2010–2019
Das heilende Salböl der Vergebung
April 2016


Das heilende Salböl der Vergebung

Die Vergebung ist ein herrlicher, heilender Grundsatz. Wir brauchen nicht zweimal zum Opfer zu werden. Wir können vergeben.

Alles, was von Gott kommt, ist von Liebe, Licht und Wahrheit umfangen. Doch als Menschen leben wir in einer gefallenen Welt, die mitunter voller Finsternis und Verwirrung ist. Es überrascht nicht, dass Ungerechtigkeiten auftreten, Fehler gemacht und Sünden begangen werden. Infolgedessen gibt es keine Seele, die nicht irgendwann zum Opfer der Unachtsamkeit oder des verletzenden oder gar sündigen Verhaltens eines anderen wird. So etwas erleben wir alle.

Glücklicherweise hat Gott in seiner Liebe und Barmherzigkeit seinen Kindern einen Weg bereitet, wie sie die zeitweise turbulenten Erfahrungen des Lebens bewältigen können. Er hat einen Ausweg für alle geschaffen, die den Übeltaten anderer zum Opfer fallen. Er hat uns verkündet, dass wir vergeben können! Wir mögen zwar einmal zum Opfer werden, doch brauchen wir es nicht noch ein zweites Mal werden, indem wir Hass, Bitterkeit, Schmerz, Groll oder gar Rachegelüste wie eine Last mit uns herumtragen. Wir können vergeben und dadurch frei sein!

Vor vielen Jahren drang ein kleiner Holzsplitter in meinen Finger, als ich einen Zaun ausbesserte. Ich versuchte eher nachlässig, den Splitter zu entfernen, und dachte, er sei nicht mehr da, aber dem war offenbar nicht so. Im Laufe der Zeit wuchs Haut über den Splitter und es entstand ein Knoten an meinem Finger. Das hat mich gestört und tat manchmal weh.

Jahre später beschloss ich, endlich etwas dagegen zu unternehmen. Ich strich einfach Salbe auf den Knoten und deckte ihn mit einem Verband ab. Dies wiederholte ich öfters. Sie können sich nicht vorstellen, wie überrascht ich war, als ich eines Tages den Verband abnahm und der Splitter aus meinem Finger hervorgekommen war.

Die Salbe hatte die Haut weich gemacht und dem, was mir so viele Jahre lang Schmerzen bereitet hatte, einen Ausweg verschafft. Kaum war der Splitter entfernt, heilte der Finger schnell. Heute deutet nichts mehr auf eine Verletzung hin.

In vergleichbarer Weise trägt ein nicht vergebungsbereites Herz so viel unnötigen Schmerz in sich. Wenn wir das heilende Salböl aus dem Sühnopfer des Herrn auftragen, erweicht er unser Herz und hilft uns, uns zu ändern. Er kann die verwundete Seele heilen (siehe Jakob 2:8).

Ich bin überzeugt, dass die meisten von uns vergeben wollen, aber es fällt uns sehr schwer. Wenn wir Ungerechtigkeit erfahren, kommen wir leicht zu dem Schluss: „Dieser Mensch hat einen Fehler begangen. Er verdient eine Strafe. Wo bleibt die Gerechtigkeit?“ Irrigerweise meinen wir, falls wir vergeben, werde der Gerechtigkeit irgendwie nicht Genüge getan und es folge keine Strafe.

Das stimmt einfach nicht. Gott wird eine gerechte Strafe zumessen, denn die Barmherzigkeit kann die Gerechtigkeit nicht berauben (siehe Alma 42:25). Gott versichert Ihnen und mir liebevoll: „Überlasst mir allein den Richterspruch, denn er ist mein, und ich werde vergelten. Friede sei mit euch.“ (LuB 82:23.) Der Prophet Jakob aus dem Buch Mormon hat zudem verheißen: „[Gott] wird euch in euren Bedrängnissen trösten, und er wird sich eurer Sache annehmen und Gerechtigkeit auf diejenigen herabkommen lassen, die nach eurer Vernichtung trachten.“ (Jakob 3:1.)

Wenn wir als Opfer glaubenstreu sind, können wir tiefen Trost in dem Wissen finden, dass Gott uns für jede Ungerechtigkeit, die uns widerfährt, entschädigen wird. Elder Joseph B. Wirthlin sagte: „Die Glaubenstreuen werden vom Herrn für jeden Verlust entschädigt. … Jede heute vergossene Träne [wird] eines Tages hundertfach mit Tränen der Freude und der Dankbarkeit vergolten.“1

Wenn wir uns bemühen, anderen zu vergeben, sollten wir auch nicht vergessen, dass wir alle geistig wachsen, aber auch alle auf unterschiedlichen Entwicklungsstufen stehen. Es ist einfach, die Veränderungen und das Wachstum an unserem physischen Körper zu erkennen, aber schwierig, das Wachstum unseres Geistes wahrzunehmen.

Ein Schlüssel dazu, anderen zu vergeben, besteht in dem Bemühen, sie so zu betrachten, wie Gott sie sieht. Zuweilen mag Gott den Vorhang teilen und uns mit der Gabe segnen, in das Herz, die Seele und den Geist dessen zu blicken, der uns verletzt hat. Dieser Einblick kann sogar dazu führen, dass man von großer Liebe zu diesem Menschen erfüllt wird.

Aus den heiligen Schriften wissen wir, dass Gott seine Kinder auf vollkommene Weise liebt. Er kennt ihr Potenzial, Gutes hervorzubringen, ungeachtet dessen, was in ihrer Vergangenheit war. Nach allem, was man weiß, konnte es keinen streitbareren, entschiedeneren Feind der Anhänger Jesu Christi geben als Saulus von Tarsus. Doch kaum hatte Gott dem Saulus Licht und Wahrheit gezeigt, wurde dieser zum hingebungsvollsten, leidenschaflichsten und furchtlosesten Jünger des Erretters. Saulus wurde zum Apostel Paulus. Sein Leben ist ein wunderbares Beispiel dafür, dass Gott die Menschen nicht nur so sieht, wie sie gegenwärtig sind, sondern auch so, wie sie werden können. In unser aller Leben gibt es Menschen wie Saulus, die das Potenzial haben, ein Paulus zu werden. Können Sie sich vorstellen, wie unsere Familie, unser Wohnort und die Welt als Ganzes sich verändern könnten, wenn wir alle den Versuch unternähmen, einander so zu sehen, wie Gott uns sieht?

Allzu oft betrachten wir einen Übeltäter so, wie wir einen Eisberg betrachten würden – wir sehen nur die Spitze und blicken nicht unter die Oberfläche. Wir wissen nicht alles, was im Leben eines Menschen vorgeht. Wir kennen seine Vergangenheit nicht, auch nicht die Kämpfe, die er durchmacht, und nicht den Schmerz, den er in sich trägt. Brüder und Schwestern, bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Etwas zu vergeben heißt nicht, es gutzuheißen. Wir rechtfertigen schlechtes Verhalten nicht und erlauben niemandem, uns zu misshandeln, nur weil er Kämpfe durchmacht, einen Schmerz oder Schwäche in sich trägt. Doch wir können ein umfassenderes Verständnis und Frieden erlangen, wenn wir den Blick erweitern.

Sicherlich begeht manch einer, der geistig weniger reif ist, möglicherweise schwere Fehler – doch niemand von uns sollte nur an seinen schlimmsten Taten gemessen werden. Gott ist der vollkommene Richter. Er blickt unter die Oberfläche. Er weiß alles und sieht alles (siehe 2 Nephi 2:24). Er hat gesagt: „Ich, der Herr, vergebe, wem ich vergeben will, aber von euch wird verlangt, dass ihr allen Menschen vergebt.“ (LuB 64:10.)

Als Christus ungerechtfertigten Anschuldigungen ausgesetzt war und dann grausam geschmäht und geschlagen wurde und schließlich am Kreuz litt, sagte er, genau in jenem schwersten Moment: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ (Lukas 23:34.)

In unserer Kurzsichtigkeit ist es uns manchmal ein Leichtes, Abneigung gegenüber anderen zu empfinden, die nicht so handeln oder denken wie wir. Allein aufgrund der Tatsache, dass der andere eine andere Sportmannschaft unterstützt oder andere politische oder religiöse Ansichten hat, nehmen wir möglicherweise eine intolerante Haltung ein.

Präsident Russell M. Nelson hat uns einen weisen Rat erteilt. Er sagte: „Die Gelegenheit, jemandem zuzuhören, der eine andere religiöse oder politische Überzeugung hat, kann die Toleranz fördern und den Horizont erweitern.“2

Im Buch Mormon wird von einer Zeit berichtet, als „das Volk der Kirche anfing, im Stolz seiner Augen überheblich zu werden …, dass sie anfingen, einer den anderen zu verachten, und sie fingen an, diejenigen zu verfolgen, die nicht glaubten, wie sie wollten und wie es ihnen gefiel“ (Alma 4:8). Denken wir doch alle daran, dass Gott nicht auf die Farbe des Trikots oder die Parteizugehörigkeit achtet. Vielmehr ist es so, wie Ammon sagte: „[Gott] schaut auf alle Menschenkinder hernieder; und er kennt alle Gedanken und Absichten des Herzens.“ (Alma 18:32.) Brüder und Schwestern, falls wir bei den Wettkämpfen des Lebens siegen, sollten wir würdevoll siegen. Falls wir verlieren, sollten wir würdevoll verlieren. Denn wenn wir im Leben gnädig zueinander sind, wird am letzten Tag Gnade unser Lohn sein.

Wir alle sind zwar ab und an das Opfer der Übeltaten anderer, manchmal sind aber auch wir der Übeltäter. Wir alle machen Fehler und brauchen Gnade, Barmherzigkeit und Vergebung. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Vergebung unserer Sünden und Vergehen daran gebunden ist, dass wir anderen vergeben. Der Erretter hat gesagt:

„Denn wenn ihr den Menschen ihre Verfehlungen vergebt, dann wird euer himmlischer Vater auch euch vergeben.

Wenn ihr aber den Menschen nicht vergebt, dann wird euch euer Vater eure Verfehlungen auch nicht vergeben.“ (Matthäus 6:14,15.)

Aus allem, was der Erretter in das bemerkenswert kurze Vaterunser hätte aufnehmen können, wählte er interessanterweise auch die Worte: „Und erlass uns unsere Schulden, wie auch wir sie unseren Schuldnern erlassen haben.“ (Matthäus 6:12; siehe auch 3 Nephi 13:11.)

Vergebung ist genau der Grund, weshalb Gott seinen Sohn sandte. Freuen wir uns doch alle über sein Angebot, uns alle zu heilen! Das Sühnopfer des Erretters ist für diejenigen, die umkehren müssen, ebenso da wie für diejenigen, die vergeben müssen. Falls es Ihnen schwerfällt, jemand anders oder auch sich selbst zu vergeben, bitten Sie Gott um Hilfe. Die Vergebung ist ein herrlicher, heilender Grundsatz. Wir brauchen nicht zweimal zum Opfer zu werden. Wir können vergeben.

Ich lege Zeugnis ab für die anhaltende Liebe und Geduld, die Gott all seinen Kindern entgegenbringt, und für seinen Wunsch, dass wir einander so lieben mögen, wie er uns liebt (siehe Johannes 15:9,12). Wenn wir das tun, durchbrechen wir die Finsternis dieser Welt und treten in die Herrlichkeit seines erhabenen Reiches im Himmel ein. Dann sind wir frei. Im Namen Jesu Christi. Amen.

Anmerkungen

  1. Joseph B. Wirthlin, „Was immer kommen mag – nimm es freudig an“, Liahona, November 2008, Seite 28

  2. Russell M. Nelson, „Zuhören, um zu lernen“, Der Stern, Juli 1991, Seite 23