2011
Was es heißt, auf eigenen Füßen zu stehen
Juni 2011


Was es heißt, auf eigenen Füßen zu stehen

Viele Mitglieder meinen vielleicht, das Wohlfahrtsprogramm sei dazu da, Mitgliedern zu helfen, die vorübergehend in einer schwierigen Situation sind. Doch der Zweck des Wohlfahrtsplans der Kirche ist weitaus umfassender. Es geht auch darum, Eigenständigkeit als eine Lebensweise zu fördern. Präsident Thomas S. Monson sagte, dass Eigenständigkeit – „die Fähigkeit, die Entschlossenheit und das Bemühen, sich selbst und seine Familie mit allem Lebensnotwendigen zu versorgen“1 – ein wesentliches Element unseres zeitlichen und geistigen Wohlergehens ist.2

Der bloße Wunsch, eigenständig zu werden, reicht aber nicht aus. Wir müssen uns bewusst und aktiv darum bemühen, für all das zu sorgen, was wir selbst und unsere Familie benötigen. Bischof H. David Burton, der Präsidierende Bischof, erinnert uns daran, dass wir, nachdem wir alles getan haben, was möglich ist, um eigenständig zu sein, uns „vertrauensvoll an den Herrn wenden und ihn um das bitten [können], was noch fehlt.“3 Eigenständigkeit ermöglicht es uns auch, anderen zu helfen. Elder Robert D. Hales vom Kollegium der Zwölf Apostel hat gesagt: „Nur wenn wir selbständig sind, können wir Jesus Christus wahrhaft darin nacheifern, anderen zu dienen und ihnen ein Segen zu sein.“4

Zur Eigenständigkeit gehören verschiedene Aspekte eines ausgewogenen Lebens, darunter 1.) Bildung und Ausbildung, 2.) Gesundheit, 3.) berufliche Tätigkeit, 4.) eigene Herstellung und Vorratshaltung, 5.) Finanzen und 6.) geistige Kraft.

1. Bildung und Ausbildung

Der Herr hat uns geboten: „Trachtet nach Wissen, ja, durch Studium und auch durch Glauben.“ (LuB 88:118.) Präsident Gordon B. Hinckley (1910–2008) hat gesagt: „Bildung ist uns sehr wichtig. Diese Kirche fördert Bildung. Jedem Mitglied dieser Kirche obliegt es, sich im Auftrag des Herrn so viel Bildung wie möglich anzueignen. … Jeder Heilige der Letzten Tage ist durch das Wort des Herrn verpflichtet, seinen Verstand und seine Hände zu schulen.“5

Das Ziel, sich Bildung anzueignen, hatte auch Roberto Flete Gonzalez aus der Dominikanischen Republik, der sich kurz nach der Rückkehr von seiner Mission am College einschrieb. Sein Vater wollte die Kosten für seinen Lebensunterhalt übernehmen, damit Roberto sich auf das Studium konzentrieren konnte, doch bald darauf starb Robertos Vater, und die Familie blieb in einer finanziell problematischen Lage zurück.

Roberto brach das Studium ab und suchte sich Arbeit, um für sich, seine Mutter und seine Schwester zu sorgen. Er fragte sich, wie er jemals sein Studium beenden sollte.

Ein paar Wochen später kündigte Präsident Hinckley den Ständigen Ausbildungsfonds an, „ein kühnes Unterfangen“, durch das junge Menschen in Entwicklungsländern sich „aus der Armut befreien“ können, „in der sie und Generationen vor ihnen gelebt haben“.6 Roberto beantragte ein Darlehen aus diesem Fonds, und es wurde ihm bewilligt. So konnte er sein Studium fortsetzen. Dies war nicht nur eine kurzfristige finanzielle Hilfe. Vielmehr entwickelte Roberto dadurch auch genügend Glauben, um zu heiraten und eine ewige Familie zu gründen, wusste er doch, dass er seine Familie ernähren konnte.

Roberto schloss sein Medizinstudium erfolgreich ab. Nebenbei war er Bischof. Er war das erste Mitglied der Kirche, das dem Landesvorstand der medizinischen Fakultäten in der Dominikanischen Republik angehörte. Doch das Beste hat sich daraus für seine Familie ergeben, meint er. „In meiner Familie hat sich viel geändert. Wir sind vom Teufelskreis der Armut viel weiter entfernt“, erklärt er. „Ich bin dankbar, dass mein Sohn anders aufwächst als ich, weil ich aus diesem Teufelskreis ausbrechen konnte.“

2. Gesundheit

Da wir als Abbild Gottes erschaffen sind (siehe Genesis 1:27), ist unser Körper ein Tempel, auf den wir sorgsam achten sollen (siehe 1 Korinther 3:16,17).

Das Wort der Weisheit, das in Lehre und Bündnisse 89 steht, ist das Gesundheitsgesetz des Herrn, das Joseph Smith im Jahr 1833 offenbart wurde. Darin heißt es, dass wir uns gesund ernähren und schädliche Substanzen meiden sollen. Seit damals haben Apostel und Propheten wiederholt darüber gesprochen, dass wir jegliche Substanz oder Verhaltensweise meiden sollen, die Körper oder Geist schadet und zu einer Sucht führen kann.7

Sainimere Balenacagi aus Fidschi lernte diese Lektion schon als Jugendliche, als sie einmal mit Freunden, die nicht der Kirche angehörten, bei einer Hochzeitsfeier war. Auf der Feier wurde viel getrunken und geraucht, und auch Sainimere wurde von ihren Freunden aufgefordert, etwas zu trinken. „Mein ganzes Leben lang hatte man mir beigebracht, nach den Evangeliumsgrundsätzen zu leben, also lehnte ich ohne zu zögern höflich ab“, meint Sainimere.

Sie weiß, dass man nicht nur mit Gesundheit gesegnet wird, wenn man sich an das Wort der Weisheit hält: „Für mich besteht der zusätzliche Schutz darin, dass ich bessere Entscheidungen treffen kann, weil der Heilige Geist bei mir ist. Für mich ist ganz klar, dass unsere Grundsätze unsere Freiheit nicht einschränken, sondern uns vor Folgen schützen, die zu weniger Freiheit führen.“

3. Berufliche Tätigkeit

In vielen Gemeinden und Zweigen ist Arbeitssuche das dringlichste Anliegen von Mitgliedern, die sich um Eigenständigkeit bemühen. Die Priestertumskollegien und der Gemeinderat können diesen Mitgliedern helfen. Sie sollen eng mit den Betroffenen zusammenarbeiten und öffentliche Angebote zur Arbeitssuche, Berater, die den Bedürftigen individuell helfen können, sowie Stellenangebote in Erfahrung bringen. Die Stärke von Mitgliedern, die glaubensvoll zusammenarbeiten, um denen zu helfen, die der Hilfe bedürfen, führt in vielen Fällen zu einer guten Anstellung.

In einigen Gegenden der Welt hat die Kirche Arbeitsberatungsstellen eingerichtet. Derzeit gibt es über 300 solcher Einrichtungen in 56 Ländern. Dort werden Leistungen angeboten wie Karriere-Workshops, Netzwerk-Treffen und individuelle Berufsberatung. Auf der neuen Website der Kirche LDSjobs.org (in englischer Sprache) findet man weitere Informationen für Arbeitssuchende, Arbeitgeber und Führungsbeamte der Kirche.

Nachdem Oséias Portinari aus Brasilien seine Arbeit verloren hatte, suchte er über zwei Monate lang nach einer neuen Stelle. Da seine Bemühungen aber erfolglos blieben, arbeitete er ehrenamtlich in der Arbeitsberatungsstelle der Kirche in São Paulo mit. Während er andere bei der Arbeitssuche unterstützte, erweiterte er seine eigenen Fähigkeiten, was Bewerbungsgespräche und die Arbeitssuche anging. Mehrmals nahm er am Karriere-Workshop teil und unterrichte ihn schließlich selbst. Zu seinem Erstaunen bekam Oséias, als er so eifrig damit beschäftigt war, anderen zu helfen, bald Anrufe von möglichen Arbeitgebern, wodurch er eine gut bezahlte Stelle fand.

Oséias ist sehr dankbar für das Hilfsangebot der Kirche, arbeitslosen Mitgliedern einen besseren Ausblick auf das Leben zu vermitteln. Er sagt: „Ich weiß, dass der Herr uns Türen öffnet, wenn wir uns Mühe geben.“

4. Eigene Herstellung und Vorratshaltung

2007 brachte die Kirche die Broschüre Bereitet alles vor, was nötig ist – Vorratshaltung in der Familie heraus, in der einfache Schritte zur Vorratshaltung in der Familie aufgezeigt werden. Die Erste Präsidentschaft rät den Mitgliedern der Kirche in aller Welt, einen Grundvorrat an Nahrungsmitteln und Wasser anzulegen und etwas Geld zu sparen. Zu Beginn können die Mitglieder etwas mehr herstellen oder einkaufen und jede Woche ein wenig Geld zur Seite legen, sofern es die Umstände ermöglichen. So können sie mit der Zeit einen Vorrat und finanzielle Rücklagen aufbauen, die für ihre Ansprüche ausreichen.8

Nachdem Familie Lugo aus Valencia in Venezuela diesen Rat gelesen hatte, begann sie, einen Vorrat anzulegen. Sie fing damit an, Lebensmittel, Wasser und zurückzubehalten, und zwar immer nur ein wenig. Selbst mit ihren begrenzten Mitteln war sie in der Lage, in nur wenigen Monaten einen bescheidenen Vorrat anzuhäufen. Im Laufe des Jahres streikten die Arbeiter in Venezuela, und viele Arbeitsstellen gerieten in Gefahr. Auch Bruder Omar Lugo verlor schließlich seine Arbeit.

Es dauerte fast zwei Jahre, bis Bruder Lugo wieder Arbeit fand. In dieser Zeit jedoch konnten er und seine Familie von ihren Rücklagen und dem Vorrat leben. Trotz der Herausforderungen, die mit der Arbeitslosigkeit verbunden waren, spürten die Lugos Ruhe und Trost, denn sie waren vorbereitet. Sie blickten mit Zuversicht in eine ungewisse Zukunft, weil sie wussten, dass sie den Rat befolgt und nach und nach einen Vorrat angelegt hatten.9

5. Familienfinanzen

Zu einer vorausschauenden Lebensweise gehört auch, Einnahmen und Ausgaben klug zu verwalten. Die Erste Präsidentschaft rät:

„Wir bitten Sie inständig: Seien Sie in Ihren Ausgaben bescheiden, halten Sie sich mit Käufen zurück, und meiden Sie Schulden. …

Wenn Sie Ihre Schulden bezahlt und sich eine finanzielle Reserve geschaffen haben, und sei sie nur klein, fühlen Sie und Ihre Familie sich sicherer und haben größeren Frieden im Herzen.“10

Erfolg in den finanziellen Belangen der Familie fängt damit an, dass man den Zehnten und die sonstigen Spenden zahlt. Wenn die Mitglieder den Herrn an die erste Stelle setzen, sind sie besser in der Lage, für sich selbst und andere zu sorgen.

Zum klugen Umgang mit Geld gehört auch, dass man über seine Einnahmen und Ausgaben Bescheid weiß und seine Finanzen im Griff hat, anstatt die Übersicht zu verlieren. Als Devon und Michaela Stephens aus Arizona zum ersten Mal ein Budget aufstellten, hatten sie nur eine vage Vorstellung davon, wie viel Geld sie jeden Monat ausgaben. Doch als sie ein Budget mit verschiedenen Kategorien aufstellten, hörten sie auf, „zu träumen und kamen auf den Boden der Tatsachen zurück“, berichtet Michaela. „Es war erschreckend, als wir merkten, dass wir weniger Geld hatten, als wir dachten, aber wir fanden es auch höchst erfreulich, dass wir die Sache nun fest im Griff hatten.“

6. Geistige Stärke

Eine geistige Gesinnung ist für unser zeitliches und ewiges Wohlergehen unentbehrlich. Jeder erlebt Prüfungen. Wenn wir uns darum bemühen, geistig kräftiger zu werden, können wir diese Prüfungen gut bestehen und auf bessere Tage hoffen.

Nirina Josephson-Randriamiharisoa aus Madagaskar lebt momentan in Frankreich, um dort ihre Ausbildung fortzusetzen. Anfangs fühlte sie sich sehr einsam und hatte großes Heimweh. „Ich suchte Trost im Gebet, im Schriftstudium und in den sanften Einflüsterungen des Heiligen Geistes“, erzählt Nirina. „Dadurch kam ich dem Vater im Himmel und dem Heiland näher und spürte inneren Frieden.“

Mit der Zeit lernte Nirina neue Freunde kennen, unternahm vieles innerhalb und außerhalb der Kirche und wurde wieder glücklich. Doch dann wurde ihre Welt von schlimmen Nachrichten aus ihrer Heimat erschüttert. „Eines Morgens erhielt ich die Nachricht, dass mein Bruder gestorben war. Ich wusste gar nicht, dass man so große Trauer empfinden konnte. In den darauffolgenden Tagen und Wochen kämpfte ich immer wieder mit meiner Einsamkeit, Wut und Verzweiflung. Selbst die alltäglichsten Dinge konnte ich kaum bewältigen.“

Ein paar Monate später verstarb eine gute Freundin. Dieser neuerliche Kummer machte die Last noch schwerer. Einen Moment lang spielte Nirina mit dem Gedanken, nicht mehr in die Kirche zu gehen, aber dann dachte sie daran, dass gerade das, was ihr bei ihren anfänglichen Schwierigkeiten Auftrieb gegeben hatte, ihr jetzt auch Kraft geben konnte.

„Wie damals, als ich in Frankreich angekommen war, suchte ich Trost im Gebet, im Schriftstudium und durch den Heiligen Geist. Dadurch wurde mir viel deutlicher bewusst, welchen Trost uns der Heilige Geist und die Lehre, dass die Familie ewigen Bestand hat, bringen und dass das Sühnopfer Jesu Christi sich wirklich auf unser Leben auswirkt“, erzählt sie.

„Wie unsere Prüfungen auch aussehen mögen, beim Herrn gibt es keine Sackgasse. Sein Plan ist ein Plan des Glücklichseins.“

Anmerkungen

  1. Vorsorge auf die Weise des Herrn – Kurzfassung der Anleitung für Führungsbeamte zum Thema Wohlfahrt, Broschüre, Seite 1

  2. Siehe Thomas S. Monson, „Die Wohlfahrtsgrundsätze – für uns persönlich und für die Familie“, Der Stern, Februar 1987, Seite 3

  3. H. David Burton, „Arbeit bringt Segen“, Liahona, Dezember 2009, Seite 37

  4. Robert D. Hales, „Wohlfahrt aus dem Blickwinkel des Evangeliums: Glaube in die Tat umgesetzt“, in Grundlagen der Wohlfahrt und Selbständigkeit, Broschüre, Seite 2

  5. Teachings of Gordon B. Hinckley, 1997, Seite 724

  6. Gordon B. Hinckley, „Der Ständige Ausbildungsfonds“, Liahona, Juli 2001, Seite 62

  7. Siehe beispielsweise Russell M. Nelson, „Abhängigkeit oder Freiheit“, Der Stern, Januar 1989, Seite 5; M. Russell Ballard, „O welch schlauer Plan des Bösen!“, Liahona, November 2010, Seite 108

  8. Siehe Bereitet alles vor, was nötig ist – Vorratshaltung in der Familie, Faltblatt

  9. Siehe „Vorratshaltung in der Familie – eine neue Botschaft“, Liahona, März 2009, Seite 10ff.

  10. Bereitet alles vor, was nötig ist – die Familienfinanzen, Faltblatt

Ganz links: Schüler, die der Kirche angehören, bemühen sich um eine gute Ausbildung, um dem Wettbewerb, der in der heutigen Welt herrscht, besser gewachsen zu sein. Links: Bewegung und gesunde Ernährung sind wichtig, wenn es darum geht, sorgsam auf unseren Körper zu achten.

Sainimere Balenacagi kennt die zeitlichen und die geistigen Segnungen, die man bekommt, wenn man das Wort der Weisheit befolgt.

Oben, von links: Fotos von John Luke, Israel Antunes und Craig Dimond

Ganz oben: Einer jungen Frau wird in einer Arbeitsberatungsstelle in Mexiko weitergeholfen. Oben: Oséias Portinari ist der Meinung, dass die Arbeitsberatungsstelle in São Paulo in Brasilien „einem arbeitslosen Mitglied eine bessere Perspektive“ gibt.

Familien in der Demokratischen Republik Kongo bauen gemeinsam Maniok als Grundnahrungsmittel an und verarbeiten die Wurzeln zu Mehl für den täglichen Gebrauch und zur Bevorratung.

Links oben: Foto von Welden C. Andersen; rechts oben: Fotos von Howard Collett

Devon und Michaela Stephens berichten, dass sie ihre Finanzen fest im Griff haben, seit sie ein Budget aufstellen.

Nirina Josephson-Randriamiharisoa hat die Erfahrung gemacht, dass man auch in schwierigsten Zeiten Auftrieb erhält, wenn man beständig nach dem Evangelium lebt.

Ganz oben: Foto von Robert Casey