2010–2019
Die Barmherzigen finden Erbarmen
April 2012


Die Barmherzigen finden Erbarmen

Wenn unser Herz mit der Liebe Gottes erfüllt ist, sind wir gütig und barmherzig zueinander, und wir vergeben einander.

Meine lieben Brüder und Schwestern, vor kurzem erhielt ich einen Brief von einer besorgten Mutter, die mich bat, bei der Konferenz über ein bestimmtes Thema zu sprechen, das besonders für ihre beiden Kinder nützlich wäre. Zwischen ihnen war eine Kluft entstanden, und sie sprachen nicht mehr miteinander. Die Mutter war untröstlich. Sie versicherte mir in dem Brief, dass eine Generalkonferenzansprache über diese Problematik ihre Kinder miteinander versöhnen und alles wieder gut werden würde.

Die aufrichtige, tiefempfundene Bitte dieser guten Schwester war nur einer von mehreren Anstößen, die ich in den vergangenen Monaten erhalten habe, dass ich heute ein paar Worte zu einem Gegenstand sagen soll, der zunehmend Sorge bereitet – nicht nur einer beunruhigten Mutter, sondern vielen in der Kirche und sogar in der Welt.

Ich bin beeindruckt vom Glauben dieser liebevollen Mutter, dass eine Konferenzansprache dazu beitragen könne, die Beziehung zwischen ihren Kindern wiederherzustellen. Ich bin sicher, dass sie ihr Vertrauen weniger in die Fähigkeiten der Sprecher, sondern vielmehr in „die Kraft des Gotteswortes“ gesetzt hat, das eine „mächtigere Wirkung auf den Sinn des Volkes [hat als] sonst etwas“1. Liebe Schwester, ich bete darum, dass der Geist Ihre Kinder innerlich berührt.

Wenn Beziehungen sich verschlechtern

Angespannte und zerbrochene Beziehungen sind so alt wie die Menschheit selbst. Kain war dazumal der Erste, der es zuließ, dass Bitterkeit und Bosheit ihm wie ein Krebsgeschwür das Herz zerfraßen. Er bestellte den Boden seiner Seele mit Neid und Hass und ließ diese Gefühle reifen, bis er das Undenkbare tat: Er ermordete seinen eigenen Bruder und wurde damit der Vater der Lügen des Satans.2

Seit diesen frühen Tagen haben Neid und Hass zu einigen der tragischsten Begebenheiten der Geschichte geführt. Dadurch wurde Saul gegen David aufgebracht, die Söhne Jakobs gegen ihren Bruder Josef, Laman und Lemuel gegen Nephi und Amalikkja gegen Moroni.

Ich nehme an, dass jeder Mensch auf Erden schon auf irgendeine Weise von den zerstörerischen Auswirkungen von Streit, Groll und Rachsucht betroffen war. Vielleicht gibt es sogar Zeiten, zu denen wir eine solche Sinneshaltung in uns selbst erkennen. Wenn wir verletzt sind, wütend oder neidisch, ist es recht leicht, andere zu verurteilen, wobei wir ihnen niedere Beweggründe für ihr Verhalten unterstellen, um unseren eigenen Groll zu rechtfertigen.

Die Lehre

Natürlich wissen wir, dass das falsch ist. Die Lehre ist klar: Wir alle sind vom Erlöser abhängig, niemand kann ohne ihn errettet werden. Das Sühnopfer Christi ist unbegrenzt und ewig. Die Vergebung unserer Sünden ist an Bedingungen geknüpft. Wir müssen umkehren, und wir müssen willens sein, anderen zu vergeben. Jesus mahnte: „Ihr sollt einander vergeben; denn wer … nicht vergibt, der steht schuldig vor dem Herrn; denn auf ihm verbleibt die größere Sünde“3 und: „Selig die Barmherzigen, denn sie werden Erbarmen finden“.4

Natürlich erscheinen einem diese Worte absolut vernünftig – wenn man sie auf jemand anderen bezieht. Wir sehen so klar und leicht die schädlichen Folgen, die sich einstellen, wenn andere urteilen und Groll hegen. Und es gefällt uns ganz sicher nicht, wenn man über uns urteilt.

Denn wenn es um unsere eigenen Vorurteile und unseren eigenen Unmut geht, rechtfertigen wir unseren Ärger allzu oft als gerecht und unser Urteil als zuverlässig und nur angemessen. Obwohl wir dem anderen nicht ins Herz blicken können, meinen wir, schlechte Motive oder sogar einen schlechten Menschen sofort erkennen zu können. Wir machen eine Ausnahme, wenn wir selbst verbittert sind, weil wir das Gefühl haben, dass wir in unserem Fall alle nötigen Informationen haben, um jemanden zu verachten.

Der Apostel Paulus sagte in seinem Brief an die Römer, dass derjenige, der andere richtet, „unentschuldbar“ ist. In dem Moment, wann wir einen anderen richten, verurteilen wir laut Paulus uns selbst, da ja keiner ohne Sünde ist.5 Vergebung zu verweigern ist eine schwerwiegende Sünde – eine, vor der der Erlöser gewarnt hat. Selbst die Jünger Jesu „haben Anlass gegeneinander gesucht und einander in ihrem Herzen nicht vergeben; und wegen dieses Übels sind sie bedrängt und schwer gezüchtigt worden“6.

Der Heiland hat sich zu diesem Thema so klar geäußert, dass nur wenig Spielraum für eigene Auslegung bleibt. Er hat gesagt: „Ich, der Herr, vergebe, wem ich vergeben will, aber von euch wird verlangt, dass ihr allen Menschen vergebt.“7

Ich möchte hier gern eine Fußnote hinzufügen: Wenn der Herr verlangt, dass wir allen Menschen vergeben, gehören auch wir selbst dazu. Manchmal ist es am allerschwersten, sich selbst zu vergeben, und manchmal ist der, der uns aus dem Spiegel anschaut, derjenige, der unserer Vergebung am meisten bedarf.

Unter dem Strich

Dieses Thema – andere richten – könnte man eigentlich mit vier Worten abhandeln. Wenn es um Hass geht, um Klatsch, Ignoranz, Spott, Groll oder den Wunsch, anderen schaden zu wollen, tun Sie bitte eines:

Hören Sie damit auf!

So einfach ist das. Wir müssen einfach aufhören, über andere zu urteilen, und statt solcher Gedanken und Gefühle im Herzen viel Liebe für Gott und seine Kinder hegen. Gott ist unser Vater. Wir sind seine Kinder. Wir sind alle Brüder und Schwestern. Ich weiß nicht recht, wie ich diesen Punkt, nämlich andere nicht zu richten, so beredsam, leidenschaftlich und überzeugend vorbringen kann, dass es wirklich haften bleibt. Ich kann Schriftstellen zitieren, ich kann versuchen, die Lehre darzulegen, und ich werde sogar den Wortlaut von einem Aufkleber zitieren, den ich vor kurzem an einer Stoßstange gesehen habe. Er klebte hinten an einem Auto, dessen Besitzer ein wenig kantig zu sein schien. Aber die Lektion, die aus den Worten auf dem Aufkleber hervorgeht, war aufschlussreich. Da stand: „Verurteile mich nicht, nur weil ich auf andere Weise sündige als du.“

Wir müssen erkennen, dass wir alle unvollkommen sind – wir sind Bittsteller vor Gott. Sind wir nicht alle irgendwann einmal zerknirscht vor den Gnadenthron getreten und haben um Gnade gefleht? Haben wir uns nicht mit der ganzen Kraft unserer Seele Barmherzigkeit gewünscht – gewünscht, dass uns unsere Fehler und Sünden vergeben werden?

Wenn wir alle von der Gnade Gottes abhängig sind, wie können wir anderen dann jedwedes Maß dieser Gnade verweigern, die wir uns so verzweifelt für uns selbst wünschen? Meine lieben Brüder und Schwestern, sollten wir nicht so vergeben, wie wir es uns für uns selbst wünschen?

Die Liebe Gottes

Ist das schwierig?

Ja, natürlich.

Uns selbst und anderen zu vergeben, ist nicht leicht. Genau genommen erfordert es für die meisten von uns eine größere Veränderung unserer Haltung und Denkweise – ja, sogar eine Herzenswandlung. Aber es gibt auch eine gute Nachricht. Diese „mächtige Wandlung“8 im Herzen ist genau das, was das Evangelium Jesu Christi bei uns hervorbringen soll.

Wie geht das vor sich? Durch die Liebe Gottes.

Wenn unser Herz von der Liebe Gottes erfüllt ist, geschieht mit uns etwas Gutes und Reines. Wir halten „seine Gebote … Seine Gebote sind nicht schwer. Denn alles, was von Gott stammt, besiegt die Welt.“9

Je mehr wir zulassen, dass die Liebe Gottes unsere Gedanken und Gefühle beherrscht, desto mehr lassen wir zu, dass die Liebe für den Vater im Himmel in unserem Herzen anschwillt, und desto leichter ist es, andere mit der reinen Christusliebe zu lieben. Wenn wir unser Herz der glühenden Liebe Gottes öffnen, verschwinden schließlich die Finsternis und Kälte der Feindseligkeit und des Neids.

Wie immer ist Christus unser Vorbild. Mit seinen Lehren und seinem Leben hat er uns den Weg gezeigt. Er vergab den Schlechten, den gewöhnlichen Menschen und denjenigen, die darauf aus waren, ihn zu verletzen und ihm Schaden zuzufügen.

Jesus hat gesagt, es ist leicht, diejenigen zu lieben, die uns lieben; das tun ja selbst die Schlechten. Doch Jesus Christus lehrte ein höheres Gesetz. Seine Worte hallen durch die Jahrhunderte nach und sind für uns heute bestimmt. Sie gelten für jeden, der sein Jünger sein will. Sie gelten für Sie und für mich: „Liebt eure Feinde, segnet die, die euch fluchen, tut Gutes denen, die euch hassen, und betet für die, die euch böswillig behandeln und euch verfolgen.“10

Wenn unser Herz mit der Liebe Gottes erfüllt ist, sind wir gütig und barmherzig zueinander, und wir vergeben einander, weil auch Gott uns durch Christus vergeben hat.11

Die reine Liebe Christi kann bewirken, dass unsere Sicht nicht mehr durch Feindseligkeit und Zorn getrübt ist und dass wir die anderen so sehen, wie der Vater im Himmel uns sieht: als fehlerhafte und unvollkommene Sterbliche, die jedoch solches Potenzial haben und so wertvoll sind, dass es unsere Vorstellungskraft weit übersteigt. Weil Gott uns so sehr liebt, müssen auch wir einander lieben und einander vergeben.

Der Weg des Jüngers

Meine lieben Brüder und Schwestern, betrachten Sie die folgenden Fragen einmal als Selbsttest:

Hegen Sie gegen jemanden Groll?

Reden Sie schlecht über andere, auch wenn das, was Sie sagen, vielleicht wahr ist?

Schließen Sie andere aus, schieben Sie sie beiseite oder bestrafen Sie für etwas, was sie getan haben?

Beneiden Sie insgeheim jemand anderen?

Möchten Sie jemandem Schaden zufügen?

Falls Sie eine dieser Fragen mit Ja beantwortet haben, können Sie die vier Worte von vorhin anwenden: Hören Sie damit auf!

In einer Welt, wo Anschuldigungen und Unfreundlichkeit vorherrschen, ist es leicht, Steine zu sammeln und zu werfen. Aber denken wir doch an die Worte unseres Meisters und Vorbilds, ehe wir so handeln: „Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als Erster einen Stein.“12

Brüder und Schwestern, legen wir doch unsere Steine wieder hin.

Seien wir freundlich.

Vergeben wir.

Sprechen wir friedlich miteinander.

Lassen wir zu, dass die Liebe Gottes unser Herz erfüllt.

Tun wir allen Menschen Gutes.13

Der Herr hat verheißen: „Gebt, dann wird auch euch gegeben werden. In reichem, vollem, gehäuftem, überfließendem Maß wird man euch beschenken; denn nach dem Maß, mit dem ihr messt und zuteilt, wird auch euch zugeteilt werden.“14

Sollte diese Verheißung nicht Motivation genug sein, dass wir uns stets vor allem darum bemühen, freundlich zu sein, zu vergeben und Nächstenliebe zu üben, statt andere schlecht zu behandeln?

Lassen Sie uns als Jünger Christi doch Böses mit Gutem vergelten.15 Trachten wir doch nicht nach Vergeltung, und lassen wir nicht zu, dass uns Zorn übermannt.

„Denn in der Schrift steht: Mein ist die Rache, ich werde vergelten, spricht der Herr.

Wenn dein Feind Hunger hat, gib ihm zu essen, wenn er Durst hat, gib ihm zu trinken; …

Lass dich nicht vom Bösen besiegen, sondern besiege das Böse durch das Gute!“16

Denken Sie daran: Am Ende sind es die Barmherzigen, die Erbarmen finden.17

Lassen Sie uns als Mitglieder der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage, wo immer wir auch sein mögen, als ein Volk bekannt sein, das „einander liebt“.18

Lieben Sie einander

Brüder und Schwestern, es gibt in diesem Leben schon genug Kummer und Leid. Wir müssen es durch unseren Starrsinn, unsere Verbitterung und unsere Feindseligkeit nicht noch schlimmer machen.

Wir sind nicht vollkommen.

Unsere Mitmenschen sind nicht vollkommen.19 Menschen tun so manches, was einen stört, enttäuscht oder ärgert. So wird es im Leben auf Erden immer sein.

Trotzdem müssen wir von unserem Unmut ablassen. Der Zweck des Erdenlebens besteht zum Teil darin, dass wir lernen, Derartiges hinter uns zu lassen. Das ist die Weise des Herrn.

Bedenken Sie, dass der Himmel voll ist von Menschen, die eines gemein haben: Ihnen wurde vergeben. Und sie vergeben ihrerseits.

Legen Sie Ihre Last dem Erlöser zu Füßen. Lassen Sie davon ab, zu richten. Lassen Sie zu, dass das Sühnopfer Christi Ihr Herz wandelt und heilt. Lieben Sie einander. Vergeben Sie einander.

Die Barmherzigen finden Erbarmen.

Davon gebe ich Zeugnis, im Namen desjenigen, der so gut und so vollkommen geliebt hat, dass er sein Leben für uns, seine Freunde, hingab. Im heiligen Namen Jesu Christi. Amen.