2016
Die Kraft, durchzuhalten
October 2016


Die Kraft, durchzuhalten

Die Verfasserin lebt in Utah.

Nicht nur mein gebrochenes Bein, auch mein gebrochenes Herz brauchte Heilung. Hoffnung war mein Beistand.

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crashed car

Etwa einen Monat vor meinem 16. Geburtstag machte meine Familie eine Autoreise durch die USA, um einige historische Stätten der Kirche zu besuchen. Es machte mir nichts aus, so viel Zeit im Auto zu verbringen, weil wir als Familie immer viel Spaß zusammen hatten. Ich weiß noch, wie wir wieder ins Auto einstiegen, nachdem wir uns Winter Quarters in Nebraska angesehen hatten. Es regnete in Strömen. Ich setzte mich auf den Rücksitz, nahm mir eine Decke, kuschelte mich ein und lauschte dem Regen. Bald war ich eingeschlafen.

Das Nächste, woran ich mich erinnern kann, war das Gefühl, dass sich alles wie verrückt drehte. Ich erfuhr später, dass unser Auto auf der nassen Straße die Bodenhaftung verloren hatte und in den Zementpfeiler unter einer Überführung gekracht war. Ich erinnere mich vage daran, dass jemand zu mir sagte, mein Bein sei gebrochen und ich müsse operiert werden.

Als ich mich wenig später im Krankenhaus von meinen Verletzungen erholte, kam mein Vater ins Zimmer. Er setzte sich neben mich aufs Bett und nahm meine Hand. Irgendwie hatte ich das Gefühl, ich wisse schon, was er mir sagen wollte.

„Liebes“, sagte er, „weißt du, wo du bist?“

„Im Krankenhaus“, antwortete ich.

„Weißt du, was passiert ist?“

„Wir hatten einen Autounfall.“

„Hat dir schon jemand gesagt, wie es dem Rest der Familie geht?“

Ich zögerte und antwortete dann: „Nein.“

Er sagte, dass alle wieder auf die Beine kommen würden – außer meiner Mutter. Sie war ihren Verletzungen erlegen.

Ich dachte, ich werde nun sofort von Traurigkeit überwältigt, aber es war anders. Im ersten Schock spürte ich aus irgendeinem Grund Frieden, ein sanftes Gefühl, dass ich auf Gott vertrauen kann und alles in Ordnung kommen wird.

Dort im Krankenhaus musste ich an eine historische Stätte der Kirche denken, die wir zwei Tage vor dem Unfall besucht hatten: Martin’s Cove in Wyoming. An diesem Ort waren viele Pioniere verhungert oder erfroren, weil sie dem Schnee und der Kälte schutzlos ausgesetzt waren. Ich erinnerte mich an die Steine, die auf die Gräber gestapelt waren, und dachte darüber nach, wie viel Glauben es von den übrigen Pionieren erfordert haben musste, ihren Handkarren wieder aufzunehmen und weiterzugehen. Diese Geschichte beeindruckte mich sehr. Als ich darüber nachdachte, war mir klar, dass die Pioniere durchgehalten hatten und dass auch ich durchhalten und für meine jüngeren Geschwister stark bleiben musste.

Das anfängliche Gefühl von Frieden begleitete mich die nächsten anderthalb Wochen. Als ich am 4. Juli im Rollstuhl von meinem Krankenhausfenster aus dem Feuerwerk zusah, wurde mir schlagartig bewusst: Meine Mutter ist nicht mehr da. Sie wird nicht bei meinem Higschool-Abschluss dabei sein. Sie wird nicht dabei sein, wenn ich mein Endowment im Tempel empfange. Sie wird nicht bei meiner Hochzeit dabei sein. Sie ist nicht mehr da.

Ab diesem Zeitpunkt wurde alles sehr schwer. Mein Bein tat furchtbar weh, und ich hatte keinen Appetit. Ich sah fern, ohne etwas wahrzunehmen, und ich schlief die meiste Zeit. Meine Familie machte sich Sorgen um mich, weil ich kaum weinte.

Die Tränen flossen reichlicher, als wir endlich nach Oregon in unser leeres Haus zurückkehrten. Auf einmal musste ich einige der Aufgaben meiner Mutter übernehmen, und meine Geschwister suchten oft bei mir Trost. Ich versuchte, für sie stark zu sein. Das war jedoch nicht leicht.

Wieder in die Schule zu gehen war sehr schwer. Alle hatten von dem Unfall gehört und wenn nicht, erfuhren sie davon, als meine Lehrer mich als das Mädchen vorstellten, das den Unfall erlebt hatte. Ich fühlte mich völlig allein.

Es wurde besonders schwer, als mein Vater neun Monate nach dem Tod meiner Mutter wieder heiratete. Ich wusste, dass meine Stiefmutter unserer Familie guttun würde und dass wir sie brauchten, aber dennoch war die Umstellung schwierig.

In dieser Zeit war aber nicht alles nur düster. Ich fühlte mich oft sehr geliebt – von meinem Vater im Himmel, meiner Familie und Führern in der Kirche. Ganz Einfaches zu tun, was meinen Glauben stärkt – das half mir nach meinem Unfall, Heilung zu finden und weiterzumachen. Jeden Abend zog ich mich vor dem Zubettgehen eine Stunde in eine kleine Kammer zurück, las in den Schriften, betete und schrieb Tagebuch. Dort war ich ganz für mich und musste nicht für meine Geschwister stark sein. Ich konnte so viel weinen, wie ich wollte, und Gott mein Herz ausschütten. Ich erzählte ihm ganz offen, was ich fühlte und wie sehr ich meine Mutter vermisste. Ich wusste, dass er mich hörte, weil ich oft seine liebevolle Barmherzigkeit verspürte. Diese kleine Kammer wurde für mich zu einem heiligen Ort.

An den einfachen Gewohnheiten festzuhalten, half mir, Gott nahezubleiben, anstatt ihn wegzustoßen und verbittert zu werden. Ich deutete den Unfall nicht so, als hätte Gott meiner Familie weh tun wollen. Ich hatte mehr Kraft, geduldig zu sein, mich seinem Willen zu fügen und auch an harten Tagen weiter vorwärtszustreben. Und es gab einige sehr harte Tage.

Nachdem mein Vater wiedergeheiratet hatte, wollte ich meinen Geschwistern ein gutes Beispiel geben. Ich wollte auf keinen Fall schlechte Gefühle gegen meine Stiefmutter hegen, also setzte ich mein Vertrauen weiterhin in Gott. Bei einem Ziel im Programm Mein Fortschritt geht es darum, das Familienleben zu verbessern, indem man zwei Wochen lang das Verhältnis zu einem Familienmitglied stärkt. Im Grunde soll man sich bemühen, wie Christus zu sein, und seine Liebe durch Taten zum Ausdruck bringen. Ich beschloss, damit einen Versuch zu machen und etwas für meine Stiefmutter zu tun.

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helping with the dishes

In unserer großen Patchworkfamilie fiel jede Menge Abwasch an. Damit fing ich also an. Als ich meiner Stiefmutter auf diese Weise zwei Wochen lang half, stellte ich fest, dass es mir gegeben wurde, sie liebzuhaben und geduldig zu sein, auch wenn ich mit der ganzen Situation nicht gerade glücklich war. Mich einfach darauf zu konzentrieren, etwas für sie zu tun, half mir durch schwere Zeiten, weil ich den Heiligen Geist bei mir hatte.

Ich verstehe immer noch nicht ganz, warum meiner Familie dieser Unfall zustieß, und manche Tage sind immer noch sehr schwer. Aber wie die Pioniere setze ich mein Vertrauen in Gott, und er gibt mir die Kraft, durchzuhalten.