2010–2019
„Bei ihnen zu sein und sie zu stärken“
April 2018


„Bei ihnen zu sein und sie zu stärken“

Wir beten heute dafür, dass jeder Mann und jede Frau diese Generalkonferenz mit dem tiefen Wunsch verlässt, sich aufrichtig gemeint um andere zu kümmern.

Um frei mit Ralph Waldo Emerson zu sprechen: Die denkwürdigsten Augenblicke im Leben sind jene, in denen wir den Ansturm der Offenbarung spüren.1 Präsident Nelson, ich weiß nicht, wie viele „Anstürme“ wir an diesem Wochenende zusätzlich noch verkraften können. Der eine oder andere hat ein schwaches Herz. Aber darum können Sie sich ja auch kümmern, wenn ich es mir recht überlege. Was für ein Prophet!

Im Geiste von Präsident Nelsons wunderbaren Erklärungen und Zeugnissen von gestern Abend und heute Vormittag gebe auch ich mein Zeugnis, dass diese Anpassungen Beispiele für die Offenbarung sind, die diese Kirche seit ihren Anfängen geleitet hat. Sie sind noch ein weiterer Beweis dafür, dass der Herr sein Werk in seiner Zeit beschleunigt.2

Allen, die es kaum erwarten können, die Einzelheiten dieser Angelegenheiten zu erfahren, möchte ich sagen, dass unmittelbar nach Ende dieser Konferenzversammlung eine Sequenz in Gang gesetzt wird, zu der, wenn auch nicht unbedingt in dieser Reihenfolge, gehört, dass jedem Mitglied der Kirche, von dem wir eine E-Mail-Adresse haben, ein Schreiben der Ersten Präsidentschaft zugeht. Für die Führungsbeamten des Priestertums und der Hilfsorganisationen wird ein neunseitiges Dokument mit Antworten auf allgemeine Fragen beigefügt. Und letztlich wird dieses Material auch unverzüglich unter ministering.lds.org ins Internet gestellt. „Bittet und es wird euch gegeben; sucht und ihr werdet finden.“3

Nun komme ich zu dem wunderbaren Auftrag, den Präsident Russell M. Nelson mir und Schwester Jean B. Bingham erteilt hat. Brüder und Schwestern, wenn das Werk der Kollegien und der Hilfsorganisationen auf institutioneller Ebene einen Reifungsprozess durchläuft, folgt daraus, dass wir auch auf der persönlichen Ebene reifer werden müssen – dass jeder individuell über jegliche mechanische, geschäftsmäßige Routine hinauswächst und von ganzem Herzen Jünger wird, wie es der Erretter am Ende seines irdischen Wirkens beschrieben hat. Als er sich bereitmachte, seine kleine Schar noch unerfahrener und etwas verwirrter Anhänger zu verlassen, zählte er weder ein Dutzend Verwaltungsaufgaben auf, die zu erledigen waren, noch reichte er ihnen eine Handvoll Berichte, die in dreifacher Ausfertigung auszufüllen waren. Nein, er fasste ihre Aufgabe mit einem grundlegenden Gebot zusammen: „Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben. Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid: wenn ihr einander liebt.“4

In dem Bestreben, diesem Evangeliumsideal näherzukommen, schließt dieses gerade erst angekündigte Leitbild für den geistlichen Dienst im Priestertum und in der Frauenhilfsvereinigung unter anderem die folgenden Elemente ein, die zum Teil von der Frauenhilfsvereinigung bereits mit großem Erfolg umgesetzt werden.5

  • Die Begriffe Heimlehren und Besuchslehren und das damit verbundene Vokabular werden nicht mehr verwendet. Das liegt teils daran, dass die Betreuung vermehrt außerhalb des Zuhauses stattfindet, und teils daran, dass der Kontakt nicht dadurch definiert wird, dass eine vorbereitete Lektion besprochen wird; obgleich natürlich eine Botschaft weitergegeben werden kann, wenn es gebraucht wird. Der Hauptzweck dieses Betreuungskonzepts besteht, so wie über die Menschen in Almas Tagen gesagt wurde, darin, über die Menschen zu wachen und sie mit dem zu nähren, was die Rechtschaffenheit betrifft.6

  • Wir werden, wenn möglich, weiterhin Besuche zu Hause machen, aber die Umstände vor Ort, wie etwa eine große Mitgliederzahl, große Entfernungen, Sicherheitsbedenken und andere Herausforderungen verhindern möglicherweise einen monatlichen Besuch bei jedem einzelnen Mitglied. Wie die Erste Präsidentschaft schon vor Jahren geraten hat, geben Sie Ihr Bestes!7 Zusätzlich zu Besuchen, deren Häufigkeit Sie festlegen, können Sie außerdem anrufen, Briefe, Textnachrichten oder E-Mails schreiben, sich per Videochat melden, bei Versammlungen in der Kirche das Gespräch suchen, gemeinsame Dienstprojekte angehen, etwas zusammen unternehmen und die Fülle an Möglichkeiten aus der Welt der sozialen Medien nutzen. Ich möchte jedoch ausdrücklich betonen, dass dieser neue erweiterte Blickwinkel nicht die traurige Aussage miteinschließt, die ich neulich als Aufkleber an einem Auto entdeckte. Da stand: „Wenn ich hupe, zählt das als Heimlehren!“ Brüder, ich bitte Sie dringend (die Schwestern würden sich dessen niemals schuldig machen, ich spreche die Brüder in der Kirche an), mit diesen Anpassungen wollen wir mehr Fürsorge und Anteilnahme erreichen, nicht weniger.

  • Wenn Sie nun von diesem neuen, mehr auf dem Evangelium basierenden Leitbild für die Betreuung hören, spüre ich schon die Panik aufsteigen, was denn nun im Bericht zählt. Nur die Ruhe; es gibt nämlich keinen Bericht – zumindest nicht den „Ich-habe-es-am-letzten-Tag-des-Monats-gerade-noch-über-die-Türschwelle-geschafft“-Bericht. Auch hier bemühen wir uns, reifer zu werden. Das Einzige, was berichtet wird, ist die Anzahl der Auswertungsgespräche, die die Führungsbeamten mit den Betreuerpaaren in der Gemeinde im Quartal geführt haben. So einfach das auch klingt, meine Freunde, diese Gespräche sind absolut entscheidend. Ohne diese Informationen hat der Bischof keine Möglichkeit, die Informationen zu den geistigen und zeitlichen Umständen der Mitglieder zu bekommen, die er braucht. Vergessen Sie nicht: Die betreuenden Brüder vertreten die Bischofschaft und die Ältestenkollegiumspräsidentschaft; sie treten nicht an ihre Stelle. Die Schlüssel eines Bischofs und eines Kollegiumspräsidenten gehen weit über dieses Leitbild für die Betreuung hinaus.

  • Da dieser Bericht anders ist als alles, was Sie bisher eingereicht haben, möchte ich betonen, dass wir am Hauptsitz der Kirche nicht wissen müssen, wie, wo oder wann Sie Kontakt mit denen aufnehmen, um die Sie sich kümmern, wir müssen bloß wissen und uns muss nur interessieren, dass Sie es tun und ihnen in jeder erdenklichen Weise zur Seite stehen.

Brüder und Schwestern, der Himmel schickt uns hier eine Gelegenheit, als ganze Kirche einen reinen und makellosen Dienst vor Gott zu leisten8 – „des anderen Last zu tragen, damit sie leicht sei“ und „diejenigen zu trösten, die des Trostes bedürfen“9, für die Witwen und die Vaterlosen zu sorgen, die Verheirateten und die Alleinstehenden, die Starken und die Verzweifelten, die Bedrückten und die Widerstandsfähigen, die Glücklichen und die Traurigen – kurz, für uns alle, jeden von uns, weil wir alle die herzliche Hand der Freundschaft spüren und hören müssen, wie jemand mit Gewissheit seinen Glauben bekundet. Allerdings muss ich Sie warnen, dass eine neue Bezeichnung, neue Flexibilität und weniger Berichte unseren Dienst keinen Deut besser machen, wenn wir dies nicht als Aufruf betrachten, uns auf eine mutig neue und heiligere Weise umeinander zu kümmern. Wenn wir nun geistig den Blick darauf richten, vermehrt das Gesetz der Liebe zu leben, zollen wir auch den Generationen Anerkennung, die schon seit vielen Jahren auf diese Weise dienen. Lassen Sie mich von einem jüngeren Beispiel eben solcher Hingabe berichten, in der Hoffnung, dass noch Unzählige mehr das Gebot des Herrn, „bei [unseren Brüdern und Schwestern] zu sein und sie zu stärken“10, begreifen.

Am 14. Januar dieses Jahres, einem Sonntag, saßen meine jungen Freunde Brett und Kristin Hamblin in Tempe in Arizona um kurz nach 17 Uhr zu Hause und unterhielten sich. Brett hatte den Tag über mit seinen Aufgaben in der Bischofschaft zu tun gehabt, Kristin war mit ihren fünf Kindern beschäftigt gewesen.

Ganz plötzlich wurde Kristin, die erst im vergangenen Jahr ihren Brustkrebs scheinbar erfolgreich überwunden hatte, bewusstlos. Nach dem Notruf eilte ein Rettungsteam herbei, das sich verzweifelt bemühte, Kristin wiederzubeleben. Zwischen seinen inständigen Gebeten führte Brett ganz kurz zwei weitere Telefonate: Er bat seine Mutter um Hilfe mit den Kindern, und er rief Edwin Potter an, seinen Heimlehrer. Dieses zweite Gespräch gebe ich hier vollständig wieder:

Edwin Potter, der den Namen im Display erkannte, sagte: „Hallo Brett, was gibt’s?“

Brett Hamblin brüllte fast in den Hörer: „Ich brauche dich hier, jetzt!“

Er hatte kaum aufgelegt, da stand sein Priestertumskollege an seiner Seite, half mit den Kindern aus und fuhr dann mit Bruder Hamblin dem Rettungswagen, in dem Kristin lag, hinterher Richtung Krankenhaus. Dort wurde Kristin weniger als 40 Minuten, nachdem ihr die Augen zugefallen waren, von den Ärzten für tot erklärt.

Während Brett schluchzte, hielt Edwin ihn fest und weinte mit ihm – eine sehr lange Zeit. Dann überließ er Brett der gemeinsamen Trauer mit anderen Angehörigen, die zusammengekommen waren, und fuhr zum Bischof, um ihm zu berichten, was gerade geschehen war. Ein wunderbarer Bischof machte sich sofort auf den Weg zum Krankenhaus, während Edwin zum Haus der Hamblins fuhr. Dort spielten er und seine Frau Charlotte, die ebenfalls herbeigeilt war, mit den fünf nun mutterlosen Kindern im Alter zwischen zwölf und drei Jahren. Sie machten ihnen Abendessen, veranstalteten mit ihnen spontan ein kleines Konzert und halfen ihnen, sich bettfertig zu machen.

Brett erzählte mir später: „Das Erstaunliche an der Geschichte ist nicht, dass Edwin gekommen ist, als ich angerufen habe. In einem Notfall gibt es immer jemanden, der bereit ist, zu helfen. Nein, das Erstaunliche ist, dass er derjenige war, der mir eingefallen ist. Es gibt viele andere in der Nähe. Kristin hat einen Bruder und eine Schwester, die keine fünf Kilometer entfernt wohnen. Wir haben einen hervorragenden Bischof, den besten überhaupt. Aber Edwin und ich haben eine so gute Beziehung, dass ich instinktiv ihn angerufen habe, als ich Hilfe brauchte. Die Kirche bietet eine Struktur, mit der wir das zweite Gebot besser leben können – unseren Brüdern und Schwestern liebevoll zu helfen und Beziehungen zu ihnen aufzubauen, die uns Gott näherbringen.“11

Edwin sagte über das Erlebnis: „Elder Holland, das Eigenartige daran ist, dass Brett viel länger der Heimlehrer unserer Familie war als umgekehrt. In all der Zeit hat er uns eher als Freund besucht als aus Pflichtgefühl. Er ist ein leuchtendes Vorbild, der Inbegriff eines aktiven und engagierten Priestertumsträgers. Meine Frau, unsere Söhne und ich sehen ihn nicht als jemanden, der sich verpflichtet fühlt, uns am Ende des Monats eine Botschaft zu überbringen. Wir betrachten ihn als Freund, der am Ende der Straße um die Ecke wohnt und alles Erdenkliche tun würde, um uns ein Segen zu sein. Ich bin froh, dass ich ihm ein kleines bisschen von dem zurückgeben konnte, was ich ihm schulde.“12

Brüder und Schwestern, gemeinsam mit Ihnen spreche ich jedem früher so genannten „Gemeindelehrer“, jedem Heimlehrer und jeder Besuchslehrerin in der Geschichte unserer Kirche, die derart treu liebevollen Dienst am Nächsten geleistet haben, meine Hochachtung aus. Wir beten heute dafür, dass jeder Mann und jede Frau – und auch unsere älteren Jungen Männer und Jungen Damen – diese Generalkonferenz mit dem tiefen Wunsch verlassen, sich aufrichtig gemeint um andere zu kümmern, angetrieben allein von der reinen Christusliebe. Mögen wir ungeachtet dessen, was wir für unsere Einschränkungen und Unzulänglichkeiten halten, – und wir alle haben Herausforderungen – Seite an Seite mit dem Herrn des Weingartens arbeiten 13 und dem Gott und Vater von uns allen bei seiner überwältigenden Aufgabe zur Hand gehen, Gebete zu erhören, Trost zu spenden, Tränen zu trocknen und müde Knie zu stärken14. Wenn wir dies tun, werden wir mehr wie die wahren Jünger Christi sein, die wir sein sollen. Mögen wir an diesem Ostersonntag einander so lieben, wie er uns geliebt hat.15 Darum bete ich im Namen Jesu Christi. Amen.