2000–2009
Die Macht der Geduld
Oktober 2006


Die Macht der Geduld

Geduld ist sicherlich eine Tugend, die zu anderen Tugenden führt. Sie trägt dazu bei, dass mit ihr verwandte Tugenden wie Vergebungsbereitschaft, Toleranz und Glauben sich weiter ausbilden.

Wie dankbar bin ich doch für die neuzeitlichen heiligen Schriften, die uns grundlegende christliche Tugenden vermitteln.

Das Buch Mormon zeigt auf, wie Geduld und Nächstenliebe zusammenhängen. Nachdem Mormon dargelegt hatte, dass ein Mensch, „wenn er keine Nächstenliebe hat, … nichts [ist]; darum muss er notwendigerweise Nächstenliebe haben“, zählte er die dreizehn Eigenschaften der Nächstenliebe oder reinen Christusliebe auf. Ich finde es besonders interessant, dass vier der dreizehn Eigenschaften dieser unerlässlichen Tugend mit Geduld zu tun haben (siehe Moroni 7:44,45).

Als Erstes „[ist] Nächstenliebe langmütig“. Genau darum geht es bei der Geduld. Dass sich Nächstenliebe „nicht leicht zum Zorn reizen“ lässt, ist ein weiteres Merkmal dieser Eigenschaft, außerdem „erträgt [sie] alles“. Und schließlich „erduldet [Nächstenliebe] alles“, worin sicherlich Geduld zum Ausdruck kommt (Moroni 7:45). An diesen beschreibenden Eigenschaften wird deutlich, dass uns, wenn Geduld nicht unsere Seele ziert, noch vieles dazu fehlt, in unserem Wesen Christus ähnlich zu werden.

In der Bibel zeigt Ijob das klassische Bild eines geduldigen Menschen. Selbst angesichts des Verlusts seines ausgedehnten Reichs, einschließlich seiner Kinder, konnte er aufgrund seines unerschütterlichen Glaubens ausrufen: „Der Herr hat gegeben, der Herr hat genommen; gelobt sei der Name des Herrn.“ Trotz seiner Drangsal und Schmerzen „sündigte Ijob nicht und äußerte nichts Ungehöriges gegen Gott“ (Ijob 1:21,22).

Wie oft hören wir die bedrückte Seele töricht fragen: „Wie konnte mir Gott das nur antun?“, wenn es doch eher angebracht wäre, dass sie um Kraft betet, alles ertragen und erdulden zu können.

In der Schrift findet man die großartigsten Beispiele für Geduld im Leben Jesu Christi. Seine Langmut und Ausdauer zeigen sich besonders in jener schmerzvollen Nacht in Getsemani, als er unter den Qualen des Sühnopfers betete: „Mein Vater, wenn es möglich ist, gehe dieser Kelch an mir vorüber. Aber nicht wie ich will, sondern wie du willst.“ (Matthäus 26:39.) Er hat wirklich gelitten und alles ertragen und erduldet.

Als er auf Golgota ans Kreuz geschlagen wurde, blieb Christus weiterhin ein vollkommenes Vorbild für Geduld, sprach er doch die einzigartigen Worte: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ (Lukas 23:34.)

Diese Beispiele für Geduld gewinnen für uns an Bedeutung, wenn wir die Ermahnung in 3 Nephi betrachten: „Darum: Was für Männer sollt ihr sein? Wahrlich, ich sage euch: So, wie ich bin.“ (3 Nephi 27:27.)

Mehrere Schriftstellen heben hervor, wie wichtig die Geduld ist. Lassen Sie mich ein paar davon anführen:

„Jeder Mensch soll schnell bereit sein zu hören, aber zurückhaltend im Reden und nicht schnell zum Zorn bereit.“ (Jakobus 1:19.)

„Dennoch hält es der Herr für richtig, sein Volk zu züchtigen; ja, er prüft ihre Geduld und ihren Glauben.“ (Mosia 23:21.)

In Mosia unterweist uns König Benjamin, dass wir so lange ein „natürlicher Feind Gottes“ sind, bis wir durch unsere Geduld und weitere Tugenden den Einflüsterungen des Heiligen Geistes nachgeben (siehe Mosia 3:19).

Joseph Smith erklärte: „Geduld ist himmlisch.“ (History of the Church, 6:427.)

Ist Geduld wichtig und ist sie es wert, dass wir darüber nachdenken und sie anstreben? Ganz bestimmt, wenn wir der beschämenden Einstufung „nichts“ entgehen wollen, womit diejenigen bezeichnet werden, die keine Nächstenliebe besitzen; wenn es unser Wunsch ist, immer weniger ein natürlicher Feind Gottes zu sein; wenn wir himmlisch sein und danach streben wollen, uns nach der Weise Christi zu entwickeln.

Der ungeduldige, natürliche Mensch zeigt sich uns überall. Er zeigt sich in Nachrichten über Eltern, die in einem Wutanfall ein Kind so misshandeln, dass es zu Tode kommt. Auf unseren Autobahnen führen Ungeduld oder Wut am Steuer zu schweren Unfällen, manchmal auch mit Todesfolge.

Weniger dramatisch, dafür umso alltäglicher, sind ein aufbrausendes Wesen und harsche Worte, die etwa in langen Warteschlangen, bei nicht enden wollenden Werbeanrufen oder gegenüber Kindern fallen, die nicht gleich auf unsere Anordnungen reagieren. Kommt Ihnen manches davon bekannt vor?

Glücklicherweise gibt es wunderbare Beispiele großer Geduld, über die allerdings nur selten berichtet wird. Vor kurzem nahm ich am Begräbnis eines langjährigen Freundes teil. Sein Sohn erzählte eine schöne Geschichte über elterliche Geduld. Als der Sohn noch jung war, besaß der Vater ein Motorradgeschäft. Einmal wurde eine Ladung glänzender neuer Motorräder geliefert, die nebeneinander im Geschäft aufgestellt wurden. Der Junge tat, was jeder Junge gerne tun würde: Er kletterte auf das Motorrad, das ihm am nächsten stand. Er ließ es sogar an. Als er dann dachte, dass er sein Glück genug strapaziert hatte, sprang er wieder ab. Zu seinem Entsetzen fiel dabei das erste Motorrad um. Dann kippten alle wie eine Reihe Dominosteine um, eins nach dem anderen. Sein Vater hörte den Lärm und lugte hinter der Trennwand, hinter der er arbeitete, hervor. Milde lächelnd sagte er: „Tja, mein Sohn, wir sollten wohl besser eins wieder herrichten und verkaufen, damit wir die restlichen bezahlen können.“

Ich glaube, die Antwort meines Freundes ist ein Paradebeispiel für elterliche Geduld.

Geduld ist sicherlich eine Tugend, die zu anderen Tugenden führt. Sie trägt dazu bei, dass mit ihr verwandte Tugenden wie Vergebungsbereitschaft, Toleranz und Glauben sich weiter ausbilden. Als Petrus den Herrn fragte, wie oft er seinem Bruder vergeben müsse, antwortete Christus „siebenundsiebzigmal“ und nicht nur „siebenmal“, wie Petrus vorgeschlagen hatte (siehe Matthäus 18:21,22). Siebenundsiebzigmal zu vergeben erfordert ganz bestimmt ein gehöriges Maß an Geduld.

Elder Neal A. Maxwell verknüpfte Geduld und Glauben miteinander, als er lehrte: „Geduld ist sehr eng mit dem Glauben an unseren himmlischen Vater verbunden. Wenn wir übermäßig ungeduldig sind, zeigen wir damit eigentlich, wir wüssten, was am besten ist, – besser, als Gott es weiß. Oder zumindest behaupten wir damit, unser Zeitplan sei besser als seiner.“ („Patience“, Ensign, Oktober 1980, Seite 28.)

Wir können nur dann im Glauben wachsen, wenn wir bereit sind, geduldig darauf zu warten, dass sich die Absichten und Pläne Gottes nach seinem Zeitplan in unserem Leben entfalten.

Wie können wir die göttliche Tugend Geduld entwickeln, wenn doch Ungeduld etwas so Natürliches ist? Wie verändern wir unser Verhalten, weg vom natürlichen Menschen und hin zu unserem geduldigen, vollkommenen Vorbild, Jesus Christus?

Zunächst müssen wir verstehen, dass diese Veränderung notwendig ist, wenn wir in den Genuss aller Segnungen des wiederhergestellten Evangeliums kommen wollen. Ein solches Verständnis könnte uns zu Folgendem anregen:

  1. Dass wir jede Schriftstelle lesen, die im Schriftenführer unter Geduld aufgeführt ist, und dann über die beispielhafte Geduld Christi nachsinnen.

  2. Dass wir uns selbst beurteilen, um festzustellen, wo wir uns auf der Geduldsskala befinden. Wie viel mehr Geduld brauchen wir, um Christus ähnlicher zu werden? Diese Selbsteinschätzung ist schwierig. Wir könnten unseren Ehepartner oder ein anderes Familienmitglied hierbei um Hilfe bitten.

  3. Dass wir die Beispiele für Geduld und Ungeduld, die wir täglich miterleben, bewusster wahrnehmen. Wir sollten danach trachten, denjenigen nachzueifern, die wir für geduldig halten.

  4. Dass wir uns täglich erneut erpflichten, geduldiger zu werden, und sicherstellen, dass das ausgewählte Familienmitglied in unser Geduldsprojekt eingebunden bleibt.

Das klingt nach einer ganzen Menge Arbeit, aber um ein lohnendes Ziel zu erreichen, ist immer harte Arbeit notwendig. Und es ist ein durchaus angebrachtes und notwendiges Ziel, den natürlichen Menschen zu überwinden und daran zu arbeiten, dass man, was die Geduld betrifft, Christus ähnlicher wird. Ich bete darum, dass wir diesem Pfad mit Fleiß und Hingabe folgen.

Ich bezeuge, dass Jesus der Messias ist und dass er an der Spitze dieser Kirche steht. Er leitet uns durch einen lebenden Propheten und segnet all unsere Bemühungen, Christus ähnlicher zu werden. Das bezeuge ich im heiligen Namen Jesu Christi. Amen.