2011
Grundlagen unseres Glaubens
Januar 2011


Grundlagen unseres Glaubens

Wir Heilige der Letzten Tage wissen, dass unsere Lehren und unsere Wertvorstellungen von Menschen, die nicht unseres Glaubens sind, weitgehend nicht verstanden werden. Dies zeigte sich in einer landesweiten Studie von Gary C. Lawrence, die in seinem neuen Buch How Americans View Mormonism [Wie Amerikaner den Mormonismus sehen] veröffentlicht wurde. Drei Viertel der Befragten assoziierten hohe Moralvorstellungen mit der Kirche, aber etwa die Hälfte war der Meinung, wir seien verschlossen und geheimnisvoll und hätten „merkwürdige Glaubensansichten“.1 Als sie gebeten wurden, verschiedene Begriffe zu markieren, die ihrer Meinung nach allgemein auf Heilige der Letzten Tage zutreffen, kreuzten 87 Prozent „legen großen Wert auf die Familie“, 78 Prozent „ehrlich“ und 45 Prozent „blinde Anhänger“ an.2

Als Apostel bin ich berufen, in aller Welt Zeugnis von der Lehre, dem Werk und der Macht Christi abzulegen. In dieser Eigenschaft bezeuge ich, dass diese Grundlagen unseres Glaubens wahr sind.

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Elder Dallin H. Oaks

Als die Interviewer von Lawrence fragten: „Was ist nach Ihrem Verständnis das Hauptanliegen des Mormonismus?“, konnten nur 14 Prozent – und auch nur annähernd – das Konzept der Wiederherstellung des ursprünglichen christlichen Glaubens erklären. Als man gleichermaßen in einer anderen landesweiten Umfrage von den Teilnehmern wissen wollte, welcher Ausdruck die Religion der Mormonen ihrer Meinung nach wohl am besten beschreibe, wurde nicht ein einziges Mal das ursprüngliche oder wiederhergestellte Christentum genannt oder beschrieben.3

Meine Enttäuschung über dieses Ergebnis wird nur unwesentlich durch andere Ergebnisse und Beobachtungen von Lawrence gemildert, nämlich dass Amerikaner im Allgemeinen zwar „tief religiös“, aber beim Thema Religion „völlig unwissend“ seien. Zum Beispiel sagten 68 Prozent, dass sie mindestens ein paar Mal pro Woche beteten, und 44 Prozent gaben an, dass sie fast jede Woche einen Gottesdienst besuchten. Dabei konnte nur die Hälfte gerade einmal eines der vier Evangelien nennen, die meisten wussten nicht, wie das erste Buch der Bibel heißt, und zehn Prozent dachten, Jeanne d’Arc – Johanna von Orleans – sei Noachs Frau.4

Viele Faktoren tragen dazu bei, dass das Thema Religion überwiegend oberflächlich behandelt wird, aber einer ist sicherlich, dass man im Hochschulwesen im Allgemeinen der Religion feindselig oder gleichgültig gegenübersteht. Mit nur wenigen Ausnahmen sind Hochschulen und Universitäten wertfreie Orte geworden, wo die Einstellung gegenüber Religion bestenfalls neutral ist. Studenten und andere religiöse Menschen, die an die Existenz Gottes und an feststehende Moralgrundsätze glauben, werden ins Abseits gedrängt.

Die Hoffnung, dass höhere Bildungseinrichtungen wieder eine Vorreiterrolle bei der Vermittlung sittlicher Werte übernehmen könnten, scheint unrealistisch. Das bleibt der Familie, den Kirchen sowie den kirchennahen Hochschulen und Universitäten überlassen. Alle sollten darauf hoffen, dass diese entscheidende Aufgabe von Erfolg gekrönt wird. Eine Lehranstalt mag sich zwar neutral verhalten, was die Frage betrifft, ob etwas richtig oder falsch ist, aber die Gesellschaft kann in solch einer Neutralität nicht überleben.

Ich habe aus den Evangeliumswahrheiten drei vielschichtige Themenbereiche ausgewählt, um die wesentlichen Glaubensgrundsätze der Heiligen der Letzten Tage darzulegen:

  1. Das Wesen Gottes, einschließlich der Rolle der drei Mitglieder der Gottheit, und die daraus folgende Wahrheit, dass es feststehende Moralgrundsätze gibt.

  2. Der Zweck des Lebens.

  3. Die drei Quellen der Wahrheit über den Menschen und das Universum: die Wissenschaft, die heiligen Schriften und fortlaufende Offenbarung – und wie wir damit vertraut werden können.

1. Das Wesen Gottes

Die erste wesentliche Grundlage für unseren Glauben ist, dass es Gott wirklich gibt und ebenso ewige Wahrheiten und Werte, die durch heutige wissenschaftliche Methoden nicht nachprüfbar sind. Diese Gedanken greifen zwangsläufig ineinander. Wie andere Gläubige auch verkünden wir die Existenz des größten Gesetzgebers, nämlich Gottes, unseres ewigen Vaters, und die Existenz feststehender Moralgrundsätze. Wir lehnen den moralischen Relativismus ab, der nach und nach zum inoffiziellen Glaubensbekenntnis eines Großteils der modernen Kultur wird.

Wir betrachten die Wahrheit über das Wesen Gottes und unsere Beziehung zu Gott als den Schlüssel zu allem anderen. Bezeichnenderweise unterscheidet uns gerade unser Glaube an das Wesen Gottes von den offiziellen Glaubensbekenntnissen der meisten christlichen Glaubensgemeinschaften. Unsere Glaubensartikel beginnen folgendermaßen: „Wir glauben an Gott, den ewigen Vater, und an seinen Sohn, Jesus Christus, und an den Heiligen Geist.“ (1. Glaubensartikel.)

Diesen Glauben haben wir mit der gesamten Christenheit gemein, aber für uns bedeutet es etwas anderes als für die meisten. Wir glauben, dass diese drei Mitglieder der Gottheit drei getrennte und eigenständige Wesen sind und dass Gottvater kein Geist ist, sondern ein verherrlichtes Wesen mit einem fühlbaren Körper, wie auch sein auferstandener Sohn, Jesus Christus. Aber obwohl sie getrennte Personen sind, sind sie doch eins in ihren Absichten. Wir glauben, dass Jesus sich darauf bezog, als er zu seinem Vater betete, dass seine Jünger „eins“ sein sollten, so wie auch Jesus und sein Vater eins seien (Johannes 17:11) – vereint in ihrer Absicht, aber nicht in der Person. Unser besonderer Glaube, dass „der Vater … einen Körper aus Fleisch und Gebein [hat], so fühlbar wie der eines Menschen, ebenso der Sohn; aber der Heilige Geist … keinen Körper aus Fleisch und Gebein [hat], sondern … eine Person aus Geist [ist]“ (LuB 130:22), ist uns sehr wichtig. Gary Lawrences Umfrage zeigt jedoch, dass wir anderen diesen Glauben noch nicht wirksam genug verdeutlicht haben.5

Unser Glaube hinsichtlich des Wesens Gottes rührt von einem Ereignis her, das wir die erste Vision nennen und mit dem die Wiederherstellung der Fülle des Evangeliums Jesu Christi begann. Joseph Smith, ein ungebildeter Junge von vierzehn Jahren, der wissen wollte, welcher Kirche er sich anschließen sollte, hatte eine Vision, in der er „zwei Personen“ von „unbeschreiblicher Helle und Herrlichkeit“ sah. Eine von ihnen deutete auf die andere und sagte: „Dies ist mein geliebter Sohn. Ihn höre!“ (Joseph Smith – Lebensgeschichte 1:17.) Gottes Sohn sagte dem jungen Propheten, alle Glaubensbekenntnisse der Kirchen seiner Zeit seien „in seinen Augen ein Gräuel“ (siehe Joseph Smith – Lebensgeschichte 1:19). Diese göttliche Erklärung verurteilte die Glaubensbekenntnisse, nicht jedoch diejenigen, die sie teilten, weil sie auf der Suche nach der Wahrheit waren.

Joseph Smiths erste Vision zeigte, dass die vorherrschenden Vorstellungen vom Wesen Gottes und der Gottheit falsch waren und ihre Anhänger nicht zu der von Gott gewünschten Bestimmung führen konnten. Die daraufhin offenbarten neuzeitlichen Schriften machten den Stellenwert dieser grundlegenden Wahrheit deutlich und bescherten uns das Buch Mormon. Diese neue heilige Schrift ist ein zweiter Zeuge für Jesus Christus. Das Buch Mormon bestätigt die biblischen Prophezeiungen und Lehren vom Wesen und von der Mission Jesu Christi. Es erweitert unser Verständnis vom Evangelium Jesu Christi und von den Lehren, die Christus im Laufe seines irdischen Wirkens verkündete. Darin finden sich auch viele Lehren und Erläuterungen der Offenbarungen, durch die wir deren Wahrheit erkennen können.

Diese Lehren erklären das Zeugnis, das wir von Christus haben. Unser Fundament ist nicht die Weisheit der Welt oder Menschenphilosophie – auch wenn sie noch so fest verwurzelt oder angesehen ist. Unser Zeugnis von Jesus Christus basiert auf den Offenbarungen Gottes an seine Propheten und an uns persönlich.

Was können wir durch unser Zeugnis von Jesus Christus bestätigen? Jesus Christus ist der einziggezeugte Sohn Gottes, des ewigen Vaters. Er ist der Schöpfer. Durch sein unvergleichliches Wirken auf Erden ist er unser Lehrer. Durch seine Auferstehung werden alle, die jemals gelebt haben, von den Toten auferstehen. Er ist der Erretter, und sein Sühnopfer öffnet uns die Tür zur Vergebung unserer Sünden, damit wir rein gemacht werden und wieder in die Gegenwart Gottes, unseres ewigen Vaters, zurückkehren können. Das ist die zentrale Botschaft der Propheten aller Zeiten. Joseph Smith brachte diese große Wahrheit in unserem dritten Glaubensartikel zum Ausdruck: „Wir glauben, dass durch das Sühnopfer Christi alle Menschen errettet werden können, indem sie die Gesetze und Verordnungen des Evangeliums befolgen.“

Als Mitglieder der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage bezeugen wir gemeinsam mit König Benjamin, einem Propheten aus dem Buch Mormon, „dass kein anderer Name noch irgendein anderer Weg oder ein anderes Mittel gegeben wird, wodurch den Menschenkindern Errettung zuteilwerden kann, als nur im und durch den Namen Christi, des Herrn, des Allmächtigen“ (Mosia 3:17).

Warum ist Christus der einzige Weg? Wie konnte er die Bande des Todes zerreißen? Wie war es ihm möglich, die Sünden der ganzen Menschheit auf sich zu nehmen? Wie können wir, die wir unrein und sündig sind, rein gemacht werden, und wie kann unser Körper durch das Sühnopfer Jesu auferstehen? Diese Geheimnisse verstehe auch ich nicht vollkommen. Das Wunder des Sühnopfers Jesu Christi erfasse ich nicht, aber der Heilige Geist hat mir dessen Wahrheit bezeugt, und ich bin glücklich darüber, dass ich es mein Leben lang verkünden darf.

2. Der Zweck des Erdenlebens

Die zweite wesentliche Grundlage, die ich anführen möchte, betrifft den Zweck des Erdenlebens. Dies rührt von unserem Verständnis der Absichten Gottes, des ewigen Vaters, her und betrifft unsere Bestimmung als seine Kinder. Unsere Glaubenslehre beginnt mit der Zusicherung, dass wir als Geister gelebt haben, bevor wir auf diese Erde kamen. Sie bestätigt, dass unser Erdenleben einen Zweck hat. Und wir lernen daraus, dass es unser höchster Anspruch ist, so zu werden wie unsere himmlischen Eltern, was uns befähigen wird, unsere Familienbeziehungen in Ewigkeit zu bewahren. Wir wurden auf diese Erde gesandt, um einen greifbaren Körper zu erhalten und damit wir uns – durch das Sühnopfer Jesu Christi und durch Gehorsam gegenüber den Gesetzen und Verordnungen seines Evangeliums – bereit machen für den celestialen Zustand der Herrlichkeit und für ebensolche Beziehungen. Das nennt man Erhöhung oder ewiges Leben.

Wir sind bekannt als Kirche, in der die Familie im Mittelpunkt steht. Gemeinhin wird aber nicht verstanden, dass wir uns nicht nur um die Familienbeziehungen auf der Erde kümmern, sondern dass die Familie ein Teil unserer grundlegenden Glaubenslehre ist. In dem großartigen Plan des liebevollen Schöpfers besteht der Zweck seiner Kirche darin, uns dabei zu helfen, Erhöhung im celestialen Reich zu erlangen. Das ist nur möglich durch eine ewige Ehe zwischen einem Mann und einer Frau (siehe LuB 131:1-3).

Meine liebe verwitwete Mutter hatte nie irgendwelche Zweifel daran, dass Familienbeziehungen in Ewigkeit bestehen können. Sie respektierte auch nach dem Tod unseres treuen Vaters immer dessen Stellung in der Familie. Durch sie war er in unserem Zuhause immer gegenwärtig. Sie sprach davon, dass ihre Tempelehe in Ewigkeit Bestand habe und dass es unsere Bestimmung sei, als Familie im nächsten Leben vereint zu sein. Sie ermahnte uns oft, das zu tun, was unser Vater von uns erwartete, damit wir uns würdig erweisen könnten, als Familie für immer vereint zu sein, wie es der Erlöser verheißen hatte. Sie bezeichnete sich niemals als Witwe, und es kam mir niemals in den Sinn, dass sie eine war. Für mich, einen heranwachsenden Jungen, war sie keine Witwe. Sie hatte einen Ehemann, und wir hatten einen Vater. Er war nur für eine Weile fort.

Wir bezeugen, dass die Ehe notwendig ist, um Gottes Plan zu verwirklichen. Sie ist der richtige Rahmen, um sterbliches Leben hervorzubringen. Hier können sich die Familienmitglieder auf das ewige Leben vorbereiten. Die Heiligen der Letzten Tage kennen Gottes Plan und betrachten daher die Themen Ehe und Kinder aus einem ganz anderen Blickwinkel. Für uns ist es Teil von Gottes Plan, dass wir Kinder in die Welt setzen und erziehen. Es ist eine heilige Pflicht für alle, denen es möglich ist, daran teilzuhaben. Wir glauben, dass unser größter Schatz auf der Erde und im Himmel unsere Kinder und unsere Nachkommenschaft sind. Und wir glauben, dass wir Verfechter eines Familientypus sein müssen, der hier auf der Erde die besten Voraussetzungen für die Entwicklung und das Glück der Kinder – aller Kinder – bietet.

Die Macht, sterbliches Leben zu erschaffen, ist die erhabenste Kraft, die Gott seinen Kindern geschenkt hat. Der Gebrauch dieser schöpferischen Kraft wurde schon im ersten Gebot angeordnet: „Seid fruchtbar und vermehrt euch.“ (Genesis 1:28.) In einem anderen wichtigen Gebot wurde ihr Missbrauch verboten: „Du sollst nicht die Ehe brechen“ (Exodus 20:14), und „das bedeutet, dass ihr die Unzucht meidet“ (1 Thessalonicher 4:3). Der Nachdruck, den wir auf das Gesetz der Keuschheit legen, erklärt sich aus unserer Erkenntnis, welchem Zweck unsere Zeugungsfähigkeit dient, nämlich der Verwirklichung des Planes Gottes.

Mit viel politischem, gesetzlichem und gesellschaftlichem Druck werden Veränderungen herbeigeführt, welche die Orientierung der Geschlechter durcheinanderbringen, die Bedeutung der Ehe herunterspielen oder umdeuten oder die Unterschiede zwischen Mann und Frau, die unentbehrlich für Gottes großen Plan des Glücklichseins sind, verwischen. Weil wir alles aus dem Blickwinkel der Ewigkeit sehen, sind wir gegen solche Veränderungen.

Schließlich umfasst unser Verständnis vom Zweck des irdischen Lebens einige besondere Lehren über das Leben nach dem Tod. Wie andere Christen glauben auch wir, dass wir nach dem Tod in den Himmel (Paradies) oder in die Hölle kommen. Aber für uns ist diese Aufteilung in zwei Bereiche für die Rechtschaffenen und für die Schlechten zeitlich begrenzt, solange die Toten auf die Auferstehung und das Jüngste Gericht warten (siehe Alma 40:11-14). Nach dem Jüngsten Gericht gibt es sehr viel mehr verschiedene Bestimmungsorte, und das zeigt, wie groß die Liebe Gottes zu seinen Kindern ist – zu all seinen Kindern.

Gott liebt seine Kinder so sehr, dass er von ihnen verlangt, seine Gesetze zu halten. Denn nur durch diesen Gehorsam können sie zu der ewigen Bestimmung gelangen, die er für sie wünscht. Also werden wir beim Jüngsten Gericht dem Reich der Herrlichkeit zugewiesen, das unserem Gehorsam gegenüber seinem Gesetz entspricht. In seinem zweiten Brief an die Korinther berichtet der Apostel Paulus von der Vision eines Mannes, der „bis in den dritten Himmel entrückt wurde“ (siehe 2 Korinther 12:2). Als Paulus von der Auferstehung der Toten spricht, beschreibt er Körper von verschiedener Herrlichkeit, entsprechend der Herrlichkeit der Sonne, des Mondes und der Sterne. Die beiden ersten bezeichnet er als „Himmelskörper und irdische Körper“ (siehe 1 Korinther 15:40-42). Für uns ist das ewige Leben in der celestialen, also der höchsten Herrlichkeit, nicht eine mystische Verbindung mit einem Gott, der ein unergründliches Geistwesen ist. Vielmehr ist das ewige Leben ein Familienleben mit einem liebevollen Vater im Himmel und mit unseren Vorfahren und unseren Nachkommen.

Die Glaubenslehre des wiederhergestellten Evangeliums Jesu Christi ist umfassend, allgemeingültig, barmherzig und wahr. Nach der unerlässlichen Erfahrung des irdischen Lebens werden alle Söhne und Töchter Gottes schließlich auferstehen und in ein Reich der Herrlichkeit kommen, das schöner ist, als irgendein Sterblicher es sich vorstellen kann. Mit nur wenigen Ausnahmen werden sogar die Schlechten in ein wunderbares – wenn auch geringeres – Reich der Herrlichkeit gelangen. All dies wird geschehen, weil Gott seine Kinder so sehr liebt, und all dies wurde ermöglicht durch das Sühnopfer und die Auferstehung Jesu Christi, „der den Vater verherrlicht und alle Werke seiner Hände errettet“ (siehe LuB 76:43).

3. Quellen der Wahrheit

Die Heiligen der Letzten Tage sind sehr interessiert daran, Wissen zu erlangen. Brigham Young (1801–1877) drückte es am besten aus: „[Unsere] Religion [bewegt uns,] eifrig nach Erkenntnis zu suchen. Es gibt kein anderes Volk, das mehr darauf aus ist, die Wahrheit zu sehen, zu hören, zu lernen und zu verstehen.“6

Ein anderes Mal erklärte er, dass wir unsere Mitglieder dazu anhalten, „an Erkenntnis … zuzunehmen – in jedem Zweig [des Lernens,] denn alle Weisheit und alle Künste und Wissenschaften in der Welt sind von Gott und zum Nutzen seines Volkes bestimmt“.7

Wir streben nach Wissen, aber auf eine besondere Weise, denn wir glauben, dass es zwei verschiedene Arten von Wissen gibt: Fachwissen und geistiges Wissen. Nach fachlichem Wissen streben wir durch wissenschaftlichen Forschungsdrang und nach geistigem Wissen durch Offenbarung. Offenbarung ist die Kommunikation Gottes mit dem Menschen – mit Propheten und mit jedem von uns, der sich darum bemüht.

Offenbarung ist ohne Frage ein charakteristisches Merkmal unseres Glaubens. Der Prophet Joseph Smith wurde Zeit seines Lebens durch stetige Offenbarungen geleitet und aufgerichtet. Die ungeheure Menge seiner veröffentlichten Offenbarungen, einschließlich des Buches Mormon und des Buches Lehre und Bündnisse, ist ein Beleg für seine einzigartige Berufung als Prophet dieser letzten Evangeliumszeit. In diesen prophetischen Offenbarungen – an Joseph Smith und an seine Nachfolger als Präsidenten der Kirche – hat Gott seinen Propheten Wahrheiten und Gebote offenbart, um sein Volk zu erleuchten und um seine Kirche zu regieren und zu leiten.

Dies ist die Art von Offenbarung, von der im Alten Testament gesagt wird: „Nichts tut Gott, der Herr, ohne dass er seinen Knechten, den Propheten, zuvor seinen Ratschluss offenbart hat.“ (Amos 3:7.) Joseph Smith erklärte: „Die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage wurde auf direkter Offenbarung gegründet, so wie es die wahre Kirche Gottes … immer wurde.“8 Er fragte: „Man nehme uns das Buch Mormon und die Offenbarungen, und wo ist unsere Religion?“ Seine Antwort lautete: „Wir haben keine mehr.“9

Dies erklärte Joseph Smith auch deshalb, weil Offenbarungen nicht mit dem Tod der ersten Apostel endeten, sondern bis in die heutige Zeit fortdauern. Jeder kann für sich persönlich Offenbarung empfangen, etwa für seine Bekehrung, um etwas besser zu verstehen oder um eine Entscheidung zu treffen. „Es ist ein Vorzug der Kinder Gottes, zu Gott zu kommen und Offenbarung zu erhalten“, sagte er. „Gott achtet nicht auf die Person; wir haben alle das gleiche Recht.“10

Im Neuen Testament wird solche persönliche Offenbarung beschrieben. Als zum Beispiel Petrus seine Überzeugung, dass Jesus der Sohn des lebendigen Gottes ist, kundtat, erklärte der Erlöser: „Nicht Fleisch und Blut haben dir das offenbart, sondern mein Vater im Himmel.“ (Matthäus 16:17.)

Persönliche Offenbarung – manchmal auch „Inspiration“ genannt – empfangen wir auf vielfältige Weise. Meistens stellen sich Worte oder Gedanken ein, die uns durch plötzliche Eingebungen oder durch ein gutes oder schlechtes Gefühl bei einem Vorhaben in den Sinn kommen. Normalerweise ist Offenbarung Antwort auf ernstes und gebeterfülltes Suchen. Jesus sagt: „Bittet, dann wird euch gegeben; sucht, dann werdet ihr finden; klopft an, dann wird euch geöffnet.“ (Matthäus 7:7.) Wir empfangen Offenbarung, wenn wir Gottes Gebote befolgen und somit würdig sind, den Heiligen Geist bei uns zu haben und seine Eingebungen zu empfangen.

Einige wundern sich, warum die Mitglieder der Kirche sich in ihrem Leben von den Worten eines neuzeitlichen Propheten leiten lassen. Immerhin ist so etwas in den wenigsten Glaubensgemeinschaften üblich. Unsere Antwort auf den Vorwurf, dass die Heiligen der Letzten Tage ihren Führern aus „blindem Gehorsam“ folgen, lässt sich mit ebendieser persönlichen Offenbarung begründen. Wir respektieren diejenigen, die uns führen, und setzen voraus, dass sie bei der Ausübung ihrer Führungsämter in der Kirche und bei dem, was sie verkünden, inspiriert sind. Aber wir alle haben das Recht – und es wird uns ans Herz gelegt –, diese Aussagen zu prüfen, indem wir uns gebeterfüllt darum bemühen, durch Offenbarung unmittelbar von Gott eine Bestätigung zu erhalten.

Die meisten Christen glauben, dass Gott den Schriftenkanon – die offizielle Sammlung der als heilige Schrift bezeichneten heiligen Bücher – kurz nach dem Tod Jesu Christi abschloss und dass es seitdem keine vergleichbaren Offenbarungen mehr gegeben hat. Joseph Smith lehrte und legte dar, dass der Schriftenkanon noch geöffnet ist.11 Tatsächlich ist der Schriftenkanon in zweierlei Hinsicht geöffnet, und das Konzept fortdauernder Offenbarung ist für beide Aspekte entscheidend.

Erstens erklärte Joseph Smith, dass Gott seine Kinder leitet, indem er dem Schriftenkanon neue Offenbarungen hinzufügt. Das Buch Mormon ist ein Beispiel dafür. Genauso gehören auch die Offenbarungen in den Büchern Lehre und Bündnisse und Köstliche Perle dazu. Fortdauernde Offenbarung ist notwendig, damit wir erfahren, was der Herr uns in unserer Zeit und in unseren Lebensumständen mitteilen will und was er von uns erwartet.

Zweitens öffnet fortdauernde Offenbarung den Kanon, denn jemand, der in den heiligen Schriften liest, erkennt unter dem Einfluss des Heiligen Geistes eine neue Bedeutung darin und findet so Führung für sein eigenes Leben. Der Apostel Paulus schrieb, dass alle Schriften von Gott eingegeben wurden (siehe 2 Timotheus 3:16; vgl. auch 2 Petrus 1:21) und dass nur derjenige Gott erkennt, der den Geist Gottes hat (siehe 1 Korinther 2:11). Das bedeutet, dass wir, um heilige Schriften zu verstehen, persönliche Inspiration durch den Geist des Herrn brauchen, damit unser Verstand erleuchtet wird. Aus diesem Grund bestärken wir unsere Mitglieder darin, die heiligen Schriften zu studieren und gebeterfüllt nach Inspiration zu trachten, damit sie deren Bedeutung selbst erkennen. Sicheres Wissen erhalten wir durch persönliche Offenbarung durch den Heiligen Geist.

Jesus sagte: „An ihren Früchten also werdet ihr sie erkennen.“ (Matthäus 7:20.) Mir und unzähligen anderen Gläubigen, und auch vielen Beobachtern, erscheinen diese Früchte gut – gut für die Mitglieder, gut für ihre Familien, gut für ihr Umfeld und gut für ihr Land. Die Güter und Dienstleistungen im Wert von Millionen von Dollar, die die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage und ihre Mitglieder ohne viel Aufhebens und zügig als Reaktion auf Tragödien wie das Erdbeben in Haiti im Januar 2010 zur Verfügung gestellt haben, sind ein Beweis dafür.

Als Apostel bin ich berufen, in aller Welt Zeugnis von der Lehre, dem Werk und der Macht Christi abzulegen. In dieser Eigenschaft bezeuge ich, dass diese Grundlagen unseres Glaubens wahr sind.

Den vollständigen englischen Text finden Sie unter www.lds.org/fundamental-premises-of-our-faith.

Dieser Artikel ist einer Ansprache vor dem Lehrkörper und den Studenten der juristischen Fakultät der Harvard-Universität am 26. Februar 2010 entnommen.

Anmerkungen

  1. Gary C. Lawrence, How Americans View Mormonism, 2008, Seite 32

  2. How Americans View Mormonism, Seite 34

  3. Siehe How Americans View Mormonism, Seite 42

  4. Siehe How Americans View Mormonism, Seite 40

  5. Siehe How Americans View Mormonism, Seite 49

  6. Lehren der Präsidenten der Kirche: Brigham Young, Seite 194

  7. Lehren: Brigham Young, Seite 193

  8. Lehren der Präsidenten der Kirche: Joseph Smith, Seite 214

  9. Lehren: Joseph Smith, Seite 214

  10. Lehren: Joseph Smith, Seite 144

  11. Siehe Lehren: Joseph Smith, Seite 227ff., 289ff.

Foto von Craig Dimond © IRI; Ausschnitt aus dem Gemälde Christus mit einem Jungen von Carl Heinrich Bloch, Vervielfältigung untersagt

Die erste Vision, Gemälde von Gary L. Kapp, Vervielfältigung untersagt

Foto von Laureni Fochetto

Foto von Ruth Sipus