Geschichte der Kirche
29 In Amt und Würden sterben


„In Amt und Würden sterben“, Kapitel 29 von: Heilige: Die Geschichte der Kirche Jesu Christi in den Letzten Tagen, Band 2, Keine unheilige Hand, 1846–1893, 2020

Kapitel 29: „In Amt und Würden sterben“

Kapitel 29

In Amt und Würden sterben

Bild
Stethoskop auf einem Krankenlager

Mitte April 1877 ließ Brigham Young die roten Felsen im südlichen Utah hinter sich. Auf der Heimreise nach Salt Lake City war ihm bewusst, dass seine Tage gezählt waren. „Oftmals habe ich den Eindruck, als könne ich nicht einmal eine einzige Stunde länger leben“, hatte er den Heiligen in St. George bei seinem Abschied anvertraut. „Ich weiß nicht, wie bald ich abberufen werde, aber ich rechne damit, in Amt und Würden zu sterben.“1

Einige Tage später gab er bei einem Zwischenhalt in Cedar City einem Reporter ein Interview über John D. Lee und das Massaker von Mountain Meadows.2 Mehr als zehn Jahre hatte die Bundesregierung darauf verwendet, Nachforschungen anzustellen, wer die Morde begangen hatte. John und weitere, wie etwa William Dame, der Pfahlpräsident von Parowan, waren einige Jahre zuvor verhaftet worden und hatten sich wegen ihrer Beteiligung an dem Massaker vor Gericht verantworten müssen. Im ganzen Land war dadurch das Interesse an dem Verbrechen, das bald zwanzig Jahre zurücklag, erneut entfacht worden.3 Die Anklagen gegen William und weitere Beschuldigte waren zwar wieder fallengelassen worden, doch John war zweimal vor Gericht gestellt und schließlich wegen seiner führenden Rolle bei dem Massaker zum Tod durch Erschießen verurteilt worden.

Sowohl Staatsanwälte als auch Journalisten hatten gehofft, John werde im Zuge der Verhandlungen auch den Propheten mit in die Sache hineinziehen. Doch trotz seines Ärgers auf den Propheten, weil dieser ihn nicht vor der Bestrafung bewahrte, weigerte sich John, ihm die Schuld an den Morden zuzuschieben.4

Johns Hinrichtung hatte landesweit für Empörung unter denen gesorgt, die fälschlicherweise annahmen, Brigham hätte das Massaker angeordnet.5 Mancherorts herrschte eine solche Wut auf die Kirche, dass sich kaum noch jemand von den Missionaren ansprechen ließ. Einige Älteste kehrten lieber vorzeitig nach Hause zurück. Im Allgemeinen reagierte Brigham auf derartige Angriffe gegen ihn oder die Kirche nicht, aber zu dem Massaker wollte er sich doch äußern und erklärte sich daher bereit, die Fragen des Reporters zu beantworten.6

Dieser fragte Brigham, ob John vom Hauptsitz der Kirche den Befehl erhalten habe, die Auswanderer umzubringen. „Nicht dass ich wüsste“, antwortete Brigham, „jedenfalls bestimmt nicht von mir.“ Wenn er von dem Plan, die Auswanderer umzubringen, gewusst hätte, so Brigham, hätte er versucht, das zu verhindern.

„Ich wäre eher in das Lager gegangen und hätte bis zum letzten Atemzug die Indianer und die Weißen bekämpft, die an dem Massaker beteiligt waren, als zuzulassen, dass ein solches Verbrechen verübt wird“, erklärte er.7

Wenige Tage später machte Brigham im Sanpete Valley Halt, wo er den Tempelplatz in Manti weihte. Dort flüsterte ihm der Heilige Geist zu, er solle Änderungen an der Struktur des Priestertums in der Kirche vornehmen.8

Brigham hatte bereits einige organisatorische Änderungen in Angriff genommen. Vor zwei Jahren hatte er das Kollegium der Zwölf Apostel neu strukturiert und diejenigen Apostel als dienstältere vorangestellt, die ihrem Zeugnis seit dem Tag ihrer Berufung ohne Unterlass treu geblieben waren. Dadurch standen nun John Taylor und Wilford Woodruff an ranghöherer Stelle als Orson Hyde und Orson Pratt, die das Kollegium zu Joseph Smiths Lebzeiten kurzzeitig verlassen hatten. Infolgedessen war John Taylor nun der Dienstälteste unter den Zwölf Aposteln und damit wahrscheinlich Brighams Nachfolger als Präsident der Kirche.9

Auf seinen Reisen und bei Treffen mit örtlichen Führern der Kirche erkannte Brigham jedoch, dass weitere Veränderungen notwendig waren. So unterstanden einige der dreizehn Pfähle der Kirche einem Pfahlpräsidenten, während über andere ein Mitglied des Rates der Zwölf Apostel präsidierte, und das mitunter ganz ohne Ratgeber oder Hoheräte. Einige Gemeinden hatten einen Bischof, andere einen präsidierenden Bischof, und kaum jemand wusste, worin der Unterschied bestand. Einige wenige Gemeinden hatten überhaupt keinen Bischof.10

Auch die Kollegien des Aaronischen Priestertums waren nicht einheitlich organisiert. Die Träger des Aaronischen Priestertums kümmerten sich um die Gebäude der Kirche, besuchten Familien und lehrten das Evangelium. Doch in vielen Gemeinden gab es nicht genügend Träger des Aaronischen Priestertums, um ein Kollegium zu bilden. Das lag oft daran, dass das Aaronische Priestertum für gewöhnlich nur erwachsenen Männern übertragen wurde, die bald darauf ohnehin das Melchisedekische Priestertum empfingen.

Im Frühjahr und Sommer 1877 gingen Brigham und seine Ratgeber sowie das Kollegium der Zwölf Apostel daran, Gemeinden und Pfähle umzustrukturieren und die Kollegien des Aaronischen und des Melchisedekischen Priestertums zu stärken. Sie legten fest, dass alle Mitglieder der Kirche Teil einer Gemeinde sein sollten, in der sich ein Bischof mit Unterstützung zweier Ratgeber ihrer annehmen konnte. Ein Einziger, nämlich Edward Hunter, wurde zum präsidierenden Bischof der Kirche ernannt.

Die Erste Präsidentschaft und die Zwölf Apostel forderten die örtlichen Priestertumsführer auch auf, junge Männer zu einem Amt im Aaronischen Priestertum zu ordinieren. Insbesondere baten sie die erwachsenen Lehrer und Priester, die jungen Männer zu den Besuchen bei den Heiligen mitzunehmen, wodurch die Jungen ihre Priestertumspflichten erlernen konnten. In jeder Siedlung sollte es für die jungen Männer und die jungen Damen auch eine Jugendorganisation, die sogenannte Gemeinschaftliche Fortbildungsvereinigung, geben.

Woche für Woche bereisten die Erste Präsidentschaft und die Zwölf Apostel das Territorium, entließen Apostel aus Pfahlpräsidentschaften und beriefen an deren Stelle einen neuen Pfahlpräsidenten. Sie stellten sicher, dass jeder Pfahlpräsident zwei Ratgeber und jeder Pfahl einen Hoherat hatte. Ferner erteilten sie jedem Pfahl die Anweisung, einmal im Quartal eine Konferenz abzuhalten.11

Das anstrengende Reisen und Predigen ermüdete Brigham recht bald. Er sah erschöpft und blass aus. „Vor lauter Eifer, im Haus Gottes Ordnung zu schaffen“, gestand er ein, „habe ich mir wohl zu viel zugemutet.“12


Am 20. Juni erhielt Francis Lyman ein Telegramm von George Q. Cannon, der inzwischen Ratgeber in der Ersten Präsidentschaft war. „Präsident fragt, bist du bereit, Präsident des Pfahles Tooele zu werden“, stand dort. „Wenn ja, kannst du herkommen und die Zwölf Samstagvormittag begleiten?“13

Francis lebte in Fillmore in Utah. Der Pfahl Tooele befand sich über hundertfünfzig Kilometer weiter nördlich. Francis hatte dort noch nie gewohnt und kannte kaum jemanden aus dem Pfahl. In Fillmore, wo er schon seit über zehn Jahren lebte, war er zudem in hohen politischen Ämtern tätig. Die Berufung nach Tooele würde bedeuten, dass er seine Familie der vertrauten Umgebung entreißen und mit ihr an einen wildfremden Ort umziehen müsste.

Außerdem blieben ihm bis Samstag nur noch drei Tage.

Francis war siebenunddreißig und ein engagierter Heiliger der Letzten Tage. Er hatte eine Mission in Großbritannien erfüllt und war äußerst rührig in seinem Priestertumskollegium. Er hatte auch einen Stammbaum seiner Familie zusammengetragen und freute sich schon auf den Tag, da im Haus des Herrn die heiligen Handlungen vollzogen werden konnten.

„Mein allergrößter Wunsch“, hatte er einmal in seinem Tagebuch vermerkt, „besteht darin, das Leben eines Heiligen der Letzten Tage zu führen und meine Familie dahin zu führen, dass sie es mir gleichtut.“14

Damals machte ihm noch immer die Entscheidung seines Vaters Amasa Lyman zu schaffen, der sich William Godbes Neuer Bewegung angeschlossen hatte. Er hatte immer gehofft, sein Vater würde den Weg zurück zur Kirche finden. Sie hatten sich gemeinsam mit Ahnenforschung befasst und dabei auch Augenblicke inniger Verbundenheit erlebt. Doch Amasa war im Februar verstorben, ohne sich zuvor mit der Kirche ausgesöhnt zu haben.

Francis hatte seinen Vater noch an dessen Krankenlager besucht. „Geh bitte nicht“, hatte ihn Amasa angefleht. „Ich möchte, dass du bei mir bleibst.“

„Für wie lange?“, hatte Francis gefragt.

„Für immer“, hatte sein Vater geflüstert.15

Nach dem Tod seines Vaters war es Francis ein Herzensanliegen gewesen, seines Vaters Stand in der Kirche und dessen Priestertum wiederherstellen zu lassen, sodass die Familie sich wieder vollständig fühlen konnte. Im April hatte Francis bei Brigham Young nachgefragt, was in der Sache unternommen werden könne. Derzeit nichts, hatte Brigham erwidert. Die Angelegenheit liege in der Hand des Herrn.

Francis hatte Brighams Entscheidung akzeptiert. Die neue Aufgabe in Tooele, die der Prophet ihm übertragen wollte, nahm er bereitwillig an. „Bin Samstagvormittag bei den Zwölf“, telegrafierte er an George Q. Cannon.16

Am 24. Juni 1877 wurde der Pfahl Tooele gegründet, und am selben Tag wurde auch Francis als Pfahlpräsident eingesetzt.17 Zuvor hatte es in den sechs Hauptsiedlungen rund um Tooele jeweils einen Zweig der Kirche gegeben, die allesamt einem präsidierenden Bischof namens John Rowberry unterstanden. Nach der Gründung des neuen Pfahles wurde aus jedem Zweig eine Gemeinde, die zwischen siebenundzwanzig und zweihundert Familien umfasste.18

Wohl wissend, dass einige Heilige in Tooele daran herumnörgeln könnten, dass ihr neuer Pfahlpräsident ein junger Mann aus einem anderen Pfahl war, erwarb Francis sehr bald ein Haus in der Ortsmitte und berief zwei Einheimische als Ratgeber. Außerdem lud er Bischof Rowberry ein, mit ihm gemeinsam die Gemeinden zu besuchen. Sie gründeten neue Priestertumskollegien, beriefen Präsidentschaften und hielten die Heiligen dazu an, dem Herrn treu zu bleiben.19

„Unsere zeitlichen und geistigen Interessen im Reich sind untrennbar miteinander verbunden“, erklärte Francis den Mitgliedern seines neuen Pfahles. „Seid demütig vor dem Herrn und bewahrt euch das Licht seines Heiligen Geistes, der ja unser ständiger Begleiter sein soll.“20


Mitte Juli 1877 saß Jane Richards in Ogden neben Brigham Young auf dem Podium des Tabernakels im Pfahl Weber. Anlass dazu war eine Konferenz der Frauenhilfsvereinigungen und der Vereinigungen Junger Damen in der Stadt. Jane war Leiterin der Frauenhilfsvereinigung der Gemeinde Ogden. Sie hatte die Veranstaltung organisiert und Brigham Young als Redner eingeladen.21

In der Vergangenheit war es Jane nicht immer leichtgefallen, solch einer großen Gruppe von Frauen vorzustehen. Als junge Frau hatte sie sich in Nauvoo der Frauenhilfsvereinigung angeschlossen.22 Doch als sie 1872 dazu berufen wurde, die Frauenhilfsvereinigung der Gemeinde Ogden zu leiten, hatte sie gezögert. Um ihre Gesundheit war es trotz der Kraft, die sie immer wieder durch Priestertumssegen empfangen hatte, nie zum Besten bestellt gewesen, und zum Zeitpunkt ihrer Berufung ging es ihr überhaupt nicht gut.

Eines Tages kam ihre Freundin Eliza Snow vorbei. Eliza bedrängte sie, sie müsse unbedingt am Leben bleiben, denn sie sei sich sicher, dass Jane noch eine Aufgabe zu erledigen habe. Bei diesem Krankenbesuch verhieß ihr Eliza auch, dass sie Gesundheit und Segnungen vom Herrn erlangen werde, sollte sie die Berufung als Leiterin der Frauenhilfsvereinigung in Ogden annehmen.

Kurz darauf wurde Jane durch die Macht Gottes geheilt. Dennoch quälte sie sich noch wochenlang mit der Frage herum, ob sie die Berufung annehmen solle oder nicht. Schließlich redeten ihr Bischof und die Schwestern der Frauenhilfsvereinigung ihr zu, die Berufung doch anzunehmen. „Der Herr hat dich vom Krankenlager geholt, damit du uns Gutes tun kannst“, sagten sie, „und wir wünschen uns, dass du die Berufung annimmst.“ Jane wurde dadurch bewusst, dass ihr Wirken zu etwas Großem und Gutem beitrug, selbst wenn ihr bange war oder sie sich ausgelaugt fühlte.23

Nun, fünf Jahre später, war das Tabernakel des Pfahles Weber zum Bersten voll mit Männern und Frauen, die alle freudig darauf warteten, vom Propheten zu hören. Auf Brighams Rede folgten Ansprachen von weiteren Führern der Kirche, so auch von Janes Ehemann, Apostel Franklin Richards, der im Zuge der Umstrukturierung des Priestertums jüngst als Präsident des Pfahles Weber entlassen worden war.

Während einer Ansprache wandte sich Brigham leise an Jane und fragte im Flüsterton, was sie davon hielte, wenn auf Pfahlebene eine Frauenhilfsvereinigung gegründet würde und diese ebenfalls einmal im Quartal eine Konferenz abhielte. Im Laufe der Umstrukturierungsmaßnahmen in der Kirche hatte er diesen Schritt bereits ins Auge gefasst und auch schon mehrere Leute, darunter Bathsheba Smith, die ebenfalls an der Spitze einer Frauenhilfsvereinigung stand, dazu befragt.24

Die Frage überraschte Jane, doch nicht etwa deswegen, weil es schwierig gewesen wäre, sich eine Frauenhilfsvereinigung auf Pfahlebene vorzustellen. Zwar agierte damals jede Frauenhilfsvereinigung nur auf Gemeindeebene, doch sie und ihre Ratgeberinnen aus der Gemeinde Ogden waren ja bereits so etwas wie eine informelle Pfahl-Leitung, da sie kleineren Frauenhilfsvereinigungen in dem Gebiet Rat gaben. Viel mehr überraschte sie der Gedanke, dass die Frauenhilfsvereinigung regelmäßig Konferenzen abhalten sollte.

Jane hatte jedoch kaum Zeit, sich an die Vorstellung zu gewöhnen. Noch vor Konferenzende wurde sie von Brigham als Leiterin der Frauenhilfsvereinigung im Pfahl Weber berufen und gebeten, von den Leiterinnen der Frauenhilfsvereinigungen der Gemeinden Berichte über das geistige und finanzielle Wohl der Frauen einzuholen. Wenn es seine Gesundheit zulasse, wolle er bei der nächsten Konferenz wieder zugegen sein und ihren Berichten zuhören.

Im Anschluss an die Konferenz wurde Jane von Brigham gebeten, mit ihm und seinen Begleitern die benachbarten Siedlungen aufzusuchen. Unterwegs erläuterte er ihr die Pflichten ihrer neuen Berufung und betonte die Wichtigkeit genauer Berichte darüber, was sie und die Frauenhilfsvereinigung leisteten. Eine Frauenhilfsvereinigung auf Pfahlebene zu leiten war fürwahr eine große Aufgabe. Vor den jüngsten Umstrukturierungen hatte Jane bereits drei Frauenhilfsvereinigungen in Ogden beratend zur Seite gestanden. Der neu gegründete Pfahl Weber umfasste jedoch sechzehn Gemeinden.25

Als Jane nach Ogden zurückkehrte, kam sie mit der Frauenhilfsvereinigung ihrer Gemeinde zusammen. „Ich möchte von allen Schwestern wissen, was sie von Präsident Youngs Vorschlag halten“, sagte sie.

Den Rest der Zeit verbrachte Jane damit, den Frauen zuzuhören, die Zeugnis gaben und ihre Eindrücke von der Konferenz schilderten. Viele brachten ihre Liebe zum Evangelium zum Ausdruck. „Wir haben Licht und Erkenntnis vom Heiligen Geist“, betonte Jane gegenüber den Schwestern. „Sollten wir das verlieren – wie groß wäre dann die Finsternis!“

Bei der nächsten Versammlung ein paar Tage später schmückte Jane ihr Zeugnis noch ein wenig aus. „Ich möchte meine Religion leben“, verkündete sie, „und möglichst viel Gutes tun.“26


Während in diesem Sommer in der Kirche vieles neu geordnet wurde, fragte sich Susie Young Dunford, ob es denn nicht auch an der Zeit sei, in ihrem Leben Veränderungen vorzunehmen. Alma, ihr Mann, war soeben nach Großbritannien auf Mission aufgebrochen. Sie vermisste ihn jedoch keineswegs, sondern war dankbar, dass er fort war.

Ihre Ehe war fast von Anfang an unglücklich gewesen. Wie sein Cousin Morley, der Susies Schwester Dora geheiratet hatte, war Alma ein Gewohnheitstrinker. Als 1833 das Wort der Weisheit offenbart worden war, hatten es viele Heilige damit nicht so genau genommen. Ab 1867 rief Susies Vater Brigham Young die Heiligen jedoch dazu auf, das Gebot gewissenhafter zu befolgen und auf Kaffee, Tee, Tabak und Schnaps zu verzichten.

Nicht jeder kam diesem Aufruf allerdings nach, und Alma wehrte oftmals ab, wenn er auf seinen Alkoholkonsum angesprochen wurde. Bisweilen wurde er sogar gewalttätig und ausfällig. Eines Abends hatte er wieder einmal getrunken und Susie und die gemeinsame Tochter Leah, die gerade erst ein halbes Jahr alt war, aus dem Haus geworfen und ihnen nachgeschrien, sie sollten sich dort nie wieder blicken lassen.

Susie war dennoch zurückgekehrt in der Hoffnung, irgendetwas würde sich ändern. Nun hatten sie und Alma schon ein zweites Kind, einen Sohn namens Bailey, und Susie wollte, dass sie eine gute Ehe führten. Doch alles blieb wie gehabt. Susie war erleichtert, als Alma seine Missionsberufung erhielt. Manchmal wurden junge Männer wie Alma auf Mission gesandt, damit sie erwachsen wurden und sich besserten.

Susie genoss den neu gewonnenen Frieden und die Ruhe im Haus. Je länger die Trennung von Alma andauerte, desto weniger wollte sie ihn wiedersehen.27

Almas Familie lebte hoch im Norden von Utah beim Bear Lake, und Susie hatte geplant, sie im Sommer zu besuchen. Zuvor suchte sie jedoch erst ihren Vater auf, da ihr noch ein weiteres Anliegen Kopfzerbrechen bereitete.28

Einige Heilige in New York City hatten unlängst ein Buch mit dem Titel The Women of Mormondom herausgegeben, das dem Bild der Frauen unter den Mitgliedern, wie es in den Büchern und Vorträgen von Fanny Stenhouse, Ann Eliza Young und weiteren Kritikern der Kirche entworfen wurde, entgegenwirken sollte. Dieses Buch über die Frauen unter den Heiligen der Letzten Tage enthielt die Zeugnisse mehrerer bekannter Frauen in der Kirche und stellte ihre Erfahrungen in einem positiven Licht dar.

Susie wollte mit zwei Frauen ihres Vaters, Eliza Snow und Zina Young, sowie ihrer Schwester Zina Presendia Williams das ganze Land bereisen und das Buch öffentlich vorstellen. Sie hatte schon immer den Wunsch gehegt, eine bedeutende Rednerin und Schriftstellerin zu werden, und freute sich darauf, zu reisen und Vorträge zu halten.29

Brigham war Susies Plänen an sich nicht abgeneigt, legte aber Wert darauf, dass sie die Reise aus den richtigen Beweggründen unternahm. Er wusste, dass Susie ehrgeizig war, und hatte sie stets darin unterstützt, ihre Talente zu entwickeln. Dazu hatte er sie von einigen der besten Lehrer im Territorium unterrichten lassen. Er wollte allerdings nicht, dass die weltliche Anerkennung auf Kosten ihrer Familie ginge.

„Selbst wenn du die bedeutendste Frau der Welt werden solltest“, meinte er, „dabei aber deine Pflichten als Frau und Mutter vernachlässigtest, würdest du am Morgen der ersten Auferstehung aufwachen und bemerken, dass du in allem versagt hast.“

Wie üblich nahm ihr Vater kein Blatt vor dem Mund. Doch Susie fühlte sich nicht gemaßregelt. Sanft und verständnisvoll schien ihr Vater ihr in die Seele zu blicken: „Was immer du tun kannst, nachdem du den gerechten Ansprüchen von Haus und Herd nachgekommen bist“, versicherte er ihr, „wird dir hoch angerechnet und trägt zur Ehre und Herrlichkeit Gottes bei.“

„Ich wünschte, ich wüsste, dass das Evangelium wahr ist“, gestand ihm Susie im Verlauf des Gesprächs. Sie wollte – so wie ihre Eltern – aus tiefster Seele wissen, dass es wahr ist.30

„Es gibt nur einen Weg, meine Tochter, wie du ein Zeugnis von der Wahrheit erlangen kannst“, erklärte Brigham ohne Umschweife, „und es ist kein anderer als der, auf dem auch ich und deine Mutter unser Zeugnis erlangt haben. Wende dich auf den Knien an den Herrn. Er hört und erhört dich.“

Ein Schauer durchlief Susie, und sie wusste, dass dies die Wahrheit war. „Hätte es den Mormonismus nicht gegeben“, meinte ihr Vater sodann, „so wäre ich heute ein Tischler irgendwo auf dem Land.“

Brigham hatte sein Handwerk lange vor Susies Geburt aufgegeben, doch er war immer noch derselbe glaubensvolle Mann wie damals, als er sein Heim im Bundesstaat New York verlassen hatte, um in Kirtland dem Propheten Gottes die Hand zu schütteln. Susie wollte ihren Vater, ehe er starb, unbedingt wissen lassen, wie viel er ihr bedeutete.

„Ich bin froh und stolz“, vertraute sie ihm an, „dass ich als deine Tochter zur Welt kommen durfte.“31


Am 23. August 1877 saß Brigham abends mit Eliza Snow in dem Zimmer, wo die Familie für gewöhnlich betete. Sie sprachen über das Vorhaben, Eliza, Zina, Zina Presendia und Susie in die Oststaaten zu entsenden, wo sie das Buch The Women of Mormondom bekanntmachen und der Öffentlichkeit ein besseres Verständnis der Kirche vermitteln sollten.

„Es ist nur ein Versuch, aber wir sollten die Chance nutzen“, meinte Brigham.

Er erhob sich von seinem Platz und griff nach einer Kerze. Zuvor hatte er mit den Bischöfen in Salt Lake City gesprochen und sie angewiesen, dafür zu sorgen, dass die Priester und Lehrer allmonatlich jedes Mitglied der Gemeinde besuchten. Anschließend hatte er ein Komitee ernannt, das den Bau einer Versammlungshalle unmittelbar neben dem Salt-Lake-Tempel beaufsichtigen sollte. Nun war er erschöpft.

„Ich werde mich jetzt wohl zu Bett begeben“, sagte er zu Eliza.

In der Nacht bekam er stechende Schmerzen im Unterleib. Am Morgen eilte sein Sohn Brigham Young Jr. an seine Seite und ergriff seine Hand. „Wie geht es dir?“, fragte er. „Meinst du, es wird wieder?“

„Ich weiß es nicht“, erwiderte Brigham. „Frag den Herrn.“

Zwei Tage lag er im Bett und ertrug Qualen, fand jedoch kaum Schlaf. Trotz der Schmerzen machte er Witze und versuchte, seine Familie und seine Freunde, die sich besorgt um ihn scharten, aufzuheitern. Auf die Frage, ob er leiden müsse, erwiderte er: „Nicht dass ich wüsste.“

Die Apostel und weitere Führer der Kirche spendeten ihm wiederholt Segen, die ihn immer wieder aufmunterten. Nach vier Tagen verlor er jedoch häufiger das Bewusstsein. Die Symptome verschlimmerten sich. Ein Arzt operierte ihn am Unterleib, jedoch ohne Erfolg.

Am 29. August verabreichte ihm der Arzt ein Schmerzmittel und schob das Bett der frischen Luft wegen näher ans Fenster. Im Garten des Lion House stand eine Gruppe Heiliger in andächtiger Stille. Brighams Familie hatte sich mittlerweile um sein Bett herum zum Beten niedergekniet.

Einen Augenblick lang kam er am Fenster noch einmal zu Bewusstsein. Er öffnete die Augen und blickte zur Zimmerdecke empor. „Joseph“, murmelte er. „Joseph, Joseph, Joseph.“

Sein Atem wurde immer flacher, bis er schließlich den letzten Atemzug tat.32