2000–2009
Moralische Disziplin
Oktober 2009


Moralische Disziplin

Moralische Disziplin bedeutet, dass man beständig so von seiner Entscheidungsfreiheit Gebrauch macht, dass man das Rechte wählt, weil es richtig ist – auch dann, wenn es schwierig ist.

Während des Zweiten Weltkriegs bewarb sich Präsident James E. Faust, damals ein junger Soldat der US-Armee, für die Offiziersschule. Er erschien vor einer Auswahlkommission, die laut seiner Beschreibung aus „hartgesottenen Berufssoldaten“ bestand. Nach einer Weile wandten sich die Fragen der Kommission religiösen Belangen zu. Die letzte Frage lautete:

„Sollte der Sittenkodex in Kriegszeiten nicht etwas gelockert werden? Rechtfertigt die Belastung, der die Männer auf dem Schlachtfeld ausgesetzt sind, nicht, dass sie manches tun, was sie unter normalen Umständen zu Hause nicht tun würden?“

Präsident Faust berichtet:

„Mir wurde klar, dass ich hier die Chance hatte, vielleicht ein paar Punkte zu sammeln und tolerant zu erscheinen. Ich wusste ganz genau, dass die Männer, die mir diese Frage stellten, nicht nach den Maßstäben lebten, die ich gelehrt worden war. Der Gedanke durchzuckte mich, dass ich vielleicht sagen könnte, ich hätte meine eigenen Ansichten, wolle sie aber niemandem aufdrängen. Doch vor meinem geistigen Auge schienen die Gesichter der vielen Menschen aufzublitzen, die ich als Missionar das Gesetz der Keuschheit gelehrt hatte. Schließlich sagte ich nur: ‚Ich glaube nicht, dass es eine Doppelmoral gibt.‘

Als ich aus der Anhörung ging, hatte ich mich bereits mit der Tatsache abgefunden, dass die Antworten, die ich gegeben hatte, nicht gut angekommen waren … und dass man mich bestimmt ziemlich weit unten einstufen würde. Ein paar Tage später, als die Ergebnisse bekannt gegeben wurden, hatte ich zu meiner Verwunderung bestanden. Ich war in der ersten Gruppe, die für die Offiziersschule angenommen wurde! …

Das war eine der prägenden Erfahrungen meines Lebens.“1

Präsident Faust erkannte, dass wir alle die von Gott stammende Gabe der sittlichen Selbständigkeit besitzen – das Recht, Entscheidungen zu treffen, und die Pflicht, die Verantwortung für diese Entscheidungen zu übernehmen (siehe LuB 101:78). Er verstand und demonstrierte auch, dass sittliche Selbständigkeit von moralischer Disziplin begleitet werden muss, wenn etwas Gutes dabei herauskommen soll.

Mit „moralischer Disziplin“ meine ich Selbstdisziplin, die auf Moralgrundsätzen beruht. Moralische Disziplin bedeutet, dass man beständig so von seiner Entscheidungsfreiheit Gebrauch macht, dass man das Rechte wählt, weil es richtig ist – auch dann, wenn es schwierig ist. Sie lehnt ein ichbezogenes Leben ab, damit sich durch christliches Dienen ein Charakter, der Achtung verdient, und wahre Größe entwickeln können (siehe Markus 10:42-45). Im Englischen haben Disziplin (discipline) und Jünger (disciple) denselben Wortstamm, was darauf hinweist, dass Übereinstimmung mit dem Beispiel und den Lehren Jesu Christi die ideale Form der Disziplin ist, die – gepaart mit seiner Gnade – jemanden zu einem tugendhaften und moralisch vortrefflichen Menschen macht.

Die moralische Disziplin Jesu gründete sich darauf, dass er dem Vater nachfolgte. Seinen Jüngern erklärte er: „Meine Speise ist es, den Willen dessen zu tun, der mich gesandt hat, und sein Werk zu Ende zu führen.“ (Johannes 4:34.) Nach ebendiesem Muster gründet sich unsere moralische Disziplin auf Treue und Ergebenheit gegenüber dem Vater und dem Sohn. Das Evangelium Jesu Christi sorgt für die moralische Sicherheit, auf der moralische Disziplin beruht.

Viele von uns leben in einer Gesellschaft, die es schon seit mehr als einer Generation versäumt hat, zu moralischer Disziplin anzuhalten. Es wurde verbreitet, dass Wahrheit relativ sei und jeder für sich entscheide, was richtig ist. Begriffe wie Sünde und falsch wurden als „Werturteile“ verworfen. Der Herr beschreibt dies so: „Jedermann wandelt auf seinem eigenen Weg und nach dem Abbild seines eigenen Gottes.“ (LuB 1:16.)

Das hat zur Folge, dass Selbstdisziplin kaum noch eine Rolle spielt und die Gesellschaft jetzt darauf angewiesen ist, Ordnung und Anstand mit Gewalt durchzusetzen. Ein Mangel an Selbstbeherrschung des Einzelnen begünstigt die Fremdbeherrschung durch den Staat. Ein Kolumnist stellte fest: „Kavaliersmanieren [zum Beispiel] schützten [einst] die Frauen vor anstößigem Verhalten. Heutzutage erwarten wir, dass Anstößigkeiten durch Gesetze gegen sexuelle Belästigung unterbunden werden. …

Polizisten und Gesetze können aber niemals Bräuche, Traditionen und moralische Werte als Mittel zur Reglementierung menschlichen Verhaltens ersetzen. Bestenfalls stellen Polizei und Strafjustiz die letzte Bastion einer zivilisierten Gesellschaft in auswegloser Lage dar. Dass wir zunehmend auf Gesetze zur Verhaltensregelung bauen, zeigt doch deutlich, wie unzivilisiert wir geworden sind.“2

In den meisten Teilen der Welt haben wir einen ausgedehnten, verheerenden Wirtschaftsabschwung erlebt. Dieser hatte eine Vielzahl von Auslösern, aber eine der Hauptursachen war ein weit verbreitetes unehrliches und unethisches Verhalten, vor allem an den amerikanischen Immobilien- und Finanzmärkten. Im Mittelpunkt der Gegenmaßnahmen stehen mehr und strengere Vorschriften. Vielleicht bringt das einige von prinzipienlosem Verhalten ab, aber andere werden einfach nur kreativer darin werden, Gesetze zu umgehen.3 Es kann nie genug Regeln geben, die so ins kleinste Detail ausgearbeitet sind, dass darin jede Situation vorausgesehen und abgedeckt wird, und selbst wenn es so wäre, wäre die Durchsetzung unbezahlbar und mühsam. Dieser Lösungsansatz führt dazu, dass die Freiheit eines jeden beschnitten wird – um es mit den denkwürdigen Worten von Bischof Fulton J. Sheen zu sagen: „Wir wollten das Joch Christi nicht auf uns nehmen, deshalb müssen wir jetzt vor dem Joch Cäsars zittern.“4

Letztlich können die Grundursachen und die Symptome des gesellschaftlichen Zerfalls nur wirksam bekämpft werden, wenn jeder Einzelne einen moralischen Kompass in sich trägt. Eine Gesellschaft wird vergebens um das Gemeinwohl kämpfen, wenn sie nicht Sünde als Sünde verurteilt und moralische Disziplin nicht ihren Platz in der Ruhmeshalle bürgerlicher Tugenden einnimmt.5

Moralische Disziplin lernt man zu Hause. Wir haben es zwar nicht in der Hand, was ein anderer macht oder nicht macht, aber die Heiligen der Letzten Tage können gewiss zu denjenigen gehören, die Tugendhaftigkeit vorleben und sie der heranwachsenden Generation einschärfen. Denken Sie an die jungen Männer aus der Geschichte des Buches Mormon, die entscheidend zum Sieg der Nephiten in dem langen Krieg von 66 bis 60 v. Chr. beitrugen – die Söhne des Volkes Ammon. Ihr Charakter und ihre Disziplin wurden so beschrieben:

„Es waren Männer, die zu allen Zeiten und in allem, was ihnen anvertraut war, treu waren.

Ja, es waren Männer der Wahrheit und Ernsthaftigkeit, denn man hatte sie gelehrt, die Gebote Gottes zu halten und untadelig vor ihm zu wandeln.“ (Alma 53:20,21.)

„Nun hatten sie noch niemals gekämpft, und doch fürchteten sie den Tod nicht; und sie dachten mehr an die Freiheit ihrer Väter als an ihr eigenes Leben; ja, ihre Mütter hatten sie gelehrt, dass, wenn sie nicht zweifelten, Gott sie befreien werde.“ (Alma 56:47.)

„Solcherart nun ist der Glaube derjenigen, von denen ich gesprochen habe; sie sind jung, und ihr Sinn ist standhaft, und sie setzen ihr Vertrauen beständig in Gott.“ (Alma 57:27.)

Hier finden wir einen Maßstab dafür, was bei uns zu Hause und in der Kirche geschehen soll. Was wir lehren, muss sich auf unseren Glauben stützen und in erster Linie darauf abzielen, der heranwachsenden Generation Glauben an Gott einzuflößen. Wir müssen verkünden, dass es absolut notwendig ist, die Gebote Gottes zu halten und in Ernsthaftigkeit untadelig oder, anders gesagt, ehrfürchtig vor ihm zu wandeln. Jeder muss davon überzeugt werden, dass es weitaus besser ist, zu dienen und für das Wohlergehen und das Glück anderer Opfer zu bringen, als die eigene Bequemlichkeit und den eigenen Besitz zur obersten Priorität zu machen.

Das erfordert mehr, als nur gelegentlich auf den einen oder anderen Grundsatz des Evangeliums hinzuweisen. Man muss ständig lehren, vor allem durch das eigene Beispiel. Präsident Henry B. Eyring beschrieb die Vision, die wir verwirklichen wollen:

„Das reine Evangelium Jesu Christi muss [unseren Kindern] durch die Macht des Heiligen Geistes ins Herz gepflanzt werden. Es reicht nicht aus, wenn sie ein geistiges Zeugnis von der Wahrheit empfangen haben und sich Gutes für später wünschen. Es reicht nicht aus, wenn sie auf Reinigung und Stärkung irgendwann in der Zukunft hoffen. Unser Ziel muss sein, dass sie sich wahrhaftig zum wiederhergestellten Evangelium Jesu Christi bekehren, solange sie in unserer Obhut sind. …

Dann werden sie Kraft aus dem ziehen, was sie sind, und nicht nur aus dem, was sie wissen. Sie werden zu Jüngern Christi.“6

Ich habe einige Eltern sagen hören, dass sie ihren Kindern das Evangelium nicht aufzwingen wollen, sondern diese selbst entscheiden lassen wollen, was sie glauben und wonach sie sich richten wollen. Diese Eltern meinen, dass sie es ihren Kindern auf diese Weise ermöglichen, Entscheidungsfreiheit auszuüben. Sie vergessen dabei, dass man die Wahrheit kennen muss, um die Entscheidungsfreiheit intelligent gebrauchen zu können; man muss wissen, wie etwas ist (siehe LuB 93:24). Wenn junge Menschen diese Kenntnis nicht haben, kann man wohl kaum erwarten, dass sie die Alternativen, die sich ihnen bieten, verstehen und beurteilen können. Eltern sollten bedenken, wie der Widersacher an ihre Kinder herantritt. Er und seine Anhänger werben nicht für Objektivität, sondern verfechten energisch und in allen Medien Sünde und Selbstsucht.

Wer dem Evangelium neutral gegenüberstehen möchte, lehnt in Wirklichkeit die Existenz Gottes und seiner Autorität ab. Wir müssen jedoch ihn und seine Allwissenheit anerkennen, wenn wir wollen, dass unsere Kinder die Entscheidungen des Lebens klar abwägen und selbständig denken können. Sie sollen doch nicht aus trauriger Erfahrung lernen müssen, dass „schlecht zu sein … noch nie glücklich gemacht [hat]“ (Alma 41:10).

Ich kann Ihnen ein einfaches Beispiel aus meinem Leben erzählen, was Eltern tun können. Als ich etwa fünf oder sechs Jahre alt war, wohnten wir gegenüber einem kleinen Lebensmittelgeschäft. Einmal fragten mich zwei andere Jungen, ob ich mit ihnen in den Laden gehen wolle. Als wir begierig die zum Kauf angebotenen Süßigkeiten betrachteten, griff der ältere Junge plötzlich nach einem Schokoriegel und steckte ihn in seine Tasche. Er drängte den anderen Jungen und mich, es ihm nachzutun, und nach anfänglichem Zögern gaben wir nach. Dann verließen wir schnell den Laden und rannten in verschiedene Richtungen davon. Ich fand zu Hause ein Versteck und riss die Verpackung auf. Meine Mutter entdeckte mich mit meinem verräterisch schokoladenverschmierten Gesicht und begleitete mich zurück zum Lebensmittelgeschäft. Als wir die Straße überquerten, war ich sicher, dass ich lebenslänglich ins Gefängnis muss. Unter Schluchzen und Tränen entschuldigte ich mich beim Ladeninhaber und bezahlte ihm den Schokoriegel mit einem Zehncentstück, das meine Mutter mir geliehen hatte (und das ich mir später verdienen musste). Die Liebe und Disziplin meiner Mutter setzten meiner kriminellen Laufbahn ein jähes und frühes Ende.

Wir alle sind Versuchungen ausgesetzt. Dem Heiland erging es ebenso, doch er „schenkte ihnen … keine Beachtung“ (LuB 20:22). Gleichermaßen müssen auch wir nicht einfach nachgeben, bloß weil eine Versuchung auftaucht. Vielleicht wollen wir nachgeben, aber wir müssen es nicht. Eine junge Frau, die fest entschlossen war, das Gesetz der Keuschheit zu halten, wurde von einer skeptischen Freundin gefragt, wie es denn möglich sei, dass sie noch nie „mit jemandem geschlafen“ habe. „Willst du etwa nicht?“, wollte die Freundin wissen. Die junge Frau meinte dazu: „Die Frage ließ mich nicht los, weil sie so vollkommen abwegig war. … Wollen allein ist wohl kaum der richtige Maßstab für moralisches Verhalten.“7

In einigen Fällen kann Versuchung besonders machtvoll sein, wenn sie nämlich potenziell oder tatsächlich Abhängigkeit in sich birgt. Ich bin froh, dass die Kirche immer mehr Menschen therapeutische Hilfe unterschiedlicher Art dafür anbieten kann, Abhängigkeit zu vermeiden oder zu überwinden. Aber auch, wenn eine Therapie den Willen eines Menschen stärken kann – ersetzen kann sie ihn nicht. Es gehört immer auch Disziplin dazu – moralische Disziplin, die sich auf den Glauben an Gottvater und den Sohn gründet und auf den Glauben daran, was sie dank der sühnenden Gnade Jesu Christi mit uns erreichen können. Petrus hat es so ausgedrückt: „Der Herr kann die Frommen aus der Prüfung retten.“ (2 Petrus 2:9.)

Wir können nicht davon ausgehen, dass die Zukunft der Vergangenheit gleichen wird, dass die Gegebenheiten und Strukturen, auf die wir uns bis heute in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft verlassen haben, so bleiben werden wie bisher. Vielleicht hat unsere moralische Disziplin, wenn wir sie kultivieren, guten Einfluss auf andere und inspiriert sie dazu, den gleichen Kurs zu verfolgen. Dadurch nehmen wir vielleicht Einfluss auf künftige Trends und Ereignisse. Zumindest wird moralische Disziplin uns enorm beim Umgang mit allen erdenklichen Belastungen und Herausforderungen helfen, die in einer zerfallenden Gesellschaft auf uns zukommen können.

Wir haben während dieser Konferenz wohlüberlegte und inspirierte Botschaften gehört, und Präsident Thomas S. Monson wird gleich einige Schlussworte an uns richten. Wenn wir gebetsvoll darüber nachdenken, was wir gelernt und erneut gelernt haben, wird der Geist sicher zusätzliches Licht auf das werfen, was für jeden Einzelnen von uns besonders von Belang ist. Wir werden gestärkt werden in der moralischen Disziplin, die wir brauchen, um untadelig vor dem Herrn zu wandeln und mit ihm und dem Vater eins zu sein.

Ich bin mit den führenden Brüdern und mit Ihnen, meine Brüder und Schwestern, Zeuge dafür, dass Gott unser Vater ist und dass sein Sohn Jesus unser Erlöser ist. Ihr Gesetz ist unveränderlich; ihre Wahrheit währt für immer und ihre Liebe ist unendlich. Im Namen Jesu Christi. Amen.

  1. James E. Faust, Stories From My Life, 2001, Seite 2f.

  2. Walter Williams, „Laws Are a Poor Substitute for Common Decency, Moral Values“, Deseret News, 29. April 2009, Seite A15

  3. Als Präsident James E. Faust vor einigen Jahren vor Juristen sprach, mahnte er: „Es ist sehr riskant, wenn wir unser privates und berufliches Handeln danach ausrichten, was, legal‘ ist, anstatt danach, was, richtig‘ ist. Damit setzen wir buchstäblich unsere Seele aufs Spiel. Die Philosophie, dass das, was legal ist, auch richtig ist, beraubt uns des Höchsten und Besten in unserem Wesen. Ein Verhalten, das derzeit legal ist, liegt in vielen Fällen weit unter den Maßstäben einer zivilisierten Gesellschaft und ist Lichtjahre von den Lehren Christi entfernt. Wenn Sie sich das, was legal ist, als Maßstab für Ihr persönliches und berufliches Verhalten nehmen, dann versagen Sie sich das, was an Wert und Würde wirklich hervorragend an Ihnen ist.“ („Be Healers“, Clark Memorandum, Frühjahr 2003, Seite 3.)

  4. „Bishop Fulton John Sheen Makes a Wartime Plea“, in William Safire, Hg., Lend Me Your Ears, Great Speeches in History, überarbeitete Ausgabe, 1997, Seite 478

  5. Im Leitartikel des Wall Street Journals stand einmal zu lesen:

  6. Henry B. Eyring, in Shaun D. Stahle, „Inspiring Students to Stand Strong amid Torrent of Temptation“, Church News, 18. August 2001, Seite 5

  7. Sarah E. Hinlicky, „Subversive Virginity“, First Things, Oktober 1998, Seite 14