2000–2009
Damit wir alle im Himmel beisammensitzen können
Oktober 2005


Damit wir alle im Himmel beisammensitzen können

Wenn wir ein Werkzeug in der Hand Gottes werden, werden wir von ihm genutzt, um sein Werk zu tun.

Wir sind heute Abend als Schwestern in einer allgemeinen FHV-Versammlung beisammen. Sie sehen prächtig aus. Dabei kommt mir unweigerlich die allererste FHV-Versammlung in den Sinn. Vor meinem geistigen Auge sehe ich, wie der Prophet Joseph Smith zu den Schwestern spricht und sie auf ihre Aufgabe beim Aufbau des Gottesreichs vorbereitet. Ich höre, wie die Frauen still für sich beten: „Ich habe gelobt, dein Werk zu tun. Herr, hilf mir nun, ein Werkzeug in deiner Hand zu werden.“ Dieses Gebet können auch wir sprechen.

In diesem Leben müssen wir alle so ein Werkzeug werden.

Mir gefällt, was Lucy Mack Smith gesagt hat. Sie war schon alt und gebrechlich, als sie sich in einer der ersten FHV-Versammlungen in Nauvoo erhob und zu den Schwestern sprach. Bedenken Sie: Diese Frau sprühte nur so vor Energie – sie war eine große Führerin. Sie war so eine Frau, wie ich sie auch heute in der FHV vorfinde. Doch an dem Tag sagte sie: „Wir müssen füreinander sorgen, übereinander wachen, einander trösten und Weisung erhalten, damit wir alle im Himmel beisammensitzen können.“1

Sie sagt also, dass die Schwestern „in den Händen Gottes zu Werkzeugen“2 werden sollen. Wer von uns sehnt sich denn nicht danach, umsorgt, behütet und getröstet und über das belehrt zu werden, was von Gott stammt? Wie kann das geschehen? Mit nur einer freundlichen Tat, einem liebevollen Wort, einer aufmerksamen Geste oder einer hilfsbereiten Hand. Doch ich spreche jetzt nicht die an, die diese Nächstenliebe in Anspruch nehmen, sondern alle, die jeden Tag in solcher Form Heiligkeit pflegen müssen. Joseph Smith hat gesagt, wie wir wie Jesus Christus werden können: „Sie müssen Ihre Seele erweitern, dass auch andere darin Platz haben.“3

Wir alle wünschen uns, die reine Christusliebe – oder Nächstenliebe – zu besitzen, doch das Menschliche – die „natürliche Frau“ in uns – kommt uns in die Quere. Wir werden zornig, wir sind enttäuscht, wir gehen mit uns und anderen ins Gericht, und dabei können wir natürlich nicht der Liebesbote sein, der wir sein sollen, wenn wir ein Instrument in den Händen des himmlischen Vaters sein wollen. Die Bereitschaft, sich selbst und anderen zu vergeben, ist ein fester Bestandteil unserer Fähigkeit, die Liebe des Herrn bei uns zu haben und sein Werk zu tun.

Als ich diese Ansprache vorbereitete, unternahm ich alles, was ich meines Wissens dafür tun musste: Ich ging in den Tempel, fastete, las in den Schriften, betete und schrieb ein Ansprache. Aber wenn man über Nächstenliebe schreiben will, muss man auch milde gestimmt sein – und das war ich nicht. Erst nach einigen Tränen und Gebeten wurde mir allmählich bewusst, dass ich diejenigen um Verzeihung bitten musste, die, ohne es zu wissen, die Ursache meiner lieblosen Gedanken waren. Das war schwer, aber heilsam, und ich bezeuge Ihnen, dass der Geist des Herrn zurückkehrte.

Ständig Nächstenliebe haben zu wollen, ist eine Lebensaufgabe, aber jeder Akt der Nächstenliebe ändert uns und denjenigen, der ihn vollbringt. Ich möchte Ihnen die Geschichte einer jungen Frau erzählen, die ich vor kurzem kennen gelernt habe. Alicia hatte sich als Teenager von der Kirche entfernt, fand sich später jedoch dazu bewogen, zurückzukommen. Sonntags besuchte sie oft ihren Großvater im Altenheim. An einem dieser Tage beschloss sie, die Versammlungen der Kirche dort zu besuchen. Sie öffnete die Tür und stand mitten in einer FHV-Versammlung, aber es war kein Platz frei. Als sie gerade wieder gehen wollte, gab eine Frau ihr Zeichen und rutschte zur Seite, um ihr auf ihrem Stuhl Platz zu machen. Alicia sagte: „Ich fragte mich, was die Frau wohl von mir denken würde. Ich hatte überall am Körper Piercings und roch nach Zigarette. Aber es schien ihr nichts auszumachen, sie machte einfach Platz für mich an ihrer Seite.“

Alicia, die von der Nächstenliebe dieser Frau ermutigt war, wurde wieder aktiv. Sie ist auf Mission und gibt jetzt die gleiche Art Nächstenliebe an andere Frauen weiter. Die ältere Schwester, die ihren Stuhl teilte, hatte verstanden, dass in der FHV wirklich Platz für jede Frau ist. Schwestern, wir versammeln uns, um uns zu stärken, aber wir bringen auch all unsere Schwächen und Mängel mit.

Alicia hat mir etwas erzählt, was ich nie vergessen werde. Sie sagte: „Es gibt nur eines, was ich für mich selbst tue, wenn ich in die Kirche gehe: Ich nehme das Abendmahl für mich. Die übrige Zeit achte ich darauf, ob mich andere brauchen, und ich versuche, ihnen zu helfen und sie aufzubauen.“

Wenn wir ein Werkzeug in der Hand Gottes werden, werden wir von ihm genutzt, um sein Werk zu tun. Wie Alicia müssen wir uns unseren Mitmenschen zuwenden und darauf Acht haben, wie wir sie aufbauen und ihnen helfen können. Wir müssen an diejenigen denken, die an der Tür stehen und hereinsehen, und sie zu uns holen – damit wir alle im Himmel beisammensitzen können. Manch eine von uns mag bezweifeln, dass es genug Platz für eine weitere Person auf unserem Stuhl gibt, aber es lassen sich immer Stühle finden, wenn wir in unserem Herzen Liebe haben.

1856 hatten die Schwestern Julia und Emily Hill, die als Teenager in England der Kirche beigetreten und von ihrer Familie enterbt worden waren, schließlich genug für ihre Reise nach Amerika gespart und hatten fast ihr lang ersehntes Zion erreicht. Sie überquerten gerade mit der Handkarrenabteilung Willey die Prärie, als sie und viele andere auf der Route von einem frühen Oktobersturm überrascht wurden. Schwester Deborah Christensen, eine Urenkelin von Julia Hill, hatte folgenden anrührenden Traum über sie. Sie sagte:

„Ich konnte Julia und Emily sehen, wie sie mit den anderen der Handkarrenabteilung Willey auf dem windigen Gipfel des Rocky Ridge im Schnee festsaßen. Sie hatten keine dicke Kleidung, die sie warm halten konnte. Julia saß zitternd im Schnee. Sie konnte nicht mehr weiter. Emily, die genauso fror, wusste, dass Julia sterben würde, wenn sie ihr nicht helfen würde. Als Emily die Arme um ihre Schwester legte, um ihr aufzuhelfen, fing diese an zu weinen – aber es kamen keine Tränen, sondern nur ein leises Wimmern. Zusammen gingen sie langsam zu ihrem Handkarren. Dreizehn Menschen starben in jener schrecklichen Nacht. Julia und Emily überlebten.“4

Schwestern, diese Frauen hätten ohne einander wahrscheinlich nicht überlebt. Außerdem halfen sie anderen, diesen verheerenden Abschnitt ihres Weges zu überstehen, so auch einer jungen Mutter mit Kindern, nämlich Emily Hill Woodmansee, die später den wunderbaren Text zu dem Lied „Als Schwestern in Zion“ schrieb. Die Zeile „und trösten und stärken nach seinem Geheiß“5 nimmt eine ganz neue Bedeutung an, wenn man sich vorstellt, was sie in der schneebedeckten Prärie erlebt hat.

Genau wie diese beiden Schwestern werden viele von uns die Prüfungen unseres irdischen Lebens nicht ohne die Hilfe anderer überstehen. Genauso richtig ist: Wenn wir anderen helfen, halten wir unseren Geist lebendig. Lucy Mack Smith und die Schwestern damals in der FHV spürten die reine Christusliebe, Nächstenliebe, die keine Grenzen kennt. Sie hatten die Wahrheiten des Evangeliums, die sie im Leben führten, sie hatten einen lebenden Propheten, sie hatten einen Vater im Himmel, der ihre Gebete hörte und erhörte – genau wie wir. Bei der Taufe haben wir den Namen Jesu Christi auf uns genommen. Wir tragen diesen Namen jeden Tag, und der Geist gibt uns ein, dass wir im Einklang mit den Lehren des Erretters leben sollen. Wenn wir das tun, werden wir ein Werkzeug in der Hand Gottes. Und der Geist hebt uns auf eine höhere Ebene des Guten empor.

Mehr als sonst wo tut sich Nächstenliebe im Sühnopfer Jesu Christi kund, das uns als Geschenk gegeben wurde. Wenn wir eifrig nach dieser Gabe streben, dann müssen wir nicht nur willens sein, sie zu empfangen, sondern auch, sie mit anderen zu teilen. Wenn wir diese Nächstenliebe anderen gewähren, können wir „in den Händen Gottes zu Werkzeugen [werden], dieses große Werk zuwege zu bringen“.6 Wir werden dann bereit sein, uns mit unseren Schwestern im Himmel hinzusetzen, und zwar gemeinsam.

Ich gebe Zeugnis vom Erretter. Er lebt und er liebt uns. Er weiß, was wir werden können – trotz aller derzeitigen Unvollkommenheit. Im Namen Jesu Christi. Amen.

  1. Relief Society Minutes, 24. März 1842, Archiv der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage, Seite 18f.

  2. Alma 26:3

  3. Relief Society Minutes, 28. April 1842, Seite 39

  4. Debbie J. Christensen, „Julia and Emily: Sisters in Zion“, Ensign, Juni 2004, Seite 34

  5. Gesangbuch, Nr. 207

  6. Alma 26:3