2009
Streng dich immer an
Juli 2009


Streng dich immer an

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Elder Octaviano Tenorio

Als ich fünfzehn Jahre alt war, kamen die Missionare oft zu unseren Nachbarn zum Essen. Meine ältere Schwester sah sie jeden Tag kommen und gehen, und sie fragte sie, ob sie etwas verkauften. Das verneinten sie, und so lernte unsere Familie sie kennen. Mein Vater, meine Mutter und meine Geschwister hörten sich die Lektionen an, und sie alle ließen sich taufen. Aber ich schloss mich nicht der Kirche an. Zu der Zeit untersuchte ich gerade eine andere Kirche, aber meine Suche war aufrichtig.

Am 10. Mai ist in Mexiko Muttertag. An diesem Tag fragte mich meine Mutter, ob ich sie liebte. Ich antwortete: „Ja, ich liebe dich.“

Sie gab mir Zeugnis und bat mich, mich taufen zu lassen. Ich beschloss, mich noch am selben Tag taufen zu lassen. Am darauffolgenden Sonntag wurde ich konfirmiert und empfing die Gabe des Heiligen Geistes. Von da an änderte sich mein Leben völlig. Ich las alles über die Kirche, was ich in die Hände bekommen konnte, vor allem die Lehren von Joseph Smith. Ich hatte Glauben, ich las und nahm die Lehren der Kirche an. Mein Glaube wuchs, als ich im Evangelium Fortschritt machte.

Strengt euch an

Ehe ich euch zwei Begebenheiten aus meinem Leben erzähle, möchte ich auf etwas hinweisen, worüber ich als Missionspräsident oft zu meinen Missionaren gesprochen habe. In der Anleitung Verkündet mein Evan-gelium! wird Präsident Ezra Taft Benson (1899–1994) zitiert, nämlich: „Ich habe schon oft gesagt: Eines der großen Geheimnisse der Missionsarbeit ist Arbeit! Wenn ein Missionar arbeitet, empfängt er den Geist, wenn er den Geist empfängt, lehrt er durch den Geist, und wenn er durch den Geist lehrt, berührt er das Herz der Menschen und ist glücklich. Dann hat er kein Heimweh, macht sich keine Sorgen um seine Familie, denn all seine Zeit, seine Talente und sein ganzes Interesse sind auf das Werk des geistlichen Dienstes ausgerichtet. Arbeit, Arbeit, Arbeit – dafür gibt es, vor allem in der Missionsarbeit, keinen vergleichbaren Ersatz.“1

In der spanischen Ausgabe der Anleitung für Missionare, die wir vor Verkündet mein Evangelium! verwendeten, wurde das Wort Arbeit mit Anstrengung übersetzt. Wir müssen uns aber nicht nur anstrengen, sondern all unsere Zeit, unsere Talente und unser Interesse einbringen. Diese Konzentration ist notwendig, um erfolgreich zu sein. Und wenn wir frohgemut sind statt ärgerlich oder gekränkt, führt unsere Arbeit zu etwas Gutem.

Dass dieses Rezept funktioniert, habe ich selbst erlebt. Kurz nach meiner Taufe nahm ich eine Stelle bei einer großen Mineralölgesellschaft an. Diese wahren Prinzipien in Bezug auf Arbeit wurden Teil meines Lebens und führten dazu, dass ich in der Firma weiterkam.

Übung eröffnet Chancen

Ein bestimmter Manager in der Firma hatte großen Einfluss. Er ordnete an, dass jede Abteilung zwei Mitarbeiter schickte, die ihm bei einer Inventur halfen. Die einzige Voraussetzung sei, sagte er, dass die Leute etwas von Buchhaltung verstanden.

Ich hatte eine Gewerbeschule besucht und besaß einen Abschluss in Buchhaltung. Mein Abteilungsleiter sagte: „Gehen Sie zu ihm und teilen Sie ihm mit, dass Sie ihm bei der Inventur helfen und dass Sie gelernter Buchhalter sind.“ Er war neugierig auf die Reaktion des Managers, weil ich noch so jung war.

Als ich eintraf, fragte mich der Manager, was ich wolle. Ich antwortete: „Ich werde Ihnen bei der Inventur helfen.“ Wie mein Abteilungsleiter mir aufgetragen hatte, sagte ich ihm, dass ich Buchhalter sei. Er lachte.

Dann sagte er: „Nun, Herr Buchhalter, setzen Sie sich auf meinen Stuhl. Addieren Sie mit dieser Rechenmaschine die Zahlen in jeder dieser Spalten so schnell Sie können.“

Ich tippte die Zahlen mit einem Finger ein, sehr langsam. Er schob mich aus dem Stuhl und sagte: „Sie können gar nichts; Sie werden bestraft. Sie werden mir zwei Wochen lang gegenübersitzen und mir bei der Arbeit zusehen.“

Ich setzte mich auf einen anderen Stuhl. Er sagte: „Schauen Sie mir zu.“ Dann addierte er die Zahlen rasend schnell, er schaute dabei nicht einmal auf seine Hände. Ich war verblüfft. Ich hatte es für einen Scherz gehalten, dass ich ihm zwei Wochen lang bei der Arbeit zusehen sollte, aber er hatte es ernst gemeint.

Am ersten Tag saß ich ihm sechs oder sieben Stunden gegenüber. Am Abend blieb ich nach der Arbeit noch da und wartete, bis alle das Gebäude verlassen hatten. Dann ging ich in sein Büro, wechselte die Papierrolle in der Rechenmaschine und begann zu üben, die gleichen Spalten, die er addiert hatte. Ich arbeitete stundenlang und wurde immer schneller. Als ich meinte, dass ich so schnell war wie er oder noch schneller, schlief ich ein, zwei Stunden.

Am nächsten Morgen wusch ich mir nur das Gesicht und ging zur Eingangstür hinaus, als sie in der Frühe aufgeschlossen wurde, dann ging ich wieder hinein, nachdem der Manager eingetroffen war. Ich klopfte an seine Tür. Er sagte: „Gut, Sie setzen sich wieder dorthin und beobachten mich.“

Als er auf der Rechenmaschine zu tippen begann, kam es mir langsam vor. Ich hatte sieben Stunden am Stück geübt. Sanft schob ich ihn beiseite und bat ihn, sich auf meinen Stuhl zu setzen. Dann addierte ich die Zahlen rasend schnell. Er war überrascht.

Er fragte: „Was haben Sie gemacht?“ Ich musste es ihm verraten. Darauf sagte er: „Weil Sie das gelernt haben, werden Sie von jetzt an mit mir zusammenarbeiten, und ich bringe Ihnen alles bei, was ich weiß.“

Ich wechselte die Abteilung. Nach ein paar Jahren ging er in den Ruhestand, und aufgrund seiner Empfehlung übernahm ich seine Stelle. Ich hatte mich konzentriert und angestrengt, und ich hatte Freude an meiner Arbeit. Ich ärgerte mich nicht darüber, dass er mich zuerst bestraft hatte.

Das Geheimnis des Erfolgs

Man kann mit jeder guten Sache erfolgreich sein. Man muss sich nur anstrengen und konzentrieren und mit Freude an die Arbeit gehen.

Die Firma, für die ich arbeitete, wurde geschlossen. Ich zog nach Mexiko-Stadt, und da ich gern arbeitete, bewarb ich mich für eine befristete Stelle in einem internationalen Redaktionsbüro. Ich sollte eine Inventur durchführen – darauf war ich ja spezialisiert. Die Inventur war innerhalb von zwei Wochen fertig. Daraufhin bot man mir eine gut bezahlte, unbefristete Stelle an, die ich annahm.

Damals sprach ich kein Englisch. Unser Chef, ein Mann aus Texas, der kein Spanisch sprach, sagte zu meinem Abteilungsleiter: „Dieser junge Mann leistet gute Arbeit. Wenn er Englisch könnte, würden wir ihm mehr bezahlen. Wir könnten ihn zur Fortbildung nach New York schicken und später könnte er hier eine Führungsposition übernehmen.“

Als mein Abteilungsleiter mir das erzählte, fragte ich: „Ich muss nur Englisch lernen?“

Ich war inzwischen verheiratet. Meine Frau sprach Englisch, weil sie in den Kolonien der Kirche in Mexiko aufgewachsen war. Bei meinem ersten Versuch, ein paar Worte auf Englisch zu sagen, riet man mir, es lieber gar nicht erst zu versuchen. Es war nicht gerade meine Gabe.

Doch jetzt spornten mich die Aussicht auf einen besseren Job und neue Chancen wie die, nach New York zu reisen, an. Ich ging zu einer Sprachenschule und sagte, ich wolle so schnell wie möglich Englisch lernen.

Sie fragten: „Was können Sie bereits?“

Ich antwortete: „Kein Wort. Ich kann nicht einmal‚Guten Morgen‘ sagen.“

Sie meinten: „Es gibt einen Intensivkurs: zwei Wochen lang, sechzehn Stunden am Tag. Acht Stunden hier mit den Lehrern und acht Stunden zu Hause mit Kassetten. Er kostet 1000 Dollar.“

Ich erklärte: „Das schaffe ich. Ich reiche Urlaub ein, dann kann ich zwei Wochen lang sechzehn Stunden am Tag lernen.“

Daraufhin ging ich zu meinem Abteilungsleiter und verkündete: „Ich werde in zwei Wochen Englisch lernen, es kostet Sie nur 1000 Dollar.“ Er lachte und sagte: „Das ist nicht möglich. Ich habe zwei Jahre dafür gebraucht.“

Doch ich antwortete: „Bitten Sie den Chef, mir zwei Wochen Urlaub zu geben und die Kursgebühr zu übernehmen. Wenn ich mich nach zwei Wochen nicht mit ihm auf Englisch unterhalten kann, können Sie mir die Kursgebühr vom Gehalt abziehen.“

Er gab sein Einverständnis.

Ich ging zur Sprachenschule. Acht Stunden Unterricht, alle 45 Minuten ein anderer Lehrer. Sie paukten Vokabeln mit uns, Sätze und Konversationsenglisch.

Nach acht Stunden in der Schule hielt ich auf der Straße Ausschau nach englischsprachigen Touristen, mit denen ich mich unterhalten konnte. Dann hörte ich weitere acht Stunden lang die Kassetten an.

Der Hauptgrund, warum ich zur Sprachenschule ging, war nicht, Englisch zu lernen. Ich wollte unbedingt eine Führungsposition übernehmen, und ich wollte nach New York gehen. Da ich so hochmotiviert war, fiel es mir nicht schwer, Englisch zu lernen. Ich genoss jede Sekunde.

Nachdem ich 224 Stunden lang gelernt hatte, konnte ich mich ein wenig auf Englisch unterhalten. Doch ich wusste ja, dass es darauf ankam, mich mit meinem Chef zu unterhalten. Sollte es mir nicht gelingen, müsste ich die 1000 Dollar zurückzahlen, also ersann ich einen Plan. Ich würde ihm einfach alles erzählen, was ich gelernt hatte. Als ich sein Büro betrat, redete ich zwanzig Minuten lang ununterbrochen. Er kam gar nicht zu Wort. Da sagte er: „Das reicht. Schickt ihn nach New York.“ Und ich fuhr nach New York!

Eine Lektion fürs Leben

Ich kann euch sagen: Wenn euch etwas gelingen soll, dann müsst ihr euch konzentrieren, euch anstrengen und Freude haben an dem, was ihr tut. Diese Strategie kann entscheidend sein. Ihr könnt viel lernen und jedes lohnenswerte Ziel erreichen. Habt Freude an dem, was ihr tut, selbst wenn es etwas Schwieriges ist. Das gilt für die Zeit als Missionar und für jeden anderen Aspekt eures Lebens. Wie Präsident Benson gesagt hat, ist der Schlüssel: „Arbeit, Arbeit, Arbeit.“

Anmerkung

  1. The Teachings of Ezra Taft Benson, 1988, Seite 200

Illustrationen von John Zamudio