2016
Mein Aufwachraum
Februar 2016


Mein Aufwachraum

Die Verfasserin lebt in Utah.

Meine Mutter war diejenige, die krank war. Doch auch ich brauchte Heilung.

Bild
Composite of a young women sitting in an chair reading the scriptures in front of a window with curtains

Hintergrundfoto von hxdbzyxy/iStock/Thinkstock

Als ich 17 Jahre alt war, wurde bei meiner Mutter Brustkrebs diagnostiziert. Für meine Familie war das ein schwerer Schock, der mich dazu brachte, mich hinzuknien und inbrünstig zu beten. Ich weinte beinahe eine Stunde lang und fragte Gott, warum er das zuließ und ob er meine Mutter heilen würde. Als ein paar Tage später die Mitglieder unserer Gemeinde, Verwandte und Nachbarn von dem Schicksalsschlag erfuhren, erhielten wir Unterstützung. Alle wollten uns zu Hilfe eilen. Man brachte uns Essen vorbei, fand liebe Worte, tat viel für uns. Alle sorgten sich sehr und fühlten mit uns mit. Wir konnten spüren, dass die uns entgegengebrachte Liebe von Herzen kam.

Doch obwohl uns so viel Hilfe zuteilwurde, verfiel ich in schwere Depressionen. Es war mir gleich, was mit mir geschah. Ich hörte auf, das zu tun, was ich gern tat. Ich wurde träge und nachlässig, was meine Pflichten im Haushalt, meine Schulaufgaben und meine Berufung in der Kirche anging. Meine Lage und die mir aufgebürdete zusätzliche Verantwortung empfand ich als große Last. Ich dachte, ich könnte alles selbst erledigen und wäre auf niemandes Hilfe angewiesen.

Der Satan hatte mich schwer in der Mangel und machte mir weis, ich müsse mich überlastet fühlen, Gott wolle, dass ich unglücklich sei, und ich sei ja auch gar nichts Besonderes. Leider glaubte ich das eine Zeit lang sogar. Nirgendwo konnte ich etwas Positives sehen. Ich betrachtete mich nicht als Tochter Gottes. Ich war völlig durcheinander und daher blind für meine vielen Segnungen. Nicht einmal in den Spiegel konnte ich schauen. Schmerz und Kummer hatten von mir Besitz ergriffen.

Zum Glück verbrachte eine gute Freundin viel Zeit mit mir, und auch meine Geschwister unterstützten mich. Ich öffnete mich mehr gegenüber meinen Eltern, sodass auch sie mir gegenüber offener waren. Und doch hatte ich noch immer zu kämpfen.

Meine Mutter tröstete mich so manches Mal, wenn ich niedergeschlagen war. Wenn ich alle Hoffnung schwinden sah, war es schön, mit jemandem reden zu können, der mich aufmunterte. Zwischen den Behandlungen kam sie immer nach Hause. Dann bügelte sie unsere Sachen, kochte etwas, tröstete uns und gab uns Rat. Es erstaunte mich, wie sie diese Prüfungen durchstehen und dennoch so selbstlos sein konnte.

Einmal sprach ich mit ihr über meine Depressionen. Sie meinte, nur weil ich weinte und eingestand, Hilfe zu benötigen, hieße das noch lange nicht, ich sei schwach. Eigentlich hätte ich mich doch um sie kümmern müssen. Stattdessen kümmerte sie sich um mich.

Nach einer der zahlreichen Operationen, die meine Mutter erdulden musste, lag sie einmal im Aufwachraum. Damals konnte ich an nichts anderes denken, als dass ich im Grunde meinen eigenen Aufwachraum brauchte. Ich hatte keine Ahnung, wie ich meine eigene Heilung angehen sollte, aber ich musste etwas tun.

Also begann ich, meine Talente und Fertigkeiten wieder zu pflegen und auch neue zu entwickeln. Ich kochte und machte die Wäsche. Ich ging öfter spazieren, um nachzudenken. Ich übernahm Gesangssolos. Ich spielte mehr Klarinette und Klavier und beherrschte diese Instrumente schließlich besser. Ich las mehr. Ich hörte mehr gute Musik. Ich nahm mir den guten Rat von Führern der Kirche zu Herzen und schöpfte auch aus anderen wertvollen Quellen. Ich kam Gott und meinem Erlöser näher, indem ich für mich allein betete, fastete und mich mit den heiligen Schriften befasste.

Doch noch immer kam es mir vor, als wäre mein Frieden nur von kurzer Dauer. An manchen Tagen war es schwierig, wenn ich mich nach Frieden sehnte, stattdessen aber traurig war. Meine Stimmungsschwankungen nahmen sogar noch zu. Es hatte den Anschein, als hätte meine Reise auf der Suche nach Frieden eben erst begonnen.

Dann ging ich in den Tempel, um mit den anderen Jungen Damen meiner Klasse Taufen für Verstorbene zu verrichten. Während ich im Tempel die heiligen Schriften durchblätterte, dachte ich über meine Probleme nach. Da fiel mein Blick auf Worte über den Erlöser: „Gewiss hat er unsere Schmerzen getragen und unsere Leiden auf sich geladen.“ (Mosia 14:4, siehe auch Jesaja 53:4.)

Kurze Zeit später war das Durcheinander in mir, das mich blind gemacht und mir so viel Schmerz bereitet hatte, ganz und gar verschwunden. Der Herr durchbrach die Finsternis und die Verzweiflung in meinem Herzen und ersetzte sie durch den Frieden des Geistes. Ich verspürte die Klarheit und das Glück, die mir so lange verloren erschienen waren. Ich erkannte, wie sehr ich gesegnet war und wie viel alle für mich und meine Familie getan hatten. Ich erkannte, wie sehr meine Familie, meine Freunde und ich zusammengerückt waren. Ich sah nun in mir selbst eine wunderbare Tochter Gottes.

Dort im Tempel habe ich meinen Aufwachraum gefunden.

Wenn ich auf diese Erfahrung zurückblicke, wird mir klar, dass ich jetzt mehr Einfühlungsvermögen und Mitgefühl denjenigen gegenüber habe, die es weniger gut haben als ich. Ich weiß, wo ich Heilung finde. Das schwierigste Jahr meines Lebens entpuppte sich als das beste meines Lebens.