2000–2009
Denkt daran, wie barmherzig der Herr gewesen ist
April 2004


Denkt daran, wie barmherzig der Herr gewesen ist

Wir alle tragen ein ganzes Bündel Erinnerungen mit uns umher. Sie können uns zu Bewusstsein bringen, „wie barmherzig der Herr … gewesen ist“.

Brüder, erlauben Sie mir bitte einen zwanglosen und dankerfüllten Rückblick auf mein Leben. Ich hoffe, er gleicht einer entspannten Unterhaltung, bei der ich von einigen Erinnerungen erzähle, von ein paar Dingen, die man so nebenher lernt – nichts Umwerfendes. Es sind auch ein paar Merksätze dabei, die sich durch Langlebigkeit wie durch Kürze auszeichnen. Die Erinnerungen konzentrieren sich vor allem darauf, wie der barmherzige Herr (siehe Moroni 10:3) mir zu Wachstum verholfen hat.

Wenn Sie eine dieser Erinnerungen auf sich anwenden können (siehe 1 Nephi 19:23), kann sich vielleicht später ein kurzes Vater-Sohn-Gespräch anschließen.

1. Gehen wir 60 Jahre zurück. Das Protokoll der Gemeinde Wandamere im Pfahl Grant gibt für den 4. Juni 1944 an, dass meine Freunde Ward K. Jackson, Arthur Hicks und ich für 141 Gemeindemitglieder den Abendmahlsdienst verrichteten. Dann ging es in den Krieg. Im Mai 1945 segnete ich wieder das Abendmahl – diesmal in einem Schützenloch in Okinawa, aber nur für einen, für mich!

Ich übernahm ohne jedes Aufhebens, was ich in meiner Jugend gelernt hatte – was ich damals kaum zu schätzen wusste; dazu gehörte, auf Kaffee zu verzichten, obwohl das Wasser knapp und mit viel Chlor versetzt war.

Ich weiß nicht, was euch jungen Männern bevorsteht, aber ich rate euch, euch anzuschnallen und an euren Grundsätzen festzuhalten!

2. In meiner PV-Zeit sangen wir „Gib, sagt der kleine Bach“ (Liederbuch für Kinder, Seite 116) – gewiss motivierend, aber nicht gerade mit theologischem Tiefgang. Heute singen die Kinder, wie Sie wissen, mehr auf das Geistige ausgerichtet: „Ich möchte so sein wie Jesus“ (Liederbuch für Kinder, Seite 40).

3. Damals waren wir, in der Familie, in der Nachbarschaft, in der Gemeinde und in der Schule, alle gemeinsam arm, aber es fiel uns nicht auf. Wir gaben uns gegenseitig Raum zu wachsen, dumme Fehler zu machen, umzukehren und langsam zumindest ein paar geistige Reflexe zu entwickeln. Heute wollen manche besorgten Eltern anscheinend immer wieder die Blumen ausreißen, um nachzusehen, wie es den Wurzeln geht.

4. Ob Sie jung sind oder alt, meine Brüder im Priestertum, seien Sie dankbar für Menschen, die Sie genug lieben, um Sie zu korrigieren und Sie an Ihre Maßstäbe und Möglichkeiten zu erinnern, selbst wenn Sie nicht daran erinnert werden wollen.

Ein lieber, inzwischen verstorbener Freund sagte mir vor Jahren, nachdem ich eine bissige Bemerkung gemacht hatte: „Du hättest den Tag auch ohne diesen Satz überstanden.“ Sein kurzer Tadel war liebevoll formuliert und belegt, dass eine Zurechtweisung ein Akt der Zuneigung sein kann.

5. Wenn die, die wir lieben, als Beispiel dienen, ist das besonders einprägsam. Meine Schwester Lois, von Geburt an nahezu blind, kam nicht nur zurecht, sondern leistete 33 Jahre lang als Schullehrerin gute Arbeit. Sie hatte den gleichen Reflex, der die Pioniere dazu veranlasste, ruhig ihren Handkarren aufzunehmen und gen Westen zu ziehen – einen Reflex, den wir alle brauchen. Sollte Ihnen die eine oder andere Prüfung auferlegt werden, dann trinken Sie diesen bitteren Kelch des Lebens, aber ohne selbst zu verbittern.

6. Gleich nach meiner Rückkehr aus dem Zweiten Weltkrieg hatte ich ein Versprechen einzulösen — ich wollte sofort auf Mission gehen und nicht länger auf den Bischof warten. In meinem frühen Bestreben, die Lade Gottes festzuhalten, ging ich also zum Bischof und sagte, ich hätte genug Geld gespart und wolle die Sache nun in Angriff nehmen. Der Bischof zögerte und meinte dann, er habe schon vorgehabt, mich zu fragen, ob ich gehen wolle.

Jahre später erfuhr ich vom treuen Gemeindesekretär dieses Bischofs, dass der Bischof das Gefühl gehabt hatte, ich brauchte noch etwas mehr Zeit bei meiner Familie, nachdem ich ein Zehntel meines Lebens so weit fort gewesen war. Als ich das hörte, tadelte ich mich selbst wegen meines vorschnellen Urteils. (Siehe Bruce C. Hafen, A Disciple’s Life: The Biography of Neal A. Maxwell, 2002, Seite 129f.)

Kein Wunder, dass Elder Henry B. Eyrings Vater in seiner Weisheit einmal die Bemerkung machte, der Herr habe eine vollkommene Kirche gehabt, ehe er uns alle hineinließ!

7. Zwei für junge Väter bedeutsame Erinnerungen: Als solcher hatte ich gerade einen Telefonanruf erhalten und vom Unfalltod eines Freundes erfahren. Ich saß im Wohnzimmer und die Tränen liefen mir über die Wangen. Unser kleiner Sohn Cory sah meine Tränen, als er im Flur vorbeiging. Ich erfuhr, dass ihn die Annahme beunruhigte, ich weinte, weil er mich irgendwie enttäuscht habe. Er wusste nichts von dem Telefonat. Brüder, uns ist gar nicht bewusst, wie aufrichtig und wie oft unsere Kinder uns Freude machen wollen.

8. Da ich praktisch keine mathematischen Fähigkeiten besitze, konnte ich unseren Kindern selten, wenn überhaupt, bei Mathematik und Naturwissenschaften helfen. Einmal bat mich unsere Tochter Nancy, die zur Highschool ging, um „ein wenig Hilfe“ in Bezug auf den vom Obersten Gerichtshof verhandelten Fall „Fletcher gegen Peck“. Ich wollte unbedingt helfen, nachdem ich so oft nicht hatte helfen können. Endlich durfte ich zeigen, was ich kann! Ich brachte alles hervor, was ich über „Fletcher gegen Peck“ wusste. Schließlich sagte meine Tochter frustriert: „Vati, ich brauche nur ein wenig Hilfe!“ Ich hatte meinem Bedürfnis nachgegeben, anstatt ihr „ein wenig Hilfe“ zu geben.

Wir verehren einen Herrn, der uns Weisung um Weisung gibt, Brüder; wenn wir also unsere Kinder das Evangelium lehren, wollen wir sie damit nicht überschütten.

9. Später sah ich manche die Kirche verlassen, die sie dann einfach nicht in Ruhe lassen konnten. Oft schoben sie ihre intellektuellen Vorbehalte vor, um eigenes Fehlverhalten zu verdecken (siehe Neal A. Maxwell, All These Things Shall Give Thee Experience, 1979, Seite 110). So etwas werden Sie auch erleben. Sie sollten übrigens nicht davon ausgehen, dass die Welt für ihre Probleme sehr effektive Lösungen bereithält. Solche Lösungen nehmen sich oft wie etwas aus, was C. S. Lewis beschrieben hat – da laufen die Leute bei einer Überschwemmung mit Feuerlöschern herum (siehe The Screwtape Letters, 1959, Seite 117f.). Allein das Evangelium hat immer Geltung, und es gibt keinen brauchbaren Ersatz dafür.

10. Als ich einmal mit Elder Russell M. Nelson und seiner Frau unterwegs war, verließen wir unser Hotel in Bombay, um mit dem Flugzeug nach Karachi zu fliegen und von dort weiter nach Islamabad. Als wir auf dem chaotischen Flughafen ankamen, war der Flug abgesagt worden. Ungeduldig fragte ich den Mann am Schalter: „Was sollen wir jetzt tun? Einfach aufgeben und zum Hotel zurückkehren?“ Ausgesprochen würdevoll erwiderte er: „Sir, man kehrt niemals zum Hotel zurück.“ Wir klapperten also den ganzen Flughafen ab, fanden einen Flug, schafften es zu unserer Verabredung in Islamabad und konnten sogar eine Nacht richtig schlafen. So ist das Leben manchmal: Wir müssen vorwärts streben und ertragen, dass Hoffnungen zunichte werden, und uns weigern, „ins Hotel“ zurückzukehren! Andernfalls wirkt es sich auf unser ganzes Leben aus, wenn wir immer wieder aufgeben. Der Herr weiß außerdem, was für einen weiten Weg wir noch vor uns haben, ehe wir uns zur Ruhe betten können.

11. Als ich 1956 nach mehreren Jahren aus Washington, D.C. zurückkehrte, wurde mir, nachdem ich dort einige attraktive Stellenangebote ausgeschlagen hatte, eine Stelle an der University of Utah angeboten. Meine Frau meinte, ich solle sie annehmen. In weiser Voraussicht sagte sie: „Ich glaube, dass du dort einen guten Einfluss auf die Studenten ausüben kannst.“ Ungeduldig erwiderte ich, ich würde doch nur Pressemitteilungen tippen und mit den Studenten gar nichts zu tun haben. Doch dann ergaben sich neue Möglichkeiten: Ich wurde Bischof einer Studentengemeinde, Dekan für studentische Angelegenheiten und hielt vor hunderten guten Studenten Vorlesungen in Politologie. Dabei kam es natürlich nicht auf den Status an, sondern darauf, wie ich wachsen konnte und Möglichkeiten erhielt zu dienen.

Eine Ehefrau ist oft inspiriert, auch wenn wir Männer mitunter instinktiv anderer Ansicht sind – eine Tatsache, junge Männer, die euch euer Vater einmal erläutern kann, wenn er den Mut dazu findet.

12. Es ist auch interessant, wie wir nach und nach bei unseren Enkelkindern Erwartungen wecken, auch wenn wir es gar nicht merken. Vor einigen Jahren – unser Enkel Robbie war etwa fünf – kamen wir einmal auf einen Sprung bei seiner Familie in Orem vorbei. Er schlief gerade oben, als seine Mutter ihn rief: „Robbie, Opa Neal ist da!“ Von oben erklang ein müdes Stimmchen: „Soll ich meine Schriften mitbringen?“

Er war zwar eigentlich noch zu klein zum Lesen, trug sie aber bei sich, wie so viele das heute in der Kirche tun!

Brüder, wir alle tragen ein ganzes Bündel Erinnerungen mit uns umher. Sie können uns zu Bewusstsein bringen, „wie barmherzig der Herr … gewesen ist“ (Moroni 10:3). Er ist es gewiss zu mir gewesen!

Brüder, wenn Sie Ihren Willen Gott unterwerfen, geben Sie ihm das Einzige, was Sie ihm geben können, was tatsächlich Ihnen gehört. Warten Sie nicht zu lange, bis Sie den Altar finden oder anfangen, die Gabe Ihres Willens darauf zu legen! Wir brauchen nicht auf eine Empfangsbestätigung zu warten, denn der Herr erkennt es auf seine Weise an.

Ich bezeuge: Gott kennt Sie persönlich, Brüder, und zwar schon sehr, sehr lange (siehe LuB 93:23). Er liebt Sie schon sehr, sehr lange. Er kennt den Namen aller Sterne (siehe Psalm 147:4, Jesaja 40:26) und er kennt Ihren Namen und all Ihren Kummer und Ihre Freuden! Übrigens gab es noch nie einen unsterblichen Stern; am Ende erlöschen sie alle. Neben Ihnen aber sitzen heute Abend unsterbliche Wesen – unvollkommen zwar, aber doch bestrebt, „wie Jesus“ zu sein! In seinem Namen, ja, im Namen Jesu Christi. Amen.