariter teilweise auf ähnliche Weise interpretiert.

  4. Origenes, Homily 34.3, übersetzt von Joseph T. Lienhard, Origenes: Homilies on Luke, Fragments on Luke, 1996, Seite 138

  5. R. Laird Harris, Gleason L. Archer Jr. und Bruce K. Waltke, Hg., Theological Wordbook of the Old Testament, 1980, „adam“, 1:10

  6. Siehe Anchor Bible Dictionary, 1992, „Travel and Communication“, 6:644ff. Da in alter Zeit das Risiko sehr groß war, auf einer Reise von Räubern überfallen zu werden, war kaum jemand allein unterwegs wie der Mann in diesem Gleichnis. Dies ist ein weiterer Hinweis darauf, dass es sich hierbei um ein Sinnbild handelt.