2020
Der Herr hat uns viel Gunst erwiesen
November 2020


Der Herr hat uns viel Gunst erwiesen

Zeiten der Bedrängnis und der Enttäuschung ändern nichts am wachsamen Auge des Herrn, der wohlwollend auf uns herabblickt und uns segnet

Vor Jahren war ich als junger Missionar in einem winzigen Zweig auf der kleinen japanischen Insel Amami-Ōshima. Eines Tages wurde angekündigt, dass Präsident Spencer W. Kimball Asien besuchen werde und alle Mitglieder und Missionare in Japan eingeladen seien, bei einer Gebietskonferenz in Tokio den Propheten sprechen zu hören. Mein Mitarbeiter und ich waren ganz aus dem Häuschen! Gemeinsam mit den Mitgliedern des Zweiges trafen wir beide begeistert die Vorbereitungen für die Teilnahme an der Konferenz. Dazu gehörte eine 12-stündige Schifffahrt über das ostchinesische Meer zur japanischen Hauptinsel und danach eine 15-stündige Zugfahrt nach Tokio. Doch dann kam es leider ganz anders. Unser Missionspräsident teilte uns mit, dass mein Mitarbeiter und ich aufgrund der Entfernung und des Zeitaufwands nicht an der Konferenz in Tokio teilnehmen durften.

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Elder Stevenson und sein Mitarbeiter auf Mission

Während sich Mitglieder unseres winzigen Zweiges auf den Weg nach Tokio machten, blieben wir zurück. Die folgenden Tage kamen uns still und leer vor. Ganz allein hielten wir in dem kleinen Gemeindehaus die Abendmahlsversammlung ab, während Heilige und Missionare aus Japan an der Konferenz teilnahmen.

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Konferenz des Gebiets Asien

Meine Enttäuschung wurde noch größer, selbst als ich, voller Freude, die Mitglieder, die Tage später von der Konferenz zurückkehrten, berichten hörte, Präsident Kimball habe einen Tempel für Tokio angekündigt. Sie sprudelten vor Begeisterung über, denn ihr Traum wurde nun endlich wahr. Sie schilderten, wie die Mitglieder und Missionare bei der Ankündigung des Tempels vor lauter Freude nicht an sich halten konnten und spontan geklatscht hatten.

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Präsident Kimball kündigt einen Tempel in Tokio an

Seitdem sind Jahre vergangen, aber ich erinnere mich noch an meine Enttäuschung darüber, dass ich diese historische Versammlung verpasst hatte.

In den letzten Monaten habe ich über dieses Erlebnis nachgedacht, als ich beobachtet habe, dass aufgrund der weltweiten COVID-19-Pandemie viele Menschen noch weitaus bitterere Enttäuschungen und mehr Leid hinnehmen mussten als ich damals als junger Missionar.

Als sich Anfang des Jahres die Coronakrise immer rascher ausbreitete, versprach die Erste Präsidentschaft, dass „die Kirche und ihre Mitglieder gewissenhaft unter Beweis stellen, dass wir uns verpflichtet fühlen, gute Staatsbürger und Nachbarn zu sein“1, und dass wir auch „größte Sorgfalt“2 walten lassen wollen. In der Folge mussten wir miterleben, wie weltweit die Versammlungen der Kirche vorübergehend eingestellt wurden, mehr als die Hälfte aller Missionare in ihr Heimatland zurückkehren mussten und alle Tempel geschlossen wurden. Tausende von Ihnen hatten sich darauf vorbereitet, heilige Handlungen für Lebende – auch die Siegelung im Tempel – zu empfangen. Andere mussten ihre Mission frühzeitig beenden oder wurden vorübergehend entlassen oder einer anderen Mission zugewiesen.

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Missionare kehren wegen der COVID-19-Lage zurück

Während dieser Zeit wurden seitens der Behörden auch Schulen geschlossen, wodurch Schulabschlussfeiern in verändertem Rahmen abgehalten sowie Veranstaltungen und Aktivitäten in Sport, Kultur, Bildung und anderen gesellschaftlichen Bereichen abgesagt werden mussten. Viele von Ihnen hatten sich auf Veranstaltungen und Aufführungen vorbereitet, die nicht zustande kamen, oder auf Spielsaisons, die nicht stattfanden.

Noch schmerzlicher ist es, an die Familien zu denken, die in dieser Zeit einen lieben Angehörigen verloren haben. Die meisten konnten nicht einmal die erhoffte Trauerfeier oder sonst eine trostspendende Zusammenkunft abhalten.

Kurz gesagt, sehr viele von Ihnen haben tatsächlich große Enttäuschungen, Kummer und Mutlosigkeit durchlitten. Wie können wir da Heilung finden, ausharren und weitermachen, wenn doch alles so kaputt zu sein scheint?

Der Prophet Nephi fing an, Aufzeichnungen auf die kleinen Platten zu gravieren, als er schon erwachsen war. Als er auf sein Leben und geistliches Wirken zurückblickte, hielt er einen wichtigen Gedanken fest, der im allerersten Vers des Buches Mormon steht. Dieser Vers zeigt einen wichtigen Grundsatz auf, den wir auch heute bedenken sollten. Nach den bekannten Worten „Ich, Nephi, stamme von guten Eltern“ schreibt er, er habe „im Laufe [s]einer Tage viele Bedrängnisse erlebt …, der Herr [habe ihm] jedoch alle [s]eine Tage auch viel Gunst erwiesen“3.

Durch unser Studium des Buches Mormon sind wir mit den vielen Bedrängnissen vertraut, auf die Nephi sich bezieht. Doch nachdem er seine Bedrängnisse erwähnt hat, erklärt Nephi aus dem Blickwinkel des Evangeliums heraus ebenso, dass ihm der Herr alle seine Tage auch viel Gunst erwiesen habe. Zeiten der Bedrängnis und der Enttäuschung ändern nichts am wachsamen Auge des Herrn, der wohlwollend auf uns herabblickt und uns segnet.

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Virtuelle Missionarsversammlung
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Virtuelle Missionarsversammlung mit Elder Stevenson und seiner Frau
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Virtuelle Missionarsversammlung mit Elder Stevenson und seiner Frau

Vor kurzem kamen Lesa und ich virtuell mit etwa 600 Missionaren in Australien zusammen. Die meisten von ihnen waren aufgrund von COVID-19 auf irgendeine Weise von Quarantänemaßnahmen oder anderen Einschränkungen betroffen und verrichteten ihre Arbeit von ihrer Wohnung aus. Wir sprachen über Personen aus dem Neuen Testament, dem Buch Mormon und dem Buch Lehre und Bündnisse, die der Herr segnete, sodass sie trotz ihrer Widrigkeiten Großes erreichen konnten. Bei ihnen allen zählte vielmehr das, was sie mit der Hilfe des Herrn geschafft hatten, als das, was sie in der Zeit ihrer Gefangenschaft oder ihrer Einschränkungen nicht hatten tun können.

Wir lasen, wie Paulus und Silas im Gefängnis beteten, sangen, lehrten und Zeugnis gaben – und sogar den Gefängniswärter tauften.4

Und während sich Paulus in Rom zwei Jahre lang unter Hausarrest befand, „erklärte und bezeugte er [ständig] das Reich Gottes“5 „und lehrte über Jesus Christus, den Herrn“6.

Wir lasen, dass Nephi und Lehi, die Söhne Helamans, nachdem sie misshandelt und inhaftiert worden waren, zu ihrem Schutz von Feuer umgeben wurden, während denjenigen, die sie gefangen hielten, des Herrn „leise Stimme von vollkommener Milde … bis tief in die Seele“7 drang.

Wir lasen, wie Alma und Amulek in Ammoniha miterlebten, dass viele „glaubten … und [an]fingen …, umzukehren und in den Schriften zu forschen“8, obwohl die beiden daraufhin verspottet und ohne Nahrung, Wasser und Kleidung gefesselt ins Gefängnis geworfen wurden.9

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Joseph Smith im Gefängnis zu Liberty

Und schließlich lasen wir, wie Joseph Smith, als er im Gefängnis zu Liberty litt, sich einsam und verlassen fühlte und dann die Worte des Herrn hörte: „Dies alles [wird] dir zum Guten dienen“10 und „Gott wird mit dir sein für immer und immer“11.

Sie alle wussten, was auch Nephi erkannt hatte: Obwohl sie im Laufe ihres Lebens viele Bedrängnisse erlebt hatten, hatte der Herr ihnen viel Gunst erwiesen.

Auch wir können als Mitglieder und als Kirche Parallelen dazu ziehen, denn auch uns hat der Herr in der schwierigen Zeit in den letzten Monaten viel Gunst erwiesen. Mögen die folgenden Beispiele auch Ihr Zeugnis davon stärken, dass unser lebender Prophet ein Seher ist und dass er uns durch Anpassungen auf diese Zeit vorbereitet hat, noch bevor die Pandemie zu erahnen war, und uns dadurch in die Lage versetzt hat, die derzeitigen Schwierigkeiten zu ertragen.

Erstens steht die Familie mehr im Mittelpunkt und wird von der Kirche unterstützt.

Vor zwei Jahren sagte Präsident Russell M. Nelson: „Wir [sind] es gewohnt, ‚Kirche‘ als etwas zu betrachten, was in unseren Gemeindehäusern stattfindet und von dem, was zuhause geschieht, unterstützt wird. Dieses Muster muss angepasst werden. [Wir brauchen] eine auf das Zuhause ausgerichtete Kirche, die von dem, was in [unseren] Gebäuden … geschieht, unterstützt wird.“12 Welch prophetische Anpassung! Das Lernen des Evangeliums in der Familie wurde in die Tat umgesetzt, als die Gemeindehäuser vorübergehend geschlossen waren. Selbst jetzt, da sich die Welt allmählich normalisiert und wir in die Gemeindehäuser zurückkehren, möchten wir, dass das Evangelium weiterhin in der Familie studiert und gelernt wird, wie wir uns das während der Pandemie angewöhnt haben.

Ein zweites Beispiel dafür, dass der Herr uns viel Gunst erweist, ist die Offenbarung hinsichtlich dessen, dass wir uns um andere auf edlere und heiligere Weise kümmern müssen.

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Beispiel für Betreuung

2018 stellte Präsident Nelson eine Anpassung „an der Art und Weise [vor], wie wir uns umeinander kümmern“13 – nämlich das Betreuen. Die Pandemie hat uns zahlreiche Gelegenheiten geschenkt, uns beim Betreuen zu verbessern. Betreuende Brüder und Schwestern, junge Damen und junge Männer sowie andere haben Kontakt gehalten, sich mit den zu Betreuenden unterhalten, bei der Gartenarbeit geholfen, Essen gebracht, Mitteilungen verschickt und denjenigen, die darauf angewiesen waren, das Abendmahl gebracht. Auch die Kirche selbst hat sich während der Pandemie anderer angenommen: Sie hat in beispiellosem Maße Lebensmittel und Bedarfsgüter an Tafeln, Obdachlosenheime und Einrichtungen für Immigranten gespendet sowie Projekte durchgeführt, um bei den weltgrößten Hungerkatastrophen Abhilfe zu schaffen. Schwestern in der Frauenhilfsvereinigung und ihre Familien sind dem Aufruf gefolgt, Millionen von Masken für medizinisches Personal anzufertigen.

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Humanitäre Projekte
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Anfertigung von Schutzmasken

Ein letztes Beispiel für Segnungen inmitten von Bedrängnissen besteht darin, dass wir bei der Rückkehr zu den Tempelverordnungen mehr Freude verspüren werden.

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Sister Kaitlyn Palmer

Das lässt sich am besten mit einer Geschichte veranschaulichen. Als Kaitlyn Palmer im April ihre Missionsberufung erhalten hatte, freute sie sich darüber, dass sie als Missionarin berufen worden war. Sie hielt es aber für ein ebenso wichtiges und besonderes Erlebnis, in den Tempel zu gehen, ihr Endowment zu empfangen und heilige Bündnisse zu schließen. Kurz nachdem sie einen Termin für ihr Endowment vereinbart hatte, wurde angekündigt, dass aufgrund der weltweiten Pandemie alle Tempel vorübergehend geschlossen würden. Nach dieser herzzerreißenden Nachricht erfuhr sie dann, dass sie die Missionarsschule virtuell von zuhause aus besuchen würde. Trotz dieser Enttäuschungen konzentrierte sich Kaitlyn darauf, sich eine positive Einstellung zu bewahren.

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Sister Kaitlyn Palmer besucht die Missionarsschule virtuell

In den darauffolgenden Monaten verlor Sister Palmer nie die Hoffnung darauf, in den Tempel gehen zu können. Ihre Familie fastete und betete dafür, dass die Tempel noch vor ihrer Abreise geöffnet würden. Kaitlyn stellte sich morgens bei ihrem virtuellen Unterricht oft die Frage: „Ist heute der Tag, da ein Wunder geschieht und die Tempel wieder geöffnet werden?“

Am 10. August kündigte die Erste Präsidentschaft an, dass Kaitlyns Tempel ab genau dem Tag wieder für heilige Handlungen an Lebenden geöffnet sein werde, an dem sie frühmorgens in ihr Missionsgebiet fliegen sollte. Sie würde es also nicht schaffen, in den Tempel zu gehen und zugleich auch ihren Flug zu erreichen. Mit wenig Hoffnung auf Erfolg kontaktierte ihre Familie Tempelpräsident Michael Vellinga, um herauszufinden, ob es irgendwie möglich sei, dass das Wunder, um das sie gebetet hatten, wahr werde. Ihr Fasten und Beten wurde erhört!

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Familie Palmer beim Tempel

Um 2 Uhr nachts, wenige Stunden vor ihrem Abflug, hatten Sister Palmer und ihre Familie Tränen in den Augen, als sie am Tempeleingang von dem lächelnden Tempelpräsidenten mit den Worten begrüßt wurden: „Guten Morgen, Familie Palmer. Willkommen im Tempel!“ Nach der Endowmentsession mussten sie sich beim Hinausgehen beeilen, da bereits die nächste Familie am Eingang wartete. Sie fuhren direkt zum Flughafen, und Kaitlyn erreichte gerade noch den Flug in ihr Missionsgebiet.

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Sister Palmer am Flughafen

Jetzt, da die Tempel rund um die Welt stufenweise wieder geöffnet werden, gehen uns die Tempelverordnungen, die wir ja monatelang vermisst haben, mehr denn je zu Herzen.

Abschließend bitte ich Sie, den ermutigenden, begeisterten, aufbauenden Worten des Propheten Joseph Smith zu lauschen. Man würde nie denken, dass er sie in Bedrängnis und Isolation geschrieben hat, als er sein Haus in Nauvoo nicht verlassen durfte, mit Einschränkungen leben musste und sich vor denen versteckt hielt, die ihn gesetzwidrigerweise verhaften wollten:

„Und nun, was vernehmen wir in dem Evangelium, das wir empfangen haben? Eine Stimme der Freude! Eine Stimme der Barmherzigkeit vom Himmel und eine Stimme der Wahrheit aus der Erde; frohe Nachricht für die Toten; eine Stimme der Freude für die Lebenden und die Toten; frohe Nachricht von großer Freude. …

Sollen wir in einer so großen Sache nicht vorwärtsgehen? Geht vorwärts und nicht rückwärts! Mut … und auf, auf zum Sieg! Lasst euer Herz sich freuen und überaus froh sein. Lasst die Erde in Gesang ausbrechen.“14

Brüder und Schwestern, ich glaube, eines Tages wird jeder von Ihnen auf die abgesagten Veranstaltungen, die Traurigkeit, Enttäuschungen und Einsamkeit zurückblicken, die mit der derzeitigen schwierigen Zeit verbunden sind, und erkennen, dass all dies von erhabenen Segnungen, vermehrtem Glauben und einem stärkeren Zeugnis überragt wird. Ich glaube, dass Ihnen Ihre Bedrängnisse – Ihr Ammoniha, Ihr Gefängnis zu Liberty – in diesem Leben und im künftigen Leben zum Gewinn geweiht werden.15 Ich bete, dass wir wie Nephi die Bedrängnisse im Laufe unserer Tage betrachten, aber gleichzeitig auch erkennen, dass uns vom Herrn viel Gunst erwiesen wurde.

Ich schließe mit meinem Zeugnis von Jesus Christus, der mit Bedrängnissen gut vertraut war. Ein Teil seines unbegrenzten Sühnopfers ist, dass er unter alles hinabgefahren ist.16 Er versteht unser Leid, unseren Schmerz und unsere Verzweiflung. Er ist unser Erretter, unser Erlöser, unsere Hoffnung, unser Trost und unser Befreier. Das bezeuge ich in seinem heiligen Namen, Jesus Christus. Amen.