2006
Meine Freundin Linda
Februar 2006


Meine Freundin Linda

„Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid: wenn ihr einander liebt.“ (Johannes 13:35.)

Nach einer wahren Begebenheit

Nicht viele Menschen quälen sich den steilen Hügel hinauf bis zu dem Haus, in dem ich wohne. Der Eismann hält es für Benzinverschwendung, den Hügel hochzufahren, dem Zeitungsjungen ist der Weg zu beschwerlich, und selbst unser Hund läuft nie davon, weil er später ja wieder hinauf müsste. Aber jede Woche schnaufte und keuchte Linda mindestens einmal die Straße zu uns hinauf.

Linda war eine ältere, pummelige Frau; sie hatte kurzes, schwarzes Haar mit weißen Strähnen darin, das gesprenkelt aussah wie Pfeffer und Salz. Manche Leute in der Gegend behaupteten, Linda sei behindert, aber meine Mutter sagte, sie sei etwas Besonderes. Ihrem Wesen nach war sie noch ein kleines Kind. Wenn Linda zu Besuch kam, umarmte sie uns überschwänglich und küsste uns auf die Wange. Ihre Fröhlichkeit war richtig ansteckend.

Einmal kam Linda wieder den Hügel heraufgestapft. Sie klopfte nie, sie klingelte auch nicht. Sie kam einfach herein und rief: „Linda ist da!“ Heute war sie so ausgelassen, dass sie meinen Bruder Roy packte und im Zimmer umherwirbelte. Dazu sang sie: „Ich darf zum Schneeflocken-Ball gehen! Linda darf zum Schneeflocken-Ball gehen!“

Der Schneeflocken-Ball war ein festlicher Ball für die Menschen in dem Heim, in dem Linda wohnte. Sie war so begeistert davon, sich auch herausputzen zu können, dass sie von gar nichts anderem reden konnte. „Ich will ein langes, rotes Kleid mit Rüschen haben, glitzernden Schmuck im Haar und rote Schuhe, die glitzern“, sagte sie. „Und ich will auch Rosen im Haar. Gefällt dir Rot, Katie?“

„Ich mag Rot schon, aber Rosa gefällt mir besser“, sagte ich wahrheitsgemäß.

„Mir gefällt Rot am besten. Ich wollte schon immer ein schönes, rotes Kleid haben und wie eine elegante Dame aussehen.“

Meine Mutter erklärte sich bereit, Linda ihr Traumkleid zu nähen. Wir kauften ein Paar billige rote Schuhe und klebten Glitzer darauf. Linda weinte jedes Mal, wenn sie nach der Anprobe Kleid und Schuhe wieder ausziehen musste. Sie hatte Freude daran, auch äußerlich so schön auszusehen, wie sie in ihrem Inneren war.

Schließlich war es so weit: Der Tag, an dem der Schneeflocken-Ball stattfinden sollte, war gekommen. Ich hatte an diesem Tag wie üblich Schule, aber ich freute mich für Linda. Zum Mittag saß ich mit ein paar Freundinnen vor der Schule, als ich jemand meinen Namen rufen hörte: „Katie! Katie! Meine beste Freundin Katie! Schau mich an! Schau, wie schön ich bin! Katie, schau mein schönes, flauschiges, glitzerndes Rüschenkleid an. Katie, schau deine Freundin Linda an! Ich bin eine elegante Dame! Linda ist eine Prinzessin! Schau doch, Katie!“

Linda winkte mir in ihrem roten Kleid von der gegenüberliegenden Straßenseite aus zu. Ich hätte ja zurück gewinkt, aber da sah ich den Ausdruck im Gesicht meiner Schulfreundinnen. Sie waren verblüfft.

„Was, du kennst diese Verrückte?“, fragte mich Natalie. „Sie läuft hier überall herum. Meine Mutter sagt, sie ist nicht ganz richtig im Kopf.“

Ich war um eine Antwort verlegen.

Dann sagte Kelly: „Ich sehe sie auch immer wieder auf der Straße. Schau dir nur das hässliche Kleid an! Die Frau ist echt zum Lachen!“ Und sie fingen alle an zu lachen.

Natalie grinste und fragte wieder: „Du kennst diese Verrückte also? Sie ist wirklich deine beste Freundin oder sowas? Wieso weiß sie denn überhaupt, wie du heißt?“

Linda winkte immer noch, aber sie hatte aufgehört zu rufen. Ich konnte erkennen, dass sie traurig war, weil ich nicht reagierte. Ich war einen Augenblick lang still. „Ich glaube, sie kennt meinen Namen, weil sie so oft bei uns vorbeigeht und meine Mutter nach mir rufen hört“, log ich. „Aber ich kenne sie natürlich nicht.“

Kelly, Natalie und die anderen Mädchen schienen mit meiner Antwort zufrie- den und machten weiterhinWitze über sie. Ich fühlte mich elend. Ich wagte es nicht, zu Linda hinüberzuschauen. Mir blieb das Schulbrot im Hals stecken, ich brachte kein Wort hervor. Mir war klar: Ich hatte mich falsch verhalten.

Als ich mich im Jahr davor hatte taufen lassen, hatte ich versprochen, dass ich mich bemühen werde, so wie Jesus zu sein, und nun sagte mir der Heilige Geist, dass ich mein Versprechen gebrochen hatte. Jesus liebte Linda; er würde sie nie so behandeln, und er liebte auch mich und würde nie wollen, dass ich mich so verhalte.

Als die Mädchen ihr Essen wegräumten, sprang ich auf. „Ja, ich kenne diese Frau und ich mag sie“, sagte ich. „Sie heißt Linda, und meine Familie ist mit ihr befreundet. Seid bitte nicht so gemein zu ihr. Sie ist etwas Besonderes, und wir mögen sie sehr.“Ein paar Mädchen verzogen das Gesicht, aber andere sagten, dass sie auch so jemand kennen.

Linda saß am Straßenrand und schaute traurig auf ihre glitzernden Schuhe. Jetzt war es an mir, zu winken und hinüberzurufen: „Linda, Linda, meine beste Freundin Linda! Schau her! Linda, du bist so hübsch! Du bist eine ganz elegante Dame! Linda, schau doch dein schönes, flauschiges Rüschenkleid an. Linda, schau her zu deiner Freundin Katie! Katie ist hier, Linda!“

Linda hob den Kopf. Sie lächelte und winkte. Je mehr ich winkte und rief, desto mehr winkte auch sie und lächelte mir zu. Es dauerte nicht lange, da hüpften wir beide umher, warfen einander Kusshände zu und lächelten uns an. Alle Schüler vor der Schule kriegten das mit und hörten, dass ich Linda meine Freundin nannte.

Linda genoss den Schneeflocken-Ball sehr. Sie sah wirklich aus wie eine elegante Dame. Meine Mutter und ich hatten uns freiwillig gemeldet, bei dem Ball Punsch auszu-schenken, und konnten so miterleben, wie sich Linda amüsierte.

Nach dem Ball gingen meine Mutter, Linda und ich den Hügel zu unserem Haus hinauf. Ich entschuldigte mich bei Linda, dass ich auf ihr Winken nicht sofort reagiert hatte. Sie hatte das aber offenbar schon vergessen, und ich war froh, dass sie solch eine vergebungsbereite Freundin war. Es war ein schöner Spaziergang, den ich da mit meinen besten Freundinnen unternahm. Als sie so links und rechts von mir gingen, schien mir der Weg den Hügel hinauf gar nicht mehr so furchtbar lang.

Heidi Renouf Brisco gehört zur Gemeinde Woodland Park im Pfahl Los Altos in Kalifornien.

„[Manche Menschen] sehen vielleicht anders aus, bewegen sich ungeschickt, können nicht fließend sprechen, aber sie haben dieselben Gefühle. … Sie möchten um deswillen geliebt werden, was sie im Inneren sind.“

Präsident James E. Faust, Zweiter Ratgeber in der Ersten Präsidentschaft, „Das Wirken Gottes“, Der Stern, Bericht von der Herbst-Generalkonferenz 1984, Seite 48.