2003
Steinchen und Vergebung
Februar 2003


Steinchen und Vergebung

Nach einer wahren Begebenheit

Levi war mit seinen Gedanken heute nicht bei der PV. Er war immer noch wütend auf Jason, seinen älteren Bruder.

Jason hatte gerade den Führerschein gemacht. Letzte Woche hatte er Levis Fahrrad umgefahren, obwohl Levi extra darauf geachtet hatte, es an die Seitenwand der Garage zu stellen. Levi hatte fleißig gespart, um das Fahrrad zu kaufen. Er hatte ganz schön lange dafür sparen müssen.

„Es tut mir wirklich Leid. Ich repariere es dir und dann sieht es wieder aus wie neu“, hatte Jason versprochen.

Levi schaute sich das verbogene Schutzblech an: „Trotzdem ist es nicht das gleiche.“

Jason entschuldigte sich noch einmal, aber Levi hörte ihm gar nicht zu. „Wenn du nicht so ein schlechter Autofahrer wärst, hättest du mein Fahrrad auch nicht umgefahren.“

„Ich habe dir doch gesagt, dass ich es wieder repariere.“ Jasons Stimme hörte sich nun schon gar nicht mehr so zerknirscht an.

Levi stürmte davon und schloss sich den restlichen Nachmittag in seinem Zimmer ein. Er kam erst wieder heraus, als die Mutter darauf bestand, dass er mit zu Abend aß.

Das war letzten Mittwoch gewesen. Nun war Levi schon vier Tage lang böse auf Jason. Er fühlte sich zwar überhaupt nicht wohl dabei, aber er wollte seinem Bruder trotzdem nicht verzeihen.

Nach dem Eröffnungsteil und dem Singen leitete Schwester McClure, die Zweite Ratgeberin in der PV-Leitung, bei den älteren Kindern das Miteinander. Sie begann mit Levis Klasse und ließ einen kleinen Pappbecher herumgehen. „Nehmt euch einen und gebt den Becher weiter“, sagte sie.

Levi griff in den Becher. Der Becher war voll mit Steinchen.

„Nehmt ein Steinchen und legt es euch in einen Schuh“, sagte sie. „Und nun versucht mal, damit auf der Stelle zu laufen.“

Levi hob den Fuß und setzte ihn wieder nieder. Das Steinchen fühlte sich komisch an. Er versuchte, es ein wenig wegzuschieben, damit es nicht so störte, aber es hörte nicht auf zu pieksen.

„Jetzt geht mal andächtig im Klassenzimmer herum“, forderte Schwester McClure die Kinder auf.

Einige Kinder fingen an zu kichern, waren aber gleich wieder still, als Schwester McClure sagte, sie sollten doch andächtig sein. Mehrere kleinere Kinder fingen an zu humpeln und bückten sich, um das Steinchen wieder zu entfernen.

Levi behielt das Steinchen im Schuh. Es schien beim Laufen immer größer zu werden.

Kurze Zeit später sagte Schwester McClure den Kindern, sie sollten sich nun wieder setzen und das Steinchen aus dem Schuh nehmen. Dann ließ sie den Pappbecher erneut herumgehen und bat die Kinder, die Steinchen wieder hineinzulegen.

Nun erklärte sie: „Die Steinchen sind wie die Gefühle, die uns bewegen, wenn wir jemandem nicht vergeben, der uns gekränkt hat. Zuerst sind sie klein, aber im Laufe der Zeit werden sie immer größer und größer.“

„Was ist aber, wenn es demjenigen, der uns gekränkt hat, noch nicht einmal Leid tut?“, wollte Levi wissen.

„Manchmal müssen wir auch dann vergeben, wenn sich der andere weder entschuldigt noch Umkehr übt“, gab Schwester McClure zur Antwort.

Schwester McClure erzählte dann, wie der Prophet Joseph Smith einem seiner Freunde verzieh, der ihn verraten hatte. Levi spürte einen Klumpen im Hals, als er hörte, wie der Prophet William W. Phelps vergeben hatte, obwohl Bruder Phelps sich sogar mit dem Pöbel zusammengetan hatte, der die Kirche und ihre Führer verfolgte.

Levi dachte während der restlichen PV-Zeit über Schwester McClures Lektion nach. Nach dem Abendessen fragten seine Eltern, was die Kinder in der Kirche gelernt hätten. Levi erzählte ihnen von den Steinchen.

„Wie hat sich dein Fuß angefühlt, als du das Steinchen dann schließlich aus dem Schuh genommen hast?“, wollte sein Vater wissen.

„Mein Fuß war ein wenig wund“, gab Levi zu. „Schwester McClure hat gesagt, das Herumlaufen mit einem Steinchen im Schuh sei genauso, als wenn man sich weigerte, jemandem zu vergeben, der einen gekränkt hat.“

„Das hört sich an wie Mamas Anschauungsunterricht“, sagte Annie, Levis kleine Schwester.

Alle lachten. Die ganze Familie wusste, dass Mama beim Unterricht am Familienabend gerne Anschauungsmaterial verwendete.

Ehe Levi ins Bett ging, klopfte er bei Jason an die Tür. „Es tut mir Leid, dass ich mich so dumm benommen habe“, sagte er, als Jason öffnete. „Ich weiß, dass du mein Fahrrad nicht absichtlich umgefahren hast.“

„He, ich bin derjenige, dem es Leid tut.“ Jason nahm Levi fest in den Arm und hob ihn hoch. „Was hältst du davon, wenn wir dein Fahrrad morgen nach der Schule gemeinsam reparieren? Ich frage Vati, ob er uns sein Werkzeug leiht.“

„Toll“, rief Levi. Dann ging er wieder auf sein Zimmer und dachte: „Jetzt fühle ich mich wirklich gut!“

Der Freund Dem Freund

Erst verriet William W. Phelps den Propheten Joseph Smith, bat ihn aber anschließend um Verzeihung. Der Prophet schrieb ihm den folgenden Brief:

„Lieber Bruder Phelps! Ich muss gestehen, ich schreibe dir diese paar Zeilen als Antwort auf [dein Schreiben] … mit nicht gewöhnlichen Gefühlen; gleichzeitig bin ich hocherfreut, dass ich das tun darf. … Es ist richtig, wir haben infolge deines Verhaltens viel zu leiden gehabt. … Immerhin, der Kelch ist geleert, der Wille unseres Vaters ist geschehen und wir sind noch immer am Leben, wofür wir dem Herrn danken. … Ich glaube, dass dein Bekenntnis echt und deine Umkehr aufrichtig ist, und so wird es mich freuen, dir wiederum die rechte Hand der Gemeinschaft zu reichen. … ‚Komm, lieber Bruder, her zu mir, der Krieg ist nun zu Ende; wir reichen uns, der Freund dem Freund, wie ehedem die Hände.‘

Immer der Deinige, Joseph Smith jun.“ ( Lehren des Propheten Joseph Smith, Seite 169.)