2010–2019
Getrennt, aber dennoch eins
Herbst-Generalkonferenz 2017


Getrennt, aber dennoch eins

In der Kirche erwartet der Herr von uns, dass wir trotz unserer Unterschiede eins sind.

Im Juni 1994 fuhr ich aufgeregt von der Arbeit nach Hause, weil ich mir das Weltmeisterschaftsspiel unserer Fußballnationalmannschaft im Fernsehen anschauen wollte. Bald nachdem ich mich auf den Weg gemacht hatte, sah ich von weitem auf dem Gehweg einen Mann im Rollstuhl, der sich schnell vorwärts bewegte. Mir fiel auf, dass der Rollstuhl mit unserer brasilianischen Flagge geschmückt war. Da wusste ich, dass auch er nach Hause wollte, um sich das Spiel anzusehen!

Als unsere Wege sich kreuzten, begegneten sich unsere Blicke, und ich fühlte mich für den Bruchteil einer Sekunde mit diesem Mann eng verbunden. Wir fuhren in unterschiedliche Richtungen, kannten einander nicht und körperlich wie gesellschaftlich waren unsere Lebensbedingungen völlig verschieden, aber dennoch fühlten wir uns durch unsere gemeinsame Leidenschaft für Fußball und die Liebe zu unserem Land in diesem einen Augenblick vereint. Ich habe den Mann seither nicht mehr gesehen, aber auch heute, Jahrzehnte später, kann ich immer noch seine Augen vor mir sehen und die starke Verbundenheit mit diesem Mann spüren. Immerhin gewannen wir in diesem Jahr das Spiel und auch die Weltmeisterschaft.

In der Kirche erwartet der Herr von uns, dass wir trotz unserer Unterschiede eins sind. Er hat im Buch Lehre und Bündnisse gesagt: „Seid eins; und wenn ihr nicht eins seid, dann seid ihr nicht mein.“1

Wenn wir alle ein Gemeindehaus betreten, um Gott gemeinsam zu verehren, sollten wir unsere Unterschiede wie Rasse, sozialer Status, politische Vorlieben, akademische und berufliche Leistungen hinter uns lassen und uns stattdessen auf unsere gemeinsamen geistigen Ziele besinnen. Wir singen gemeinsam Lieder, denken während des Abendmahls über die gleichen Bündnisse nach, sagen nach Ansprachen, Unterrichtsstunden und Gebeten gleichzeitig hörbar „Amen“ und drücken damit aus, dass wir dem Gesagten gemeinsam zustimmen.

Das, was wir gemeinsam tun, hilft uns, in der Gemeinde ein starkes Gefühl der Einigkeit zu erzeugen.

Was unsere Einigkeit jedoch wirklich bestimmt, festigt oder zerstört, ist unser Verhalten, wenn wir mit den Mitgliedern der Kirche nicht zusammen sind. Wie wir alle wissen, ist es unvermeidlich und normal, dass wir irgendwann über die anderen reden.

Je nachdem, was wir über die anderen sagen, führen unsere Worte entweder dazu, dass unsere „Herzen in Einigkeit … verbunden“2 sind, wie es Alma an den Wassern Mormon sagte, oder sie höhlen die Liebe, das Vertrauen und das Wohlwollen aus, das unter uns herrschen sollte.

Es gibt Bemerkungen, die die Einigkeit unterschwellig zerstören, wie: „Ja, er ist ein guter Bischof, aber du hättest ihn mal sehen sollen, als er noch jung war!“

Eine erbaulichere Version hiervon könnte sein: „Der Bischof ist sehr gut, und er ist im Laufe der Jahre noch viel reifer und weiser geworden.“

Oft stecken wir jemanden auf Dauer in eine Schublade. Wir sagen etwa: „Unsere FHV-Leiterin ist ein hoffnungsloser Fall. Sie ist ja dermaßen stur!“ Stattdessen könnten wir sagen: „Die FHV-Leiterin ist in letzter Zeit weniger flexibel. Vielleicht macht sie gerade eine schwere Zeit durch. Helfen wir ihr und unterstützen wir sie!“

Brüder und Schwestern, wir haben kein Recht, jemanden als unfertiges Produkt abzustempeln. Das gilt auch für unsere kirchlichen Kreise. Stattdessen sollten unsere Worte über unsere Mitmenschen unseren Glauben an Jesus Christus und sein Sühnopfer widerspiegeln und dass wir uns in ihm und durch ihn stets bessern können.

Manche fangen an, Führer und Mitglieder der Kirche wegen Kleinigkeiten zu kritisieren und sich von ihnen zu distanzieren.

So war es auch bei einem Mann namens Simonds Ryder, der sich 1831 der Kirche anschloss. Nachdem er eine Offenbarung gelesen hatte, die für ihn bestimmt war, war er verwundert, dass darin fälschlicherweise Rider stand – mit einem i statt mit einem y. Seine Reaktion darauf führte dazu, dass er den Propheten in Frage stellte, und schließlich zu dessen Verfolgung und dazu, dass Simonds Ryder von der Kirche abfiel.3

Es ist auch wahrscheinlich, dass wir alle einmal von unseren Führern in der Kirche zurechtgewiesen werden. Das ist dann ein Test, ob wir mit ihnen eins sind.

Ich war erst elf, aber ich weiß noch, dass vor 44 Jahren das Gemeindehaus, wo meine Familie zur Kirche ging, umfassend renoviert werden sollte. Vor Beginn der Renovierung fand eine Versammlung statt, bei der die vor Ort zuständigen Führungsbeamten sowie diejenigen aus dem Gebiet besprachen, wie die Mitglieder bei dieser Maßnahme mitarbeiten sollten. Mein Vater, der zuvor jahrelang über diese Einheit präsidiert hatte, vertrat mit Nachdruck seine Ansicht, dass diese Arbeit von einem Bauunternehmer und nicht von Amateuren ausgeführt werden sollte.

Seine Meinung wurde nicht nur zurückgewiesen, sondern wir hörten, wie er bei dieser Zusammenkunft heftig und öffentlich zurechtgewiesen wurde. Nun war er ein Mann, der in der Kirche sehr engagiert war, der im Zweiten Weltkrieg als Soldat in Europa gewesen war und der es gewohnt war, Widerstand zu leisten und für das zu kämpfen, woran er glaubte. Man fragte sich, wie er nach diesem Vorfall wohl reagieren würde. Würde er auf seiner Meinung beharren und sich dem bereits gefassten Beschluss weiterhin entgegenstellen?

Wir hatten in unserer Gemeinde bereits Familien gesehen, die im Evangelium schwächer geworden waren und die nicht mehr zu den Versammlungen kamen, weil sie mit den Führungsbeamten nicht eins sein konnten. Ich selbst hatte erlebt, dass viele meiner Freunde aus der PV als Jugendliche nicht treu blieben, weil ihre Eltern an anderen in der Kirche immer wieder etwas auszusetzen hatten.

Mein Vater beschloss jedoch, mit den anderen Heiligen weiterhin eins zu sein. Als sich ein paar Tage später Mitglieder unserer Gemeinde trafen, um beim Umbau zu helfen, „bat“ er uns als Familie, ihm zum Gemeindehaus zu folgen, wo wir uns für jede erforderliche Hilfe zur Verfügung stellen sollten.

Ich war außer mir. Ich hätte ihn gerne gefragt: „Vati, warum um alles in der Welt helfen wir beim Umbau mit, wenn du doch dagegen warst, dass die Mitglieder es machen?“ Sein Gesichtsausdruck aber hielt mich davon ab. Und da ich die erneute Weihung wohlbehalten miterleben wollte, beschloss ich glücklicherweise, zu schweigen und einfach mitzugehen und bei den Bauarbeiten zu helfen.

Mein Vater hat das neue Gemeindehaus nicht mehr gesehen, denn er starb, bevor die Arbeiten abgeschlossen waren. Unsere Familie aber, nunmehr unter der Führung meiner Mutter, tat auch weiterhin ihren Teil, bis alles fertig war. Dadurch fühlten wir uns nach wie vor mit meinem Vater, den anderen Mitgliedern der Kirche, unseren Führungsbeamten und vor allem mit dem Herrn verbunden.

Kurz vor seinem qualvollen Leiden in Getsemani betete Jesus für seine Apostel und uns alle, die Heiligen, zum Vater und sagte: „Alle sollen eins sein: Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir bin.“4

Brüder und Schwestern, ich bezeuge: Wenn wir uns vornehmen, mit den Mitgliedern und den Führern der Kirche eins zu sein – wenn wir zusammen sind, vor allem aber auch dann, wenn wir nicht zusammen sind –, fühlen wir uns auch umfassender mit unserem Vater im Himmel und dem Erretter vereint. Im Namen Jesu Christi. Amen.