2000–2009
„Weide meine Schafe!“
Oktober 2004


„Weide meine Schafe!“

Uns ist eine hohe Verantwortung auferlegt. Dazu gehört, dass wir diejenigen suchen, die nicht bei uns sind, und ihnen Zuneigung entgegenbringen und sie in unsere Mitte einladen.

Als junger Missionar in Mexiko wurde ich in einer Kleinstadt im Bundesstaat Veracruz als Zweigpräsident berufen. Mein Mitarbeiter und ich gingen die Mitgliedsscheine unseres kleinen Zweiges durch und stießen auf den Schein eines Bruders, der zum Diakon ordiniert worden war, aber die Versammlungen nicht besuchte.

Wir vereinbarten einen Termin mit ihm. Wir unterhielten uns mit ihm und luden ihn ein, die Versammlungen zu besuchen und seine Aufgaben als Priestertumsträger zu erfüllen. Am Sonntag darauf kam er, aber er war nicht ordentlich gekleidet und unrasiert. Also klärten wir ihn darüber auf, dass man zu den heiligen Priestertumsaufgaben, wozu auch das Austeilen des Abendmahls gehört, sauber und ordentlich erscheinen muss. Er diente treu und sein Leben wandelte sich dadurch sehr. Der Zweig war mein letztes Arbeitsgebiet auf Mission vor meiner Rückkehr nach Hause. Kurz vor meiner Abreise kam dieser gute Bruder auf mich zu, umarmte mich, hob mich vom Boden hoch und wirbelte mich in seinen Armen durch die Luft. Dabei liefen ihm Tränen über die Wangen und er sagte: „Danke, dass Sie gekommen sind und mir geholfen haben.“

Manchmal verlieren wir unser Ziel aus den Augen und irren ab. Manchmal verletzt jemand unsere Gefühle oder es treten andere Probleme auf. Das Ergebnis ist dasselbe – wir versäumen, Anspruch auf die Segnungen zu erheben, die wir bekommen könnten. Wir können Stolz, Misstrauen, Falschheit, Mutlosigkeit und allerlei Sünden ablegen, wenn wir eine Wandlung im Herzen erleben und dem Weg folgen, den der Erretter uns gezeigt hat. Er sagt: „Lerne von mir und höre auf meine Worte; wandle in der Sanftmut meines Geistes, dann wirst du Frieden haben in mir.“ (LuB 19:23.) Jesus Christus hat uns freigekauft. Er liebt jeden von uns und ist für jeden da, der zu ihm kommen und ihm folgen will.

Jeder von uns sehnt sich tief im Inneren nach dem Guten. Wenn dieses Verlangen mit den ewigen Wahrheiten des Evangeliums und durch das Zeugnis des Heiligen Geistes genährt wird, nimmt es zu und führt uns schließlich zur Fülle der Wahrheit. Es muss durch Liebe und liebevolle Fürsorge geweckt und dann unablässig genährt werden. Man kann das mit dem Anpflanzen prachtvoller Blumen vergleichen. Die beständige Hege und Pflege erzielt mit der Zeit schöne Blüten, die jedem, der sie sieht, Freude bereiten.

Auch Vergebungsbereitschaft ist unverzichtbar, um in das Reich des Vaters im Himmel zurückkehren und dort glücklich sein zu können. Vielleicht werden wir eines Tages gekränkt oder man tut uns Unrecht. Das kann für uns zu einem Stolperstein werden und uns von unserem ewigen Ziel abbringen, nämlich die Rückkehr in die Gegenwart unseres Himmlischen Vaters. Der Erretter hat uns im Vaterunser gezeigt, wie wichtig Vergebungsbereitschaft ist. Er hat gesagt: „Und erlass uns unsere Schulden, wie auch wir sie unseren Schuldnern erlassen haben.“ (Matthäus 6:12.) Daraus erkennen wir, dass uns nur vergeben wird, wenn wir anderen vergeben. Das kann mitunter schwer sein, wenn die Wunden tief sitzen und man sie schon lange Zeit mit sich herumträgt.

Doch in unseren, den Letzten Tagen, hat uns der Erretter diesen Grundsatz mit folgenden Worten noch eindringlicher klargemacht: „Meine Jünger in alten Tagen haben Anlass gegeneinander gesucht und einander in ihrem Herzen nicht vergeben; und wegen dieses Übels sind sie bedrängt und schwer gezüchtigt worden.

Darum sage ich euch: Ihr sollt einander vergeben; denn wer seinem Bruder dessen Verfehlungen nicht vergibt, der steht schuldig vor dem Herrn; denn auf ihm verbleibt die größere Sünde.

Ich, der Herr, vergebe, wem ich vergeben will, aber von euch wird verlangt, dass ihr allen Menschen vergebt.“ (LuB 64:8-10.) Wenn wir diesen Rat beherzigen, können wir jede Prüfung bestehen, und sei sie noch so schwer.

Wenn wir vergeben und das loslassen, was uns so schwer auf der Seele lastet und uns vom rechten Weg abgebracht hat, fällt eine große Last von uns und wir sind frei – frei, voranzugehen und im Evangelium Jesu Christi Fortschritt zu machen, wobei die Liebe in unserem Herzen wächst. Wir werden damit gesegnet, dass wir mehr Lebensfreude empfinden und dass uns leichter ums Herz ist. Eine Woge geistiger Kraft wird uns antreiben und wir werden dabei glücklich sein. Wir werden die Probleme der Vergangenheit ablegen wie abgetragene Kleidung. „Und nun sage ich euch: Der gute Hirte ruft nach euch; und wenn ihr auf seine Stimme hört, so wird er euch in seine Herde bringen und ihr seid seine Schafe.“ (Alma 5:60.)

Es kostet Mut, wieder zurückzukommen, nachdem man vom Weg des Erretters abgekommen ist. Ich verspreche Ihnen: Wenn Sie diesen Mut aufbringen und die notwendigen Schritte gehen, wird man Ihnen mit Liebe begegnen. Viele werden sich mit Ihnen freuen und Ihnen brüderlich die Hand reichen. Man wird sich um Sie kümmern und Ihr Herz wird voll Freude sein.

„Denkt daran, die Seelen haben großen Wert in den Augen Gottes; denn siehe, der Herr, euer Erlöser, erlitt den Tod im Fleische; darum hat er die Schmerzen aller Menschen gelitten, damit alle Menschen umkehren und zu ihm kommen können. …

Und wie groß ist seine Freude über die Seele, die umkehrt!“ (LuB 18:10,11,13.)

Wir sind alle Brüder und Schwestern, Kinder des Himmlischen Vaters. Wir müssen uns derer annehmen, die, aus welchem Grund auch immer, den Weg nicht mehr kennen. Wir lieben Sie und laden Sie ein, am Tisch Platz zu nehmen und an dem geistigen Festmahl teilzuhaben, das der Herr bereitet hat, damit Sie glücklich sind. Sie werden die Liebe des Himmlischen Vaters spüren, wenn Sie von Herzen willig und gehorsam sind, bereit, teilzuhaben und zu dienen. Er kennt Sie. Er weiß, was Sie brauchen und was Ihnen in Zukunft bevorsteht. Er hat vollkommenes Verständnis für die Gefühle, den Kummer und die Prüfungen, die jeder von uns hat. Deswegen und aufgrund des unbegrenzten Sühnopfers seines Sohnes, Jesus Christus, können Sie sich jeder Herausforderung stellen, die Ihnen im Leben begegnet.

Jesus Christus hat uns eine hohe Verantwortung auferlegt. Er hat gesagt: „Weide meine Schafe!“ (Johannes 21:17.) Dazu gehört, dass wir diejenigen suchen, die nicht bei uns sind, und ihnen Zuneigung entgegenbringen und sie in unsere Mitte einladen. Sie waren bei uns, als wir noch unseren ersten Stand hatten. Sie haben bei der Taufe und womöglich schon im Tempel heilige Bündnisse geschlossen. Jetzt brauchen sie unsere Hilfe.

Ich bete darum, dass jeder von uns an Verwandte, Freunde oder Bekannte denkt, die nicht alle Segnungen des Evangeliums genießen. Denken Sie an jene, für die Sie aufgrund Ihrer Berufung Verantwortung tragen. Überlegen Sie, was Sie tun können. Der Himmlische Vater wird Sie führen, wenn Sie nach seiner Hilfe trachten. Dann machen Sie sie ausfindig und laden Sie sie ein, voll und ganz in die Gemeinschaft zurückzukehren und sich an der wunderbaren Botschaft des wiederhergestellten Evangeliums Jesu Christi zu freuen. Bringen Sie Ihre Liebe zum Ausdruck und geben Sie Zeugnis. Bringen Sie ihnen wieder zu Bewusstsein, was sie früher verspürten, als sie noch von den ewigen Wahrheiten wussten, die sie mit Freude und Glück erfüllen.

Seien wir eifrig bestrebt, die abgeirrten Schafe zu sammeln, damit sie in der Herde sicher sein können. Er, „der mächtig ist zu erretten“ (2 Nephi 31:19), ist der gute Hirt und er liebt seine Schafe. Das bezeuge ich im Namen Jesu Christi. Amen.