„Nora Koot – Hongkong“, Geschichten aus der Reihe „Heilige“, 2024
Nora Koot – Hongkong
Eine junge Frau in Hongkong findet Erfüllung darin, das wiederhergestellte Evangelium zu verbreiten
Die Rückkehr der Kirche nach Hongkong
„Sag ihm, er soll die Kirche zurückschicken.“
Die leise, eindringliche Stimme überraschte und verwirrte die sechzehnjährige Nora Siu Yuen Koot. „Wie bitte?“, fragte sie.
„Sag ihm, er soll die Kirche zurückschicken.“
Nora Koot, Foto, 1957 (Historisches Archiv der Kirche, Salt Lake City)
Wieder hörte Nora diese Botschaft deutlich. Es war, als hätte sie ihr jemand ins rechte Ohr geflüstert. Doch da war niemand. Sie stand an diesem Septembertag im Jahr 1954 ganz allein vor einem Hotel in Hongkong. Einige wenige Besucher aus den Vereinigten Staaten waren gerade in den Bus zum Flughafen gestiegen, und nun winkte sie ihnen zum Abschied zu.
Die Besucher waren Führer in der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage und bereisten derzeit Ostasien. In diesem Teil der Welt lebte mehr als eine Milliarde Menschen, aber nur etwa eintausend von ihnen hatten das wiederhergestellte Evangelium Jesu Christi angenommen. Die Kirche war schon seit mehreren Jahren nicht mehr offiziell in Hongkong vertreten, nachdem soziale Unruhen in China und der Krieg im nahegelegenen Korea die Leitung der Kirche 1951 veranlasst hatten, die Mission zu schließen. Doch nun war der Konflikt beendet, und die Besucher waren gekommen, um nach Nora und den achtzehn weiteren Heiligen in der Stadt zu sehen.
Angeführt wurde die Gruppe von Elder Harold B. Lee, einem der dienstälteren Mitglieder des Kollegiums der Zwölf Apostel der Kirche. Offenkundig bekleidete er eine wichtige Position, doch Nora wusste nicht genug über die Hierarchie in der Kirche, um sagen zu können, welche. Eines war ihr jedoch klar: Die geflüsterte Botschaft war für ihn bestimmt.
Ohne weiter zu überlegen, streckte sie die Hand nach dem Bus aus in der Hoffnung, er werde nicht gleich abfahren. „Apostel Lee!“, rief sie.
Elder Lee streckte seine Hand durch ein offenes Fenster, und Nora ergriff sie. „Bitte schicken Sie die Kirche zurück“, flehte sie. „Ohne die Kirche sind wir Heilige hier wie Menschen ohne Speise. Wir brauchen geistige Nahrung.“
Die Augen des Apostels füllten sich mit Tränen. „Das habe nicht ich zu entscheiden“, erwiderte er, „aber ich werde es den Brüdern weitergeben.“ Er legte Nora ans Herz, zu beten und den Glauben nicht aufzugeben, und versicherte ihr, dass die Kirche durchaus in Hongkong vertreten sei, solange es dort treue Heilige wie sie gebe.
Schließlich legte der Busfahrer den Gang ein und fuhr los.
Monat um Monat verging, ohne dass Nora etwas von der Kirche hörte. Manchmal fragte sie sich, ob sie wohl jemals wieder etwas von ihr hören werde. Die Missionare der Heiligen der Letzten Tage hatten es in Hongkong schon immer schwer gehabt. In den 1850er Jahren hatten Missionare dort zum ersten Mal das Evangelium verkündet, doch Krankheit, religiöse und kulturelle Verschiedenheiten sowie Armut und die Sprachbarriere hatten dazu geführt, dass die Mission nach nur wenigen Monaten und keiner Taufe wieder aufgegeben wurde. Die nächste Gruppe von Missionaren kam 1949, doch die Mission hielt sich nur zwei Jahre.
Damals waren Nora und ihre beiden jüngeren Schwestern die ersten Einheimischen gewesen, die sich in Hongkong der Kirche anschlossen. Ihre Familie gehörte zu den hunderttausenden von Flüchtlingen, die vor den Unruhen auf dem chinesischen Festland in der britischen Kolonie Zuflucht gesucht hatten. Der Hauptsitz der Mission hatte sich in der Straße befunden, wo sie wohnten, und Noras Stiefmutter schickte die Mädchen jeden Vormittag dorthin. Sie sollten Englisch lernen und sich anhören, was die Missionare sonst noch zu sagen hatten.
Nora konnte sich noch gut an den Bibelunterricht mit Schwester Sai Lang Aki, einer hawaiianischen Missionarin chinesischer Abstammung, erinnern. Und sie war es auch, die ihr half, Englisch zu lernen. In dieser Zeit erhielt Nora ein Zeugnis vom wiederhergestellten Evangelium. Ihr Zeugnis half ihr, stark zu bleiben, als die Mission geschlossen wurde und es ihr schien, als sei die Sonne über Hongkong untergegangen. Es gab weder die heiligen Handlungen des Priestertums noch die Abendmahlsversammlung oder Gemeindehäuser und auch kein Material der Kirche auf Chinesisch, doch sie hielt eisern an ihrem Glauben an Jesus Christus fest.
Im August 1955, also fast ein Jahr nach dem Besuch von Elder Lee, sprach ein großer, blonder junger Mann Nora in dem Kino an, in dem sie arbeitete. Sie erkannte in ihm sogleich Grant Heaton, der als Missionar in Hongkong gewesen war, bevor die Mission geschlossen wurde. Er und seine Frau Luana waren soeben in Hongkong eingetroffen, um die neu gegründete Mission Fernost Süd zu eröffnen.
Noras Freude war übergroß. Wie sie es erhofft hatte, hatte Elder Lee mit den Führern der Kirche über die Heiligen in Hongkong gesprochen. Schon bald nach seiner Rückkehr in die Vereinigten Staaten hatte er empfohlen, die Mission wieder zu öffnen, und Noras Geschichte sogar auf der Generalkonferenz der Kirche erzählt. Der Präsident der Kirche, David O. McKay, hatte sodann Grant berufen, die neue Mission zu leiten, die Hongkong, Taiwan, die Philippinen, Guam und weitere Orte in der Region umfasste.
„Die Sonne geht wieder auf“, dachte Nora. „Für die Heiligen in Hongkong ist ein neuer Morgen angebrochen!“
Den vollständigen Text samt Anmerkungen und Quellenangaben finden Sie im Archiv Kirchenliteratur.
Der Traum von einem Tempel
1957 brauchte die Mission Fernost Süd dringend eine neue Missionarin. Eine der vier Frauen, die in Hongkong auf Mission waren, war aus gesundheitlichen Gründen soeben in die Vereinigten Staaten zurückgekehrt, sodass nun ganz unerwartet eine Missionarin fehlte. Der Missionspräsident Grant Heaton wusste, dass die verbliebenen Schwestern umgehend Hilfe brauchten, und berief die einheimische Nora Koot als Vollzeitmissionarin.
In den vergangenen zwei Jahren war Nora ja für die Mission unentbehrlich geworden. Als die Heatons frisch in Hongkong angekommen waren, beauftragten sie sie damit, zu allen Heiligen in der Gegend Kontakt aufzunehmen, und damit war der Missionssitz für Nora zum zweiten Zuhause geworden. Bisweilen passte sie auch auf die Kinder der Heatons auf. Hier und da brachte sie den Missionaren Kantonesisch und Mandarin bei. Zusammen mit Luana Heaton unterrichtete sie in der Stadt eine Sonntagsschulklasse für Kinder und brachte ihnen Geschichten aus der Bibel nahe.
Grant und Luana Heaton mit ihrem kleinen Sohn, etwa 1956
Nora nahm den Missionsauftrag sofort an. Ein anderer einheimischer Heiliger, ein Ältester namens Lee Nai Ken, hatte eine Kurzzeitmission in Hongkong absolviert, und Präsident Heaton wollte unbedingt mehr Einheimische als Missionare berufen, denn die Missionare aus Nordamerika hatten oft Mühe, die chinesische Sprache zu erlernen und sich an die fremde Kultur zu gewöhnen. Viele Menschen in der Stadt waren zudem misstrauisch gegenüber Ausländern und hielten manchmal die Missionare irrtümlich für Vertreter der US-Regierung.
Nora und die übrigen chinesischen Mitglieder hingegen kannten die Kultur und mussten sich nicht erst mit der Sprache abmühen. Außerdem hatten sie oft einen besseren Draht zu den Menschen, mit denen sie über das Evangelium sprachen. Als Flüchtling vom chinesischen Festland wusste Nora, wie es ist, in einer überfüllten Stadt, in der Wohnraum und Arbeitsplätze Mangelware sind, ein neues Leben zu beginnen.
In Hongkong waren viele Mitglieder und potenzielle Kandidaten für die Taufe Flüchtlinge, und Präsident Heaton suchte stets nach Möglichkeiten, für ihr geistiges Wohl zu sorgen. 1952 hatte die Kirche sieben Missionarslektionen eingeführt, um etwaige Bekehrte auf die Mitgliedschaft in der Kirche vorzubereiten. Die örtlichen Gegebenheiten machten es erforderlich, dass Präsident Heaton und seine Missionare insgesamt siebzehn Lektionen über das Evangelium ausarbeiteten, um die vielen Menschen in Hongkong anzusprechen, die keine Christen waren oder vom christlichen Glauben nur die Grundzüge verstanden. Diese Lektionen behandelten Themen wie die Gottheit, das Sühnopfer Jesu Christi, die ersten Grundsätze und Verordnungen des Evangeliums sowie die Wiederherstellung. Nach der Taufe erhielten die Bekehrten dann zusätzlich zwanzig Lektionen für neue Mitglieder.
In der Nacht bevor sie als Missionarin eingesetzt wurde, hatte Nora einen sehr wirklichkeitsnahen Traum. Sie stand an einer belebten Straße mit dem üblichen chaotischen Verkehrsaufkommen, als sie ein wunderschönes Gebäude bemerkte. Sie ging hinein und verspürte unmittelbar Frieden und Ruhe. Die Menschen darin waren weiß gekleidet, und Nora erkannte einige von ihnen: Sie waren derzeit als Missionare in Hongkong tätig.
Am nächsten Tag erzählte Nora den Missionaren im Missionsheim von ihrem Traum. Die Missionare waren verblüfft. Woher wusste Nora denn, wie ein Tempel aussah? Sie hatte ja noch nie einen gesehen!
Den vollständigen Text samt Anmerkungen und Quellenangaben finden Sie im Archiv Kirchenliteratur.
Die erste Tanzveranstaltung der Kirche in Hongkong
Anfang 1959 bestiegen Schwester Nora Koot und ihre Mitarbeiterin, Elaine Thurman, einen Zug – zusammen mit einer Gruppe von Jugendlichen der Heiligen der Letzten Tage aus Tai Po, einem ländlichen Bezirk im Nordosten Hongkongs. An diesem Abend fand in einem gemieteten Saal in der Stadt ein Tanzabend der Kirche statt, und die Jugendlichen waren deswegen ein wenig nervös. Es waren alles neue Mitglieder der Kirche, und keiner von ihnen hatte jemals viel Zeit in der Stadt verbracht. Sie wussten auch gar nicht, was sie erwartete.
Selbst Nora wusste nicht so recht, was sie erwartete. Bei dem Tanzabend handelte es sich um den ersten Grün-Gold-Ball der Kirche in Hongkong. Der Grün-Gold-Ball war nach den offiziellen Farben der Gemeinschaftlichen Fortbildungsvereinigung der Kirche benannt und war seit den 1920er Jahren das Ereignis im Jahr, auf das sich die Jugendlichen in der Kirche schon freuten – vor allem in Gegenden, wo die Gemeinschaftlichen Fortbildungsvereinigungen der Jungen Männer und der Jungen Damen gut vertreten waren. Bei solchen Bällen hatten die jungen Leute die Gelegenheit, Mitglieder der Kirche kennenzulernen, und die amerikanischen Missionare wollten den chinesischen Heiligen diese Tradition gern nahebringen. Immerhin war die Kirche in Hongkong im vergangenen Jahr um mehr als neunhundert neue Mitglieder gewachsen.
Straßenansicht von Hongkong, etwa 1956 (Historisches Archiv der Kirche, Salt Lake City; Foto von Stanley Simiskey)
Die Zugfahrt in die Stadt dauerte etwa eine Stunde. Als Nora, Elaine und die Jugendlichen aus Tai Po ankamen, stellten sie fest, dass der Ausschuss der Gemeinschaftlichen Fortbildungsvereinigung in der Mission, der ausschließlich aus amerikanischen Missionaren bestand, alles getan hatte, damit der Tanzabend einem Grün-Gold-Ball in den Vereinigten Staaten in nichts nachstand. Von der Decke hingen goldene und grüne Luftschlangen, und fünfhundert Luftballons warteten hoch über der Tanzfläche darauf, am Ende des Abends durch Ziehen an einer Schnur heruntergelassen zu werden. Für das leibliche Wohl war mit Keksen und Punsch gesorgt.
Doch als der Ball begann, geriet etwas in Schieflage. Ein Lautsprecher war mit einem Plattenspieler verbunden, und die Missionare spielten beliebte amerikanische Tanzmusik. Die Organisatoren hatten nur wenige Stühle im Raum aufgestellt – in der Hoffnung, dass die jungen Leute durch die spärlichen Sitzgelegenheiten auf die Tanzfläche gelockt würden. Doch die Masche funktionierte nicht. Kaum jemand tanzte.
Nach einer Weile begannen einige Heilige aus Hongkong, die Musik zu spielen, die sie mochten, und mit einem Schlag war alles anders. Die Missionare hatten offenbar den Geschmack der Einheimischen nicht getroffen. Sie hatten Instrumentalstücke gespielt, obwohl die chinesischen Heiligen Lieder mit Gesang wollten. Die Heiligen tanzten auch lieber zu langsamen Walzern, Cha-Cha-Cha und Mambo, was die Missionare wiederum nicht spielten. Sobald sich jedoch die Musik änderte, drängten sich alle auf die Tanzfläche und tanzten.
Trotz des holprigen Starts wurde der Grün-Gold-Ball ein Erfolg. Kurz bevor der Tanzabend enden sollte, wurden allerdings die Luftballons losgemacht, die nun auf die Tanzenden herabpurzelten. Die chinesischen Heiligen dachten, der Ball sei vorbei, und drängten sich flugs durch die Tür. Die Missionare versuchten noch, sie zurückzurufen, damit sie wenigstens ein Schlussgebet sprechen konnten, aber vergeblich. Fast alle waren schon weg.
Den ganzen Abend über hatte Nora es genossen, den Heiligen aus Tai Po zuzuschauen, wie sie sich unter die anderen jungen Leute aus der Region mischten. Die Arbeit in Tai Po war einer der Höhepunkte ihrer bisherigen Mission, und die Zeit dort hatte ihr Zeugnis gestärkt.
Doch einige Monate nach dem Grün-Gold-Ball hieß es, dass sie weiterziehen musste. Präsident Heaton sandte sie nämlich nach Taiwan, einer Insel, die beinahe siebenhundert Kilometer weiter östlich lag.
Den vollständigen Text samt Anmerkungen und Quellenangaben finden Sie im Archiv Kirchenliteratur.
Teestunde mit Madame Pi
Nora Koot kam Ende Juli 1959 in Taiwan an, etwa drei Jahre nachdem Präsident Heaton die erste Gruppe von Missionaren der Heiligen der Letzten Tage auf die Insel gesandt hatte. Mit einer Mitgliederzahl von weniger als dreihundert Heiligen war die Kirche in Taiwan weder so groß noch so gut organisiert wie die Kirche in Hongkong. Dennoch fanden die Missionare dort unter der großen Zahl chinesischer Flüchtlinge, die wie Nora hauptsächlich Mandarin sprachen, Menschen, die sich für das Evangelium interessierten.
Dezzie Clegg und Nora Koot, etwa 1959 (Historisches Archiv der Kirche, Salt Lake City)
Nachdem sie sich in ihrer neuen Umgebung ein wenig eingelebt hatten, suchten Nora und ihre Mitarbeiterin Dezzie Clegg Madame Pi Yi-shu auf, die in Taiwan dem obersten Gesetzgebungsorgan angehörte. Madame Pi war mit Noras Stiefmutter zur Schule gegangen, und die hatte Nora ein Empfehlungsschreiben an ihre alte Freundin mitgegeben. Nora wollte Madame Pi gern darlegen, welche Segnungen die Kirche den Menschen in Taiwan zu geben vermochte.
Bei ihrer Zusammenkunft wiesen Nora und Dezzie das Schreiben vor, woraufhin Madame Pi sie bat, sich doch zu setzen. Ein Diener brachte ein wunderschönes Teeservice, und Madame Pi bot ihren Gästen Earl-Grey-Tee an.
Das Trinken dieser Art von Tee war zwar gegen das Wort der Weisheit, aber Nora wusste auch, dass es in diesem Kulturkreis unhöflich war, den Tee des Gastgebers abzulehnen. Doch im Laufe der Jahre hatten die Missionare und Mitglieder höfliche Methoden entwickelt, keinen Tee zu trinken, auch wenn er angeboten wurde. So hatte Konyil Chan, ein chinesischer Heiliger in Hongkong, der sich mit der gesellschaftlichen Etikette gut auskannte, den Missionaren empfohlen, den Tee einfach anzunehmen und ihn dann diskret beiseitezustellen. „Die Chinesen zwingen einen Bekannten niemals, Tee zu trinken“, hatte er ihnen versichert.
Nora und Dezzie lehnten den Tee dankend ab und erklärten Madame Pi, dass sie nach Taiwan gekommen seien, um den Menschen hier zu zeigen, wie man ein gesetzestreues und gutes Mitglied der Gesellschaft ist. Madame Pi bot ihnen jedoch immer wieder den Tee an.
„Verzeihen Sie, Madame“, sagte Nora schließlich, „wir trinken keinen Tee.“
Madame Pi wirkte fast schon erschrocken. „Ja warum denn nicht?“, erkundigte sie sich.
„Die Kirche lehrt uns, einen Grundsatz zu befolgen, den wir als das Wort der Weisheit bezeichnen. Dadurch bleibt unser Körper gesund und unser Verstand klar“, erwiderte Nora. Dann erklärte sie, dass die Mitglieder keinen Kaffee, Tee oder Alkohol trinken und weder Tabak noch Drogen wie Opium konsumieren. Zu jener Zeit riet die Kirche durch ihre Führer und in Veröffentlichungen auch von allen anderen Getränken ab, die Stoffe mit Suchtpotenzial enthielten.
Madame Pi dachte einen Moment lang darüber nach. „Und was dürfen Sie also trinken?“, fragte sie.
„So einiges“, entgegnete Nora. „Milch, Wasser, Orangensaft, 7 Up, Limonade.“
Madame Pi bat ihren Diener, das Teeservice zu entfernen und den Missionarinnen kalte Milch zu bringen. Dann erklärte sie sich damit einverstanden, dass die Missionarinnen den Menschen in Taiwan das Evangelium verkündeten. „Ich möchte, dass unser Volk zu besseren Staatsbürgern wird, gesünder lebt und gesetzestreuer ist“, sagte sie.
In den folgenden Tagen und Wochen sprach Nora mit vielen Menschen über das wiederhergestellte Evangelium. Die chinesischen Christen zeigten das meiste Interesse an der Kirche, aber auch einige Buddhisten und Taoisten fühlten sich davon angesprochen. Einige Menschen in Taiwan waren Atheisten und zeigten wenig Interesse am Christentum oder an der Kirche. Für andere war es hinderlich, dass es weder das Buch Mormon noch sonstige Literatur der Kirche in chinesischer Sprache gab.
Die Kirche in Taiwan wuchs langsam, aber die Menschen, die sich der Kirche anschlossen, waren sich der Bedeutung des Bundes, den sie bei der Taufe schlossen, sehr bewusst. Bevor sie Heilige der Letzten Tage werden konnten, mussten sie mit den Missionaren sämtliche Lektionen durchgehen, regelmäßig die Sonntagsschule und die Abendmahlsversammlung besuchen, mindestens zwei Monate lang das Wort der Weisheit und das Gesetz des Zehnten befolgen und sich verpflichten, weitere Gebote zu halten. Bis zum festgesetzten Tauftermin waren daher viele, die sich in Taiwan mit den Missionaren trafen, bereits aktiv in ihrem Zweig tätig.
Eine von Noras Hauptaufgaben auf der Insel bestand darin, die Frauenhilfsvereinigung zu stärken. Bis vor kurzem waren alle Frauenhilfsvereinigungen in Taiwan von amerikanischen Missionaren geleitet worden. Dies änderte sich jedoch Anfang 1959, als Präsident Heaton eine Missionarin namens Betty Johnson auf die Insel schickte, um Frauenhilfsvereinigungen zu gründen und in Taipeh und weiteren Städten weibliche Führungskräfte zu schulen. Nun setzten Nora und die anderen Missionarinnen Bettys Arbeit fort und reisten von Zweig zu Zweig, um überall die FHV-Organisationen nach Bedarf zu unterstützen.
Noras Mission endete am 1. Oktober 1959. Auf Mission hatte sie das Evangelium besser kennengelernt und bemerkt, wie ihr Glaube immer stärker wurde. Für sie war das Wachstum der Kirche in Hongkong und Taiwan die Erfüllung jenes Traums vom Propheten Daniel.
Den vollständigen Text samt Anmerkungen und Quellenangaben finden Sie im Archiv Kirchenliteratur.
Der Traum vom Tempel wird wahr
Als im Oktober 1992 der Hongkong-Tempel angekündigt wurde, war Nora Koot Jue überglücklich. Mehr als dreißig Jahre waren vergangen, seit sie in der Fernost-Mission Süd auf Mission gewesen war. Inzwischen war sie in die Vereinigten Staaten ausgewandert, hatte Raymond Jue – einen chinesischstämmigen Amerikaner – geheiratet und vier Kinder großgezogen. Aber ihre Erfahrungen als eine der ersten chinesischen Bekehrten in Hongkong hatten sie geprägt. Sie bildeten die Grundlage für die Geschichten, die sie ihren Kindern vor dem Schlafengehen erzählt hatte.
Raymond war der Meinung, die ganze Familie solle zur Weihung des Tempels fahren.
„Nein“, sagte Nora. „Das kostet eine Menge Geld.“
Doch Raymond ließ nicht locker. „Wir müssen da hin“, beharrte er.
Also begann die Familie, Geld zu sparen. Die Kinder waren erwachsen und wussten, wie wichtig ihrer Mutter das Haus des Herrn war. Als sie 1963 in die Vereinigten Staaten ausgewandert war, hatte sie zunächst auf Hawaii Station gemacht, um im Laie-Tempel ihr Endowment zu erhalten. Später wurden Raymond und sie im Los-Angeles-Tempel gesiegelt. Kurz darauf wurde dann der Oakland-Kalifornien-Tempel in der Nähe ihres Zuhauses in der Bay Area von San Francisco geweiht. Nora und Raymond waren dort schließlich Tempelarbeiter geworden, was Nora die Möglichkeit gab, die heiligen Handlungen in Mandarin, Kantonesisch, Hmong und weiteren Sprachen zu verrichten.
Nach Fertigstellung des Hongkong-Tempels im Mai 1996 veranstaltete die Kirche zwei Wochen lang Tage der offenen Tür. Nora und ihre Familie kamen am Abend des 23. Mai in der Stadt an, drei Tage vor der Weihung des Tempels. Schon beim Verlassen des Flughafens spürte Nora, wie die warme, feuchte Luft sie umwehte.
„Willkommen in Hongkong“, sagte sie lächelnd zu ihrer Familie.
In den darauffolgenden Tagen unternahm Nora mit ihrer Familie eine Tour durch die Stadt. Ihre älteste Tochter Lorine war in Hongkong auf Mission gewesen, und es machte ihnen Freude, die Gegend nun gemeinsam zu erkunden. Als Nora ihren Kindern die Straßen und Gebäude zeigte, die Teil ihrer Kindheit gewesen waren, wurden die Geschichten lebendig, die sie ihnen erzählt hatte. Einer der ersten Orte, die sie zusammen besuchten, war der Tempel, der an der Stelle des alten Missionsheims errichtet worden war, in dem sie als junge Frau so viel Zeit verbracht hatte. Nora war überglücklich, dass der Ort einem so heiligen Zweck zugeführt worden war.
Am Sonntag, dem 26. Mai, nahm die Familie am Vormittag an einer besonderen Abendmahlsversammlung mit Noras einstigem Missionspräsidenten Grant Heaton und weiteren ehemaligen Missionaren der Fernost-Mission Süd teil. Im Gottesdienst gaben Präsident Heaton und die Missionare Zeugnis. Als Nora an der Reihe war, stand sie auf. „Der Geist brennt in mir“, bezeugte sie. „Ich bin aus diesem Land und aus dieser Mission hervorgegangen. Dafür bin ich dankbar.“
Am nächsten Morgen saßen Nora und ihre Familie gemeinsam im celestialen Saal des Hongkong-Tempels. Nora strahlte. Als Präsident Thomas S. Monson die Versammlung eröffnete und Elder Neal A. Maxwell vom Kollegium der Zwölf Apostel zu den Anwesenden sprach, lächelte sie. Sie hatte das Gefühl, als hätte sich der Kreis ihres Lebens geschlossen. Zweiundvierzig Jahre zuvor hatte sie Elder Harold B. Lee angefleht, die Kirche nach Hongkong zurückzubringen. Damals hatte es in der Stadt nur eine Handvoll Mitglieder gegeben. Jetzt gab es in Hongkong ein Haus des Herrn – und sie war mit ihrem Mann und ihren Kindern da.
Am Ende der Versammlung verlas Präsident Thomas S. Monson das Weihungsgebet. „Deine Kirche ist gewachsen und hat sich für viele deiner Söhne und Töchter an diesem Ort als Segen erwiesen“, hob er an. „Wir danken dir für alle, die das Evangelium angenommen haben und die den mit dir geschlossenen Bündnissen treu geblieben sind. Mit der Weihung dieses heiligen Tempels erreicht deine Kirche in diesem Gebiet nun ihre volle Reife.“
Nora liefen die Tränen über das Gesicht, als alle das Lied „Der Geist aus den Höhen“ anstimmten. Nach dem Schlussgebet umarmte sie ihren Mann und ihre Kinder. Ihr Herz war voll Freude.
Am selben Abend nahm Noras Familie an einem Treffen ehemaliger Missionare teil. Die Jues kamen mit etwas Verspätung an. Alle übrigen standen schon plaudernd in einem Raum zusammen. Die Menge verstummte, als Nora eintrat, und ihre Familie staunte, wie einer nach dem anderen sie begrüßte und ihr mit Ehrerbietung und Respekt begegnete.
Während Nora mit alten Freunden sprach, tippte ihr ein alter Mann auf die Schulter. „Erinnern Sie sich noch an mich?“, fragte er.
Nora musterte ihn, und man sah ihr an, dass es ihr sogleich dämmerte. Es war Harold Smith, einer der ersten Missionare, denen sie als junges Mädchen begegnet war. Sie stellte ihn ihren Kindern vor.
„Ich dachte nicht, dass ich etwas bewirkt hätte“, erzählte er ihr. Er konnte es nicht fassen, dass sie sich an ihn erinnerte.
„Einen Retter vergisst man nicht“, meinte Nora.
Den vollständigen Text samt Anmerkungen und Quellenangaben finden Sie im Archiv Kirchenliteratur.