2015
Die Familienforschung verändert unser Herz und unser Denken
Februar 2015


Die Familienforschung verändert unser Herz und unser Denken

Wenn wir Familienforschung betreiben und für unsere Vorfahren die heiligen Handlungen des Tempels durchführen, wird uns bewusst, wie allumfassend und zugleich individuell Gottes Plan ist.

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Family members looking at family photographs.

Viele Jahre lang musste ich bei jedem Tempelbesuch an meine Ururgroßmutter Hannah Mariah Eagles Harris (1817–1888) denken. Das hatte allerdings nichts mit der stellvertretenden Arbeit im Tempel zu tun.

Vielmehr ist Mariah (wie sie lieber genannt wurde) ein Grund, warum meine Familie überhaupt der Kirche angehört. Sie ließ sich 1840 in England taufen, empfing ihr Endowment in Nauvoo in Illinois, wurde in Winter Quarters in Nebraska an ihren Mann gesiegelt und starb in Utah. Es ging daher nicht um stellvertretende heilige Handlungen für sie, wenn ich im Tempel an sie dachte. Vielmehr dachte ich darüber nach, wie die heiligen Handlungen meine Ururgroßmutter und mich über Zeit und Raum hinweg verbinden.

Ich bin in der gleichen Ortschaft in Utah aufgewachsen, wo sie gelebt hat, und später habe ich auch Winter Quarters in Nauvoo und ihr Heimatdorf in England besucht. Die großen Entfernungen, die sie zurückgelegt hat, und der große Unterschied zwischen ihrem Leben und meinem haben mich sehr beeindruckt.

Aber ungeachtet all dessen, was uns trennt – Zeit, Ort und Lebensumstände –, fühle ich mich mit meiner Ururgroßmutter verbunden, zum einen durch die Siegelung und zum anderen durch das, was ich über ihr Leben weiß. Diese Verbundenheit beleuchtet den eigentlichen Zweck der Familienforschung im Besonderen und dem Gottesdienst im Tempel im Allgemeinen.

Die Beschäftigung mit der Familiengeschichte öffnet uns die Augen für die unermessliche Weite und Erhabenheit der Schöpfung Gottes, unterstreicht aber auch die Barmherzigkeit des Sühnopfers Christi, das sich auf jeden Einzelnen erstreckt.

Man entwickelt mehr Liebe

Der Herr hat verkündet, dass die Welten, die er für seine Kinder geschaffen hat, „unzählbar sind … für den Menschen; aber mir sind alle Dinge gezählt, denn sie sind mein, und ich kenne sie“ (Mose 1:35). Familienforschung und Tempelarbeit geben uns die Gelegenheit, am Erlösungswerk Jesu Christi teilzuhaben.1 Sie tragen auch dazu bei, dass wir mit unserer Familie und unseren Mitmenschen, einfach mit jedem, dem wir begegnen, liebevoller und barmherziger umgehen, denn sie alle sind unsere Brüder und Schwestern.2

Wenn wir an unsere eigenen Vorfahren denken, erkennen wir, wie allumfassend Gottes Plan und seine Schöpfung sind. Der Herr hat einen Ort geschaffen, wo wir geprüft werden und Glauben entwickeln können, aber nur sehr wenige Menschen erhalten die Gelegenheit, im Laufe ihres Erdenlebens die Fülle der Bündnisse Gottes zu empfangen. Die stellvertretende Arbeit zeugt von der Barmherzigkeit des Herrn, der alle seine Kinder liebt und einen Weg dafür bereitet hat, dass alle die vollständigen Segnungen des Evangeliums annehmen können, unabhängig von ihren Lebensumständen auf der Erde (siehe 2 Nephi 26:20-28,32,33).

Außerdem werden wir, wenn wir mehr über das Leben unserer Vorfahren erfahren, daran erinnert, dass nicht alles im Leben glatt läuft, dass es in dieser gefallenen Welt Enttäuschungen und Ungleichheit gibt. Wenn wir ihre Lebensumstände kennenlernen und heilige Handlungen für sie vornehmen, wird uns aber auch bewusst, dass Gottes Liebe wirklich jeden erreicht (siehe Römer 8:38,39).

Meine Ururgroßmutter Mariah war begeistert von dieser Lehre, als sie sie zum ersten Mal hörte. In den Jahren 1840 und 1841, als die ersten stellvertretenden Taufen im Mississippi und im nur teilweise fertiggestellten Nauvoo-Tempel vollzogen wurden, ergriff sie die Gelegenheit, sich für ihre verstorbene Schwester taufen zu lassen, die gestorben war, ehe Missionare nach England kamen.3 Ich bin Mariah nie begegnet, aber wie sie liebe ich meine Geschwister und weiß, dass diese Liebe dank der heiligen Handlungen des Tempels bis über den Tod hinaus fortbesteht. Diese Erkenntnis verbindet uns, und ich fühle mich ihr dadurch sehr viel näher.

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Joseph Smith looking out a window.

Es überrascht nicht, dass der Prophet Joseph Smith vor Freude fast überwältigt war angesichts der wunderbaren und barmherzigen Lehre von der Errettung der Toten, die er als das „herrlichste aller Themen, die zum immerwährenden Evangelium gehören“, (LuB 128:17) bezeichnete. „Lasst die Berge vor Freude jauchzen, und all ihr Täler, ruft laut, und all ihr Meere und trockenen Länder, verkündigt die Wunder eures ewigen Königs! Und ihr Flüsse und Bäche und Rinnsale, fließt voll Freude dahin. Lasst die Wälder und alle Bäume des Feldes den Herrn preisen, und ihr festen Gesteine, weint vor Freude! Und die Sonne, der Mond und die Morgensterne sollen miteinander jubeln, und alle Söhne Gottes sollen vor Freude jauchzen! Und die ewigen Schöpfungen sollen seinen Namen für immer und immer verkünden!“ (LuB 128:23.)4

Wie Mariah, die sich voll Freude für ihre Schwester taufen ließ, waren auch andere Mitglieder aus den Anfangstagen überglücklich. Eine von ihnen, Sally Carlisle, schrieb: „Wie herrlich ist es doch, dass wir daran glauben … und uns nun für alle unsere verstorbenen Lieben taufen lassen und sie erretten können – so weit zurück, wie wir sie ausfindig machen können.“5

Für alle – und für den einen

Wie diese Betrachtungen zeigen, wird der ungeheure Umfang der Familienforschung dadurch gemäßigt, dass es um den Einzelnen geht. Man erkennt neben der Unermesslichkeit auch die Tiefe der Liebe Gottes, der um jeden Einzelnen besorgt ist. Der Herr, der jeden Spatz zur Erde fallen sieht und nach dem einen verlorenen Lamm aus einer Herde von hundert Schafen sucht (siehe Matthäus 10:29; Lukas 15:4), erlöst uns nicht en masse, sondern einen nach dem anderen – so, wie er sich während seines irdischen Wirkens der Menschen angenommen hat und wie er beim Tempel im Land Überfluss die Menschen gesegnet hat (siehe 3 Nephi 17).

Dementsprechend hat der Herr die Mitglieder in den Anfangstagen angewiesen, über die stellvertretende Arbeit für jeden Einzelnen äußerst sorgfältig Bericht zu führen (siehe LuB 128:1-5,24). Daher unsere gewissenhaften Anstrengungen, jeden einzelnen Vorfahren zu ermitteln, und nicht nur eine Liste mit Namen. Dieses Werk gewährt uns Einblick in Gottes Barmherzigkeit und Mitgefühl und den Wert jeder einzelnen Seele.

Zudem wachsen uns unsere Vorfahren, ungeachtet ihrer Fehler und Unzulänglichkeiten, ans Herz, wenn wir ihre Lebensgeschichte kennenlernen. Wenn wir erfahren, wie die Wechselfälle des Lebens ihre Entscheidungen beeinflusst haben, sind wir nachsichtiger mit ihnen. Dies sollte uns besser in die Lage versetzen, dieses Mitgefühl auch für die Lebenden zu entwickeln, für unsere Angehörigen und für alle Kinder Gottes. Wenn uns deutlicher bewusst wird, dass alle Menschen – wovon die Mehrheit auf die Erde gekommen ist, ohne die Gelegenheit zu erhalten, die Bündnisse und heiligen Handlungen zu empfangen –, Kinder himmlischer Eltern sind, verstehen wir besser, dass das Leben den Glauben und die innere Stärke eines jeden auf die Probe gestellt, der je gelebt hat. „Gott beurteilt den Menschen danach, wie er das Licht anwendet, das er ihm gibt.“6

Die Beschäftigung mit der Familiengeschichte hat einen läuternden Einfluss, durch den wir mehr Nächstenliebe entwickeln. Wenn uns Menschen ans Herz wachsen, die vor langer Zeit gestorben sind und ganz anders gelebt haben als wir, wird dann nicht deutlich, wie liebevoll und barmherzig Gott uns gegenüber ist? Wächst dann nicht unsere Liebe zu unserer Familie und zu unseren Mitmenschen und sind wir dann nicht nachsichtiger gegenüber ihren Schwächen?

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An old photograph of Mariah Eagles Harris (1817-88).

Wenn andere das einzige bekannte Foto von meiner Ururgroßmutter Mariah sehen, äußern sie sich oft dazu, wie grimmig oder unfreundlich sie darauf aussieht. Ich verteidige sie sofort, weil ich sie kenne. Ich weiß, dass sie als junges Mädchen und als Mutter mit ihren kleinen Kindern am Severn entlangspaziert ist. Ich weiß, dass sie den Ozean überquert hat und auf dieser Überfahrt ihr viertes Kind zur Welt gebracht hat. Ich weiß, dass sie ihren Mann in den Krieg ziehen lassen musste und dass während seiner Abwesenheit eines ihrer kleinen Kinder gestorben ist. Ich weiß, dass sie auf dem Weg in die neue Heimat in der Wüste im Westen Amerikas tausend Meilen zu Fuß zurückgelegt hat. Ich weiß, dass sie gearbeitet und Bündnisse geschlossen, den Boden bestellt und Liebe empfunden hat. Und weil ich das weiß, erahne ich, wie sehr unsere Eltern im Himmel sie und jedes ihrer Kinder lieben.

Die unermessliche Weite und die barmherzige Sorge um den Einzelnen

Bei der Familienforschung geht es im Grunde nicht um die Nutzung des Computers und auch nicht darum, alte Handschriften zu entziffern oder gewissenhaft Aufzeichnungen zu führen. Dies sind nur Werkzeuge oder Aufgaben im Rahmen der Familienforschung, aber nicht der eigentliche Zweck. Und sie erklären auch nicht, warum die Heiligen der Letzten Tage so viel Wert darauf legen, nach ihren Vorfahren zu forschen. Der eigentliche Zweck der Familienforschung macht uns die unermessliche Weite der Schöpfung und der Erlösung bewusst, erinnert uns aber zugleich an die Barmherzigkeit des Sühnopfers Christi, das sich auf jeden Einzelnen erstreckt.

Unser Herz und unser Denken verändern sich, wenn wir nach unseren Vorfahren forschen und uns bewusst wird, dass all diese Menschen – „so zahllos wie der Sand am Meeresstrand“ (Mose 1:28) – Kinder himmlischer Eltern sind, von denen sie geliebt werden und die sie kennen. Kein Wunder, dass Joseph Smith den Eingang ins celestiale Reich als ein Tor von alles übersteigender Schönheit beschreibt (siehe LuB 137:2). Denn was könnte schöner sein als mit den Menschen, die wir kennen und lieben, errettet zu werden, die wie wir durch Gottes umfassende und persönliche Liebe erlöst worden sind? Ich freue mich darauf, meiner Ururgroßmutter Mariah an diesem Tor zu begegnen.

Anmerkungen

  1. Siehe Lehren der Präsidenten der Kirche: Joseph Smith, Seite 526

  2. Elder Russell M. Nelson hat erklärt, dass eine Aufgabe des Geistes des Elija – einer Manifestation des Heiligen Geistes – darin besteht, vom göttlichen Wesen der Familie Zeugnis zu geben. Dies bezieht sich sowohl auf das göttliche Wesen unserer irdischen Familienbeziehungen als auch auf das göttliche Wesen und Potenzial aller Kinder Gottes. Siehe Russell M. Nelson, „Eine neue Erntezeit“, Der Stern, Juli 1998, Seite 37; siehe auch Richard G. Scott, „Freude an der Erlösung der Toten“, Liahona, November 2012, Seite 93.

  3. Mariah Harris getauft für Schwester Edith Eagles, 1841, The Church of Jesus Christ of Latter-day Saints, Nauvoo Proxy Baptism Records [Aufzeichnungen über stellvertretende Taufen], 1840–1845, Genealogisches Archiv der Kirche USA/Kanada, Film 485753, 2. Stück, Band A, Seite 42

  4. Eine ausführliche Erörterung der Frage, inwiefern Todesfälle in der Familie Smith die Suche von Joseph Smith nach Antworten zur Errettung der Toten beeinflusst haben, ist zu finden in Richard E. Turley Jr., „The Latter-day Saint Doctrine of Baptism for the Dead“ (Fireside zum Thema Familienforschung, BYU, 9. November 2001), familyhistory.byu.edu

  5. Sally Carlisle, zitiert von Steven Harper, Making Sense of the Doctrine and Covenants: A Guided Tour through Modern Revelations, 2008, Seite 470f.

  6. Lehren: Joseph Smith, Seite 450; siehe auch Deuteronomium 8:2; Moroni 7:16; Lehre und Bündnisse 76:41,42; 127; 137:7-9; Abraham 3