2000–2009
Zur Rettung
April 2001


Zur Rettung

Brüder, die Welt braucht Ihre Hilfe. Es gilt Menschen aufzurichten, Hände festzuhalten, sorgenvollen Gemütern Mut zu geben, Herzen zu begeistern und Seelen zu erretten.

Meine lieben Brüder, die Sie das Priestertum Gottes tragen und sich hier im Konferenzzentrum und überall auf der Welt versammelt haben, die Verantwortung, zu Ihnen zu sprechen, ist überwältigend und macht mich demütig.

Einige von Ihnen sind Diakone, vielleicht erst vor kurzem ordiniert, andere von Ihnen sind Hohe Priester, die schon lange glaubenstreu in heiligen Berufungen dienen. Alle haben sich hier versammelt, damit wir unsere Pflicht besser lernen.

Brüder, die Welt braucht Ihre Hilfe. Es gilt Menschen aufzurichten, Hände festzuhalten, sorgenvollen Gemütern Mut zu geben, Herzen zu begeistern und Seelen zu erretten. Die Segnungen der Ewigkeit warten auf Sie. Und Sie brauchen dabei nicht bloß Zuschauer sein, sondern dürfen aktiv im Priestertum mitarbeiten.

Präsident Wilford Woodruff hat erklärt: “Alle Organisationen des Priestertums haben Macht. Der Diakon hat durch das Priestertum, das er trägt, Macht. Desgleichen der Lehrer. Sie haben in gleichem Maße die Macht, vor den Herrn zu treten und ihre Gebete erhört zu bekommen, wie sie der Prophet … hat. Durch dieses Priestertum werden den Menschen heilige Handlungen zuteil, damit ihnen die Sünden vergeben und damit sie erlöst werden. Aus diesem Grund ist es offenbart und uns auf das Haupt gesiegelt worden.” 1

Ich habe einmal von einem neu ordinierten Diakon erfahren, der, kurz nachdem er das Aaronische Priestertum empfangen hatte, sagte: “Heute teile ich zum ersten Mal das Abendmahl aus. Ich kann es kaum erwarten. Ich weiß, dass es eine sehr heilige Handlung ist, darum will ich sorgsam damit umgehen. Ich habe ein wahres Zeugnis von der Kirche und hoffe, dass ich bald auf Mission gehen kann.”

Darf ich Ihnen einen Brief vorlesen, den ich vor einiger Zeit von einem Ehemann erhalten habe, der vom Weg des Priestertums, vom Weg des Dienens und der Pflicht abgeirrt ist. Er ist typisch für das Flehen von zu vielen Brüdern:

Lieber Präsident Monson!

Ich hatte so viel und habe jetzt so wenig. Ich bin unglücklich und habe das Gefühl, in allem zu versagen. Das Evangelium ist nie aus meinem Herzen verschwunden, auch wenn es mein Leben verlassen hat. Ich bitte um Ihre Gebete.

Bitte vergessen Sie uns nicht, die wir draußen stehen, die verlorenen Heiligen der Letzten Tage. Ich weiß, wo ich die Kirche finden kann, doch manchmal denke ich, dass ich jemanden brauche, der mir den Weg weist, der mich ermutigt, mir meine Angst nimmt und mir Zeugnis gibt.”

Als ich diesen Brief las, fiel mir ein, wie ich eine der berühmten Kunstgalerien der Welt im Victoria-und-Albert-Museum in London besucht hatte. Dort befindet sich ein exquisit gerahmtes Meisterstück, das Joseph Mallord William Turner 1831 gemalt hatte. Das Gemälde stellt tiefe, dunkle Wolken und das wütende, turbulente Meer dar, die von Gefahr und Tod künden. Weit draußen schimmert das Licht eines gestrandeten Schiffes. Im Vordergrund befindet sich ein großes Rettungsboot, das von den hereinrollenden Wellen auf schäumendem Wasser umhergeworfen wird. Die Männer rudern mit aller Macht, und das Rettungsboot kämpft sich durch den Sturm. Am Ufer steht eine Frau mit zwei Kindern, vom Regen durchnässt, der Wind umpeitscht sie. Sie blicken voller Angst hinaus auf die See. In Gedanken kürzte ich den Namen des Gemäldes ab. Für mich wurde es “Zur Rettung”.

Inmitten der Stürme des Lebens lauern die Gefahren; und Menschen finden sich – wie Boote – gestrandet und der Vernichtung preisgegeben. Wer wird in die Rettungsboote steigen, die Bequemlichkeit des Zuhauses und der Familie hinter sich lassen und zur Rettung eilen?

Präsident John Taylor hat uns gewarnt: “Wenn Sie Ihre Berufung nicht groß machen, wird Gott Sie für diejenigen zur Rechenschaft ziehen, die Sie hätten erretten können, wenn Sie Ihre Pflicht getan hätten.”2

Brüder, unsere Aufgabe ist nicht unüberwindbar. Wir sind im Auftrag des Herrn tätig und haben daher Anspruch auf die Hilfe des Herrn. Aber wir müssen den Versuch unternehmen. Aus dem Bühnenstück Shenandoah stammt der folgende inspirierende Satz: “Wenn wir keinen Versuch unternehmen, dann tun wir nichts; und wenn wir nichts tun, wozu sind wir dann da?”

Als der Herr unter den Menschen wirkte, rief er Fischer in Galiläa dazu auf, ihre Netze zu verlassen und ihm nachzufolgen, und zwar mit den Worten: “Ich werde euch zu Menschenfischern machen.”3 Dies tat er auch. Heute ruft er jeden von uns auf, “sich seinem Heer anzuschließen”. Mit folgender Ermahnung umreißt er unseren Schlachtplan: “Darum lasst einen jeden lernen, was ihm obliegt, und lasst ihn mit allem Eifer das Amt ausüben lernen, zu dem er bestimmt worden ist.”4

Das noble Wort Pflicht liebe und schätze ich sehr. Lassen Sie uns die aufrüttelnde Mahnung beachten, die im Brief des Jakobus zu finden ist: “Hört das Wort nicht nur an, sondern handelt danach; sonst betrügt ihr euch selbst.”5

Zu meiner Zeit gab es ein altes Lied: “Der Wunsch lässt es geschehen”. Das ist nicht wahr. Der Wunsch lässt es nicht geschehen. Der Herr erwartet, dass wir denken. Er erwartet, dass wir handeln. Er erwartet, dass wir arbeiten. Er erwartet unser Zeugnis. Er erwartet unsere Hingabe. Unglücklicherweise gibt es diejenigen, die im Priestertum nicht mehr aktiv sind. Helfen wir ihnen, wieder auf den Pfad zurückzukommen, der zum ewigen Leben führt. Errichten wir ein starkes Fundament des Melchisedekischen Priestertums, das die Grundlage für Aktivität und Wachstum in der Kirche sein kann. Es wird das Stützwerk sein, das jede Familie, jedes Zuhause und jedes Kollegium in jedem Land stark machen wird

Brüder, wir können uns derer annehmen, für die wir verantwortlich sind, und sie zum Tisch des Herrn zurückbringen, damit sie sich an seinem Wort laben und mit seinem Geist Gemeinschaft haben, damit sie “nicht mehr Fremde ohne Bürgerrecht” sind, “sondern Mitbürger der Heiligen und Hausgenossen Gottes”.6

Der Lauf der Zeit hat nichts daran geändert, dass der Erklöser das Leben eines Menschen ändern kann – unser Leben und das derjenigen, deren wir uns annehmen. Wie er zum toten Lazarus gesagt hat, so sagt er auch heute: “Komm heraus!”7 Komm heraus aus der Verzweiflung des Zweifels. Komm heraus aus der Trauer der Sünde. Komm heraus aus dem Tod des Unglaubens. Komm heraus zu einem neuen Leben. Komm heraus.

Wir werden feststellen, dass diejenigen, denen wir dienen und die dank unserer Arbeit die Berührung durch die Hand des Meisters verspürt haben, die Veränderung in ihrem Leben gar nicht richtig erklären können. Auf einmal ist da der Wunsch, treu zu dienen, demütig zu wandeln und mehr wie der Erretter zu leben. Wenn sie gelernt haben, Geistiges wahrzunehmen und einen ersten Einblick in die Verheißungen der Ewigkeit erhalten haben, dann werden sie wie der Blinde, dem Jesus das Augenlicht wiedergegeben hatte, sagen: “Nur das eine weiß ich, dass ich blind war und jetzt sehen kann.”8

Wie können wir diese Wunder erklären? Wie kommt es, dass Männer, die lange geschlummert haben, plötzlich sehr aktiv werden? Der Dichter schrieb über den Tod: “Gott berührte ihn und er schlief.”9 Ich sage und spreche dabei von dieser geistigen Neugeburt: “Gott berührte sie und sie erwachten.”

Für diese Veränderungen in der Einstellung, in den Gewohnheiten und im Handeln gibt es vor allem zwei Faktoren. Erstens: Diesen Menschen wurde ihr ewiges Potenzial vor Augen geführt, und sie haben beschlossen, es zu verwirklichen. Wer einmal gesehen hat, dass Herausragendes für ihn erreichbar ist, kann sich nicht lange mit Mittelmäßigkeit zufriedengeben.

Zweitens haben andere Menschen die Ermahnung des Erretters befolgt und ihren Nächsten wie sich selbst geliebt. Sie haben dazu beigetragen, dass seine Träume sich erfüllten und seine Bestrebungen Wirklichkeit wurden.

Der Grundsatz der Liebe war der Auslöser bei diesem Prozess – und er wird es auch in Zukunft sein.

Ein weiterer wahrer Grundsatz, der uns zum Ziel führt, ist, dass Jungen und Männer sich ändern können. Ich denke an die Worte eines Vollzugsbeamten, der diese Tatsache gelehrt hat. Jemand, der Warden Duffy wegen seiner Bemühungen, Menschen zu resozialisieren, kritisierte, sagte einmal: “Wissen Sie nicht, dass ein Leopard nichts an seinen Flecken ändern kann?”

Darauf antwortete Warden Duffy: “Sie sollten wissen, dass ich nicht mit Leoparden arbeite. Ich arbeite mit Menschen und Menschen verändern sich jeden Tag.”

Vor vielen Jahren, ehe ich abreiste, um als Präsident der Kanadischen Mission mit Sitz in Toronto, Ontario, zu dienen, hatte ich mich mit einem Mann namens Shelley angefreundet, der in unserer Gemeinde wohnte, aber das Evangelium nicht annahm, obwohl seine Frau und die Kinder es angenommen hatten. Als junger Mann war Shelley als der zäheste Mann im Ort bekannt. Er war ein ziemlicher Faustkämpfer. Er kämpfte selten im Ring, sondern meist woanders. Wie sehr ich mich auch bemühte, es gelang mir nicht, eine Änderung in Shelleys Einstellung zu bewirken. Die Aufgabe erschien hoffnungslos. Schließlich zog Shelley mit seiner Familie aus unserer Gemeinde weg.

Nachdem ich aus Kanada zurückgekehrt und in den Rat der Zwölf berufen worden war, rief Shelley mich an. Er sagte: “Willst du meine Frau, meine Kinder und mich im Salt-Lake-Tempel siegeln?”

Zögernd antwortete ich: “Aber Shelley, dazu musst du dich doch erst taufen lassen!”

Er lachte und erwiderte: “Ach, das habe ich erledigt, während du in Kanada warst. Mein Heimlehrer hat an der Kreuzung vor der Schule den Verkehr geregelt, und jedesmal, wenn wir uns an der Kreuzung unterhielten, haben wir über das Evangelium gesprochen.”

Die Siegelung fand statt, eine Familie war vereint, es folgte Freude.

Von Abraham Lincoln stammt der weise Rat, der sich gewiss auf die Heimlehrer beziehen lässt: “Wenn man jemanden für seine Sache gewinnen will, muss man ihn erst einmal davon überzeugen, dass man ihm ein aufrichtiger Freund ist.”10

Ein Freund macht mehr als den einen Pflichtbesuch im Monat. Einem Freund geht es mehr darum, den Menschen zu helfen, als einen Strich machen zu können. Ein Freund nimmt Anteil. Ein Freund liebt. Ein Freund hört zu. Und ein Freund packt mit an.

In jeder Gemeinde gibt es Brüder, die eine besondere Fähigkeit und das Geschick haben, die äußere Schale aufzubrechen und zum Herzen durchzudringen. Raymond L. Egan war ein solcher Mann. Er war mein Ratgeber in der Bischofschaft. Es bereitete ihm Freude, mit einem Familienvater Freundschaft zu schließen, ihn zu aktivieren und so ebenfalls eine gute Ehefrau und kostbare Kinder zurück in die Herde zu bringen. Dieses wunderbare Phänomen ereignete sich viele Male, bis Bruder Egan schließlich von uns ging.

Es gibt auch andere Möglichkeiten, wie man Menschen aufrichten und ihnen dienen kann. Einmal sprach ich mit einem pensionierten Geschäftsführer, den ich schon lange kannte. Ich fragte ihn: “Ed, was machst du zur Zeit in der Kirche?” Er antwortete: “Ich habe die beste Aufgabe in der Gemeinde. Meine Verantwortung ist es, Männern, die arbeitslos sind, zu helfen, eine feste Anstellung zu finden. In diesem Jahr habe ich zwölf meiner Brüder, die ohne Arbeit waren, geholfen, eine gute Anstellung zu bekommen. In meinem ganzen Leben bin ich noch nie glücklicher gewesen.” Ed, der von kleiner Statur ist, stand an diesem Abend aufrecht da, seine Augen glänzten und seine Stimme zitterte. Er zeigte seine Liebe, indem er denjenigen half, die in Not waren. Er gab ihnen menschliche Würde zurück. Er öffnete die Türen für diejenigen, die nicht wussten, wie sie es selbst hätten tun sollen.

Ich bin wirklich davon überzeugt, dass diejenigen, die die Fähigkeit haben, auf andere zuzugehen und sie aufzurichten, die Formel gefunden haben, die Bruder Walter Stover beschreibt – ein Mann, der sein Leben im Dienst am Mitmenschen zugebracht hat. Auf der Beerdigung von Walter Stover sagte sein Schwiegersohn über ihn: “Er konnte in jedem, der ihm begegnete, Christus sehen, und er behandelte einen jeden entsprechend.” Sein Handeln, das von mitfühlender Hilfe erfüllt war und seine Fähigkeit, jeden, den er traf, himmelwärts zu heben, sind legendär. Das Licht, das ihn leitete, waren die Worte des Herrn, der sagte: “Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.”11

Eignen Sie sich die Sprache des Geistes an. Sie lässt sich nicht aus Büchern lernen, die von klugen Menschen geschrieben worden sind, und lässt sich auch nicht durch Lesen und Auswendiglernen erwerben. Die Sprache des Geistes wird dem zuteil, der von ganzem Herzen danach strebt, Gott zu erkennen und seine Gebote zu halten. Wer diese Sprache beherrscht, kann Barrieren durchbrechen, Hindernisse überwinden und das Herz des Menschen anrühren.

In Zeiten von Gefahr oder von Prüfungen gibt ein solches Wissen, eine solche Hoffnung und ein solches Verständnis der aufgewühlten Seele und dem trauernden Herzen Trost. Schatten der Verzweiflung werden von Strahlen der Hoffnung vertrieben. Der Kummer vergeht vor der Freude, und das Gefühl, in der Menge verloren zu sein, verschwindet mit der Gewissheit, dass der himmlische Vater auf jeden von uns Acht gibt.

Ich möchte zum Schluss noch einmal auf das Gemälde von Turner zurückkommen. Die Männer, die mit ihrem auf Grund gelaufenen Schiff gestrandet sind, lassen sich wirklich mit vielen jungen – und auch älteren – Männern vergleichen, die darauf warten, gerettet zu werden, und zwar von uns, die wir die Priestertumsverantwortung tragen, in das Rettungsboot zu steigen. Ihr Herz sehnt sich nach Hilfe. Mütter und Väter beten für ihre Söhne. Frauen und Kinder beten zum Himmel, dass man Vati und die anderen erreicht.

Ich bete heute dafür, dass wir alle, die wir das Priestertum tragen, unsere Verantwortung spüren und wie ein Mann unserem Führer, nämlich dem Herrn Jesus Christus, folgen – und zur Rettung eilen.

Im Namen Jesu Christi, amen.

  1. Wilford Woodruff, Collected Discourses Delivered by President Wilford Woodruff, His Two Counselors, the Twelve Apostles, and Others; 5 Bände [1987–1992], 2:87.

  2. Deseret News Semi-weekly, 6. August 1878.

  3. Matthäus 4:19.

  4. Lehre und Bündnisse 107:99.

  5. Jakobus 1:22.

  6. Epheser 2:19.

  7. Johannes 11:43.

  8. Johannes 9:25.

  9. Alfred Lord Tennyson, In Memoriam A. H. H., 82. Abschnitt, 5. Vers 5, 4. Zeile.

  10. The collected Works of Abraham Lincoln, Hg. Roy P. Basler, [1953], 1:273.

  11. Matthäus 25:40.