2000–2009
Nächstenliebe: Vollkommene und immerwährende Liebe
April 2002


Nächstenliebe: Vollkommene und immerwährende Liebe

Wenn wir immer mehr denken und handeln wie er, werden die Eigenschaften des natürlichen Menschen verschwinden und an ihre Stelle werden das Herz und der Sinn Christi treten.

Meine lieben Brüder und Schwestern, ich wünsche mir zu dieser Stunde nichts sehnlicher, als Zeugnis zu geben, mein ganz persönliches Zeugnis von der Liebe Gottes für mich, für Sie, für alle Menschen. Welcher Mensch könnte seiner tiefen Dankbarkeit für die Liebe Gottes hinreichend Ausdruck verleihen? Ich empfinde es als großen Segen, dass ich schon so viele Jahre mit Ihnen sein und die reine Christusliebe spüren darf, die Sie ausstrahlen. Ich stehe tief in Ihrer und in Gottes Schuld.

Was ist Nächstenliebe?

Der Herr hat gesagt, Nächstenliebe sei „die reine Christusliebe“1, „die größte Freude für die Seele“2, „die größte aller Gaben Gottes“3, vollkommen, immerwährend.4

So schwer es auch ist, die Nächstenliebe zu beschreiben, so ist sie doch im Leben derer, die sie besitzen, recht leicht zu erkennen.

  • Eine alte, verkrüppelte Großmutter, die eine Nachmittagszeitung abonniert hat, weil sie weiß, dass ihr Enkel, der die Zeitung austrägt, dann jeden Tag zu ihr nach Hause kommt, wo sie ihn, auf den Knien, das Beten lehrt.

  • Eine Mutter, die in wirtschaftlich schwierigen Zeiten, wo es kaum Fleisch gibt, zum Staunen aller am liebsten Hähnchenflügel mag.

  • Ein Mann, der unverdient in der Öffentlichkeit Schelte bezieht, dies aber demütig über sich ergehen lässt.

Diesen Beispielen ist die Nächstenliebe gemeinsam – Selbstlosigkeit, die nichts für sich verlangt. Dem entspringen wohl all unsere göttlichen Eigenschaften, sie sind alle darin eingeschlossen.5 Es mögen zwar alle Menschen die Gabe der Liebe haben, aber die Nächstenliebe wird nur denen verliehen, die wahre Nachfolger Christi sind.6

In den Eigenschaften der Frömmigkeit ist die Macht Gottes zu finden.7 Die Macht des Priestertums wird durch diese Eigenschaften gewahrt.8 Wir trachten nach diesen Eigenschaften, vor allem nach der Nächstenliebe, der reinen Christusliebe.9

Wer vernichtet Liebe und Frieden?

Aber da steht der Teufel, der diese Liebe vernichtet und Zorn und Feindseligkeit an ihre Stelle setzt.10 Mein Bekannter William verspürte diese Feindseligkeit. Ihm kam es so vor, als sei alles, was passierte, die Schuld des Herrn – eine Krankheit, ein Todesfall, ein widerspenstiges Kind, eine persönliche Schwäche, ein Gebet, das nicht erhört wurde – all das verhärtete sein Herz. Sein innerer Zorn, der jederzeit spontan ausbrechen konnte, richtete sich gegen Gott, gegen seine Mitmenschen und gegen ihn selbst. Aus seinem Herzen kamen Unglaube, Eigensinn, Stolz, Streit und ein Verlust an Hoffnung, Liebe und Zielstrebigkeit. Er fühlte sich elend!

Diese Eigenschaften, die den Frieden vernichten,11 machten William blind für die Gefühle, die Gott ihm entgegenbrachte. Er sah und spürte Gottes Liebe nicht. Er sah nicht, vor allem in jenen dunklen Stunden, dass Gott ihn immer noch großzügig segnete. Vielmehr vergalt er Liebe mit Zorn. War uns allen nicht auch schon manchmal so zumute? Wenn wir seine Liebe am wenigsten verdienen, liebt er uns am meisten. Ja, er hat uns wahrhaftig zuerst geliebt.12

Leiden hat seinen sinn – nächstenliebe verleiht uns kraft

Meine Bekannte Betty, die Christus sehr ähnlich ist, war genau das Gegenteil. Sie hatte ganz ähnliche Schwierigkeiten wie William, aber weil sie Gottes Liebe spürte, nahm sie die Bedrängnis im Namen des Erlösers auf sich,13 erhielt Anteil an der göttlichen Natur14 und erlangte dadurch tieferen Glauben an Gott; ihre Liebe zu ihm wuchs, und sie hatte die Kraft, alles, was auf sie zukam, zu bewältigen.

Ihre Liebe zu ihren Mitmenschen nahm zu. Sie schien ihnen sogar schon im Voraus zu vergeben. Sie lernte, sie dazu zu bringen, ihre Liebe zu spüren. Sie lernte, dass die Liebe, die man ausstrahlt, sich vervielfacht.

Sie lernte dadurch letztlich, sich selbst mehr zu lieben, gütiger, sanftmütiger und geduldiger zu werden. Sie kämpfte nicht mehr so sehr um ihre Selbstachtung, sondern begann, sich so zu lieben, wie Gott sie liebte. Sie glich ihr Bild von sich selbst seinem Bild von ihr an.

Gottes liebe erkennen und sie annehmen und weitergeben

Wie können wir uns dann besser „mit der bindenden Kraft der Nächstenliebe, … der Kraft der Vollkommenheit und des Friedens“ bekleiden?15 Dazu möchte ich Ihnen drei Punkte als Anregung mitgeben.

1. Seine Liebe erkennen. „Bete[n Sie] mit der ganzen Kraft des Herzens“16 um diese Gabe. Tun Sie das sanftmütig, mit reuigem Herzen, dann werden Sie mit Hoffnung und mit Liebe erfüllt, die der Heilige Geist Ihnen schenkt. Er wird Ihnen Christus offenbaren.17

Es gehört zur Gabe der Nächstenliebe, dass man die Hand des Herrn anerkennt und seine Liebe in allem, was uns umgibt, spürt. Manchmal ist es nicht leicht, in allem, was wir erleben, die Liebe des Herrn zu erkennen, da er ein vollkommener, anonymer Geber ist. Sie werden Ihr Leben lang darum bemüht sein, seine Hand und seine Gaben zu entdecken, da er seine wundervollen Gaben auf so vertrauliche, bescheidene, demütige Weise verleiht.

Sinnen wir doch einen Augenblick gemeinsam über die folgenden erhabenen Gaben nach: die Herrlichkeit der Schöpfung,18 die Erde, die Himmel, Ihre Gefühle der Liebe und der Freude, seine Barmherzigkeit und Vergebung, seine unzähligen Antworten auf Ihre Gebete, Ihre lieben Angehörigen und letztlich die größte aller Gaben – das Geschenk, das der Vater uns mit dem Sühnopfer seines Sohnes gemacht hat, der vollkommene Nächstenliebe hat, der der Gott der Liebe ist.19

2. Seine Liebe demütig annehmen. Seien Sie dankbar für die Gabe und ganz besonders für den, von dem sie kommt.20 Wahre Dankbarkeit ist die Fähigkeit, Liebe zu sehen, zu spüren und auch anzunehmen.21 Dankbarkeit ist eine Möglichkeit, Gott Liebe zurückzugeben. Erkennen Sie seine Hand an, sagen Sie ihm das, bekunden Sie ihm Ihre Liebe.22 Wenn Sie den Herrn wirklich kennen lernen, werden Sie eine innige, heilige Beziehung zu ihm haben, die auf Vertrauen beruht. Sie werden erkennen, dass er Ihre Ängste versteht23 und dass er, voll Anteilnahme, stets liebevoll auf Sie zugeht.

Nehmen Sie das an. Spüren Sie es. Es reicht nicht aus, bloß zu wissen, dass Gott Sie liebt. Diese Gabe müssen Sie spüren – Tag für Tag.24 Dann wird sie Ihnen Ihr Leben lang zur göttlichen Motivation. Kehren Sie um. Entfernen Sie alles Weltliche aus Ihrem Leben,25 auch den Zorn. Empfangen Sie beständig Vergebung für Ihre Sünden,26 dann werden Sie alle Ihre Leidenschaften zügeln und von Liebe erfüllt sein.27

3. Seine Liebe ausstrahlen. Der Herr begegnet uns immer voller Liebe. Sollten wir ihm dann nicht genauso begegnen – von wirklicher Liebe erfüllt? Er schenkt Gnade (oder Güte) um Gnade, Eigenschaft um Eigenschaft. In dem Maß, wie unser Gehorsam zunimmt, empfangen wir für die Gnade, die wir ihm zurückgeben, noch mehr Gnade (oder Güte).28 Bieten Sie ihm die Verbesserung Ihrer Eigenschaften an, damit Sie, wenn er erscheint, wie er sind.29

Wenn man zunächst seine Gedanken in die Liebe eintaucht und Gott, den Menschen oder sich selbst diese Gefühle übermittelt, schenkt einem der Geist gewiss noch viel mehr von dieser Eigenschaft. Das gilt für alle göttlichen Eigenschaften. Rechtschaffene Gefühle, die ein Mensch hegt, werden damit belohnt, dass der Geist diese Gefühle noch mehr wachsen lässt. Wenn Sie keine Liebe empfinden, können Sie anderen auch keine Liebe vermitteln. Der Herr hat uns geboten, einander so zu lieben, wie er uns liebt,30 also denken Sie daran: wenn Sie sich Liebe wünschen, dann lieben Sie von Herzen.31

Die früchte der gabe der nächstenliebe

Brüder und Schwestern, als besonderer Zeuge Christi gebe ich Ihnen wieder Zeugnis von der überwältigenden Liebe Gottes für jeden von uns. Wenn wir diese Gabe Gottes groß machen, haben wir ein neues Herz, ein reines Herz und immer mehr Liebe und Frieden. Und wenn wir immer mehr denken und handeln wie er, werden die Eigenschaften des natürlichen Menschen verschwinden und an ihre Stelle werden das Herz und der Sinn Christi treten.32 Wir werden, wie er ist, und nehmen ihn damit wahrhaftig an.33

Der Prophet des Herrn liebt Sie, ebenso wie alle meine Brüder hier. Möge der Herr uns segnen, damit wir alle unsere Gedanken immer auf ihn richten.34 Möge unsere Bürde leicht sein „durch die Freude an seinem Sohn“.35 Darum bete ich im Namen Jesu Christi. Amen.

  1. Moroni 7:47.

  2. 1 Nephi 11:22,23; 8:10–12.

  3. 1 Nephi 15:36.

  4. Siehe Moroni 8:17.

  5. „Es gibt eine Tugend, eine Eigenschaft oder einen Grundsatz, der Tausenden und Abertausenden Errettung bringen würde, wenn die Heiligen ihn wertschätzen und praktizieren würden. Ich meine die Nächstenliebe – die Liebe, der Vergebungsbereitschaft, Langmut, Güte und Geduld entspringen.“ (Lehren der Präsidenten der Kirche: Brigham Young, Seite 217f.)

  6. Siehe Moroni 7:48. Gibt es einen Unterschied zwischen Nächstenliebe und Liebe? Der Herr benutzt häufig beides nebeneinander, beispielsweise in LuB 4:5. Manchmal heißt es, Nächstenliebe sei Liebe plus Opferbereitschaft – reife Liebe. Die Nächstenliebe ist in Bezug auf die Liebe vielleicht so etwas wie der feste und tätige Glaube in Bezug auf das „Fürwahrhalten“. Sowohl der feste Glaube als auch die Nächstenliebe bedeuten Handeln, Arbeit und Opferbereitschaft. Nächstenliebe schließt Gottes Liebe zu uns, unsere Liebe zu ihm und die christliche Liebe zu den Mitmenschen ein.

  7. Siehe LuB 84:19–24.

  8. Siehe LuB 121:41–46.

  9. „Jemand, der von der Gottesliebe erfüllt ist, gibt sich nicht damit zufrieden, nur seiner Familie ein Segen zu sein, sondern er zieht durch die ganze Welt, da er darauf bedacht ist, der ganzen Menschheit ein Segen zu sein.“ (Joseph Smith, History of the Church, 4:227.)

  10. Wo wirkliches Leiden stattfindet, ist der Teufel immer da und darauf aus, die Menschen im Zorn bitter zu machen, während der Herr beständig Liebe ausstrahlt. Das Leid war das Gleiche, aber es „waren viele verstockt geworden … viele aber hatten wegen ihrer Bedrängnisse ihr Herz erweicht“ (Alma 62:41). Welch wundervolles Beispiel dafür, wie man mit Bedrängnis umgehen sollte.

  11. Manches von dem, was Liebe und Frieden im Menschen vernichtet: Furcht, Perfektionismus, Neid, Widerspenstigkeit, Zweifel, Zorn, Eifersucht, ungerechte Herrschaft, Unglaube, Ungeduld, urteilen, beleidigt sein, Stolz, Streit, murren, nach Ehre streben, Konkurrenzdenken, lügen. – Alles Eigenschaften des natürlichen Menschen, nicht des Christenmenschen.

  12. Siehe 1 Johannes 4:19.

  13. Siehe LuB 138:13. Meine Bekannte wusste, dass ihr das Leiden half, sich zu bewähren (siehe Abraham 3:24,25; LuB 98:13,14), zu lernen, sich für Gut oder Böse zu entscheiden (siehe 2 Nephi 2:18), zu lernen, dass die Segnungen erst nach den Prüfungen kommen (siehe LuB 58:2–4), Gehorsam, Geduld und Glauben zu lernen (siehe LuB 105:6; Mosia 23:21; Römer 5:3–5), Sündenvergebung zu erlangen (siehe Helaman 15:3; LuB 132:50,60; 95:1).

  14. Siehe 2 Petrus 1:1–8.

  15. LuB 88:125.

  16. Moroni 7:48.

  17. Siehe Moroni 8:25,26; Römer 5:5; 2. Nephi 26:13.

  18. Siehe Mose 6:63; Alma 30:44.

  19. Siehe 1 Johannes 4:8.

  20. Siehe LuB 88:33.

  21. Siehe Alma 5:26.

  22. Siehe Alma 26:16; Moroni 10:3.

  23. Siehe LuB 133:52,53.

  24. Siehe Alma 34:38.

  25. Siehe 1 Johannes 2:15–17.

  26. Siehe Mosia 4:11,12.

  27. Siehe Alma 38:12.

  28. Siehe LuB 93:12,13,20.

  29. Siehe 1 Johannes 3:1–3.

  30. Siehe Johannes 13:34; LuB 112:11.

  31. „Hütet euch vor dem Stolz und trachtet nicht danach, einer den anderen zu übertreffen, sondern jeder soll zum Besten des anderen handeln.“ (Siehe Joseph Smith, Lehren des Propheten Joseph Smith, zusammengestellt von Joseph Fielding Smith [1983], Seite 157.)

  32. Siehe 1 Korinther 2:16; 2 Korinther 10:5.

  33. „Wer Christus am ähnlichsten ist, beweist wahre innere Größe. Von dem, was man im Herzen von Christus hält, hängt es ab, wer man ist, davon hängt es im Wesentlichen ab, was man tut … Indem wir ihn zu unserem Ideal machen, hegen wir den Wunsch, wie er zu werden, mit ihm Gemeinschaft zu haben.“ (David O. McKay, Generalkonferenz, April 1951.) Wenn Sie lange genug über ihn nachdenken, werden Sie anfangen, wie er zu handeln. Wenn Sie lange genug so handeln wie er, werden Sie wirklich so sein, wie er ist.

  34. Siehe Alma 37:36.

  35. Alma 33:23.