2020
Die Antworten auf einen nie gesendeten Brief
September 2020


Die Antworten auf einen nie gesendeten Brief

Der Brief steckte in der Tasche, in der ich die heiligen Schriften aufbewahrte, und ich öffnete ihn. Ich bin so froh, dass ich ihn nie abgeschickt habe!

Bild
scripture case

Illustration von David Green

Meine lieben Eltern bekamen innerhalb kurzer Zeit vier Söhne und mich, ihre einzige Tochter. Wir Geschwister standen einander sehr nahe, auch wenn der Altersunterschied ohnehin nicht groß war. Wir unterstützten einander und haben viele schöne Erinnerungen an die gemeinsam verbrachte Kindheit. Wir waren immer gute Freunde.

Deshalb brach es mir das Herz, als einer meiner Brüder sich das Leben nahm. Ich dachte schon, ich würde diesen Schmerz innerlich niemals verkraften – wobei Schmerz nicht das richtige Wort ist. Das blanke Entsetzen, wenn man einen geliebten Menschen durch Selbstmord verliert, lässt sich nicht in Worte fassen. Das Leben gerät völlig aus den Fugen.

Ich stützte mich auf den Herrn, damit ich es schaffte, mich um meine Familie zu kümmern und meinen sonstigen Aufgaben nachzukommen, während Fragen zum Freitod meines Bruders mir das Herz zerrissen.

Als ich den Herrn um Hilfe bat, hatte ich die Eingebung, ich solle meine Fragen in einem Brief an den Propheten richten. Ich glaubte wirklich, meine Fragen wären so schwerwiegend und allgemeingültig, dass nur ein Prophet sie beantworten könne, aber ich wusste auch, dass es wahrscheinlich nicht nötig war, deswegen dem Propheten einen Brief zu schicken. Ich zögerte, aber dann erinnerte ich mich daran, dass es bisher immer gut gewesen war, wenn ich auf eine Eingebung reagiert hatte.

Ich setzte mich also hin und schrieb weinend einen Brief an Präsident Russell M. Nelson. Ich schilderte, wie mir zumute war und dass ich unbedingt Antwort auf die Fragen brauchte, über die ich mir den Kopf zerbrach. Ich unterschrieb den Brief, steckte ihn in einen an Präsident Nelson adressierten Umschlag und steckte ihn in die Tasche, in der ich meine heiligen Schriften aufbewahrte.

Dann vergaß ich den Brief. Etwas später fand ich ihn dort wieder und öffnete ihn. Als ich den Brief las, wurde mir klar, dass der Heilige Geist mich durch Glauben, Schriftstudium, Gebet, Tempelbesuche und Geduld zu einer Antwort auf jede einzelne Frage geführt hatte, die ich aufgeschrieben hatte. Ich fühlte mich dem Erretter und seiner Liebe sehr nahe.

Ich bin so froh, dass ich den Brief nicht abgeschickt habe. Stattdessen habe ich wichtige Erfahrungen gesammelt, die mir vermitteln, dass der Herr mich und alle seine Kinder liebhat und dass er uns führt und leitet.

Vorher hatte ich gemeint, meine Fragen wären so vielschichtig, dass nur ein Prophet sie beantworten könne, aber ich habe mich selbst von der Wahrheit der Worte des Erretters überzeugt: „Ich werde euch nicht als Waisen zurücklassen, ich komme zu euch.“ (Johannes 14:18.)