2000–2009
Das Reich aufbauen
April 2001


Das Reich aufbauen

“Seit ihren Anfangstagen ist die Kirche des Herrn von ganz gewöhnlichen Menschen aufgebaut worden, die voll Demut und Hingabe ihre Berufung groß gemacht haben.”

Vor fast 25 Jahren lebten wir in Massachusetts, wo ich auch studierte. Mein Studienprogramm war sehr anspruchsvoll und ließ mir nur wenig Freizeit. An einem Sonntag in der Kirche kam die PV-Leiterin auf mich zu und fragte mich, ob ich zwei Wochen lang als PV-Lehrer aushelfen könnte. Damals fand die PV noch an einem Nachmittag unter der Woche statt, und ich wusste, ich würde diesen PV-Unterricht nur mit Mühe in meinem Terminkalender unterbringen können. Aber nach einigem Zögern stimmte ich doch zu.

Bald kam der Tag, an dem ich in der PV unterrichten sollte. Ich saß an diesem Nachmittag in der Universitätsbibliothek und war in ein Buch über internationale Politik vertieft. Das Thema, mit dem ich mich befasste, schien mir irgendwie viel wichtiger zu sein als der bevorstehende PV-Unterricht. Also schob ich die Vorbereitung dafür vor mir her und befasste mich erst 30 Minuten vor Unterrichtsbeginn mit der Lektion, die ich unterrichten sollte. Dann machte ich mich auf den Weg zum Gemeindehaus, das sich am Rand des Universitätsgeländes befand. Meine Einstellung muss wohl meine Schritte verlangsamt haben, denn ich kam ein paar Minuten zu spät. Als ich auf die Tür des PV-Raumes zuging, begannen die Kinder gerade das Anfangslied zu singen. Es war ein Lied, das ich nie zuvor gehört hatte, ein Lied, dessen Melodie und dessen Aussage mich tief berührten:

Liebet einander,

wie ich euch liebe!

Das sage ich euch:

Liebet einander!

Daran erkennt man,

dass ihr mir nachfolgt;

denn meine Jünger sind voll Liebe.

Als ich wie angewurzelt in der Tür stand, gab der Geist Zeugnis, dass ich vor mir den wichtigsten Unterricht sah, der an diesem Tag in Cambridge in Massachusetts stattfand.

Drüben an der Universität waren in Dutzenden von Klassenzimmern und Laboratorien eifrige Gelehrte damit beschäftigt, Lösungen für die Probleme der Welt zu finden. Aber so wertvoll solche Anstrengungen auch sein mochten, so hatte die Universität doch nicht die endgültigen Lösungen für die Probleme einer unruhigen Welt und konnte sie auch nicht haben. Hier vor mir sah ich die Lösung des Herrn: der stille Aufbau seines Reiches auf der Erde durch das Lehren des Evangeliums Jesu Christi. Was an diesem Tag in der PV geschah, war ein kleiner Teil eines von Gott offenbarten Planes für die Errettung einer gefallenen Welt.

Im Oktober 1831 erklärte der Herr in Bezug auf die Wiederherstellung: “Die Schlüssel des Reiches Gottes sind dem Menschen auf Erden übertragen, und von da an wird das Evangelium bis an die Enden der Erde hinrollen gleich dem Stein, der sich ohne Zutun von Menschenhand vom Berg losgerissen hat und dahinrollt, bis er die ganze Erde erfüllt.” (LuB 65:2.) Die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage ist dieses Reich, dessen Bestimmung es ist, die ganze Erde zu erfüllen. In der wundersamen Weisheit des Allmächtigen wird in den Letzten Tagen das Reich Gottes durch Mittel aufgebaut, die so klar und einfach sind wie das, was ich an jenem Tag in der PV erlebte.

Wir freuen uns zu hören, dass an allen Enden der Welt Tempel errichtet werden, und dass weit entfernte Länder ihre Türen für das Evangelium öffnen. Auf das Fundament der Apostel und Propheten gebaut, wird die Kirche des Herrn von Missionaren, die berufen sind, sein Wort zu verkünden, in alle Welt gebracht. Manchmal neigen wir vielleicht dazu, den Aufbau des Reiches als etwas zu betrachten, was jenseits des Horizonts stattfindet, weit von unserem Zweig oder unser Gemeinde entfernt. In Wahrheit macht die Kirche aber sowohl durch das äußere Wachstum als auch durch die innere Verfeinerung Fortschritt. “Denn Zion muss zunehmen an Schönheit und Heiligkeit; seine Grenzen müssen erweitert werden; seine Pfähle müssen gestärkt werden.” (LuB 82:14.)

Wir müssen nicht berufen werden, fern von zu Hause zu dienen, und müssen auch keine herausragende Position in der Kirche oder in der Welt einnehmen, um das Reich des Herrn aufzubauen. Wir bauen es in unserem Herzen auf, indem wir uns um den Geist Gottes in unserem Leben bemühen. Wir bauen es in unserer Familie auf, indem wir unseren Kindern Glauben ins Herz pflanzen. Und wir bauen es durch die Organisation der Kirche auf, indem wir unsere Berufung groß machen und unseren Nachbarn und Freunden vom Evangelium erzählen.

Während unsere Missionare auf Feldern arbeiten, die zur Ernte bereit sind, arbeiten andere auf Feldern zu Hause, um das Reich in der Gemeinde und dem Gemeinwesen, wo sie wohnen, zu stärken. Seit ihren Anfangstagen ist die Kirche des Herrn von ganz gewöhnlichen Menschen aufgebaut worden, die voll Demut und Hingabe ihre Berufung groß gemacht haben. Es spielt keine Rolle, zu welchem Amt wir berufen sind. Wichtig ist nur, dass wir es “mit allem Eifer” (LuB 107:99) ausüben. Mit den Worten einer neuzeitlichen Offenbarung: “Werdet nicht müde, das Rechte zu tun, denn ihr legt den Grund für ein großes Werk. Und aus etwas Kleinem geht das Große hervor.” (LuB 64:33.)

Präsident Joseph F. Smith hat einmal festgestellt: “Eine große Sache wird nicht in einer einzigen Generation gewonnen.” (Gospel Doctrine, Seite 119.) In der Familie, an diesem stillen heiligen Ort, wo wir zuhause sind, vereinen sich die Generationen wie nirgendwo sonst, um das Reich Gottes aufzubauen. Kinder zu erziehen ist ein heiliges Recht. Die Erste Präsidentschaft hat die Eltern der Kirche aufgerufen, den Familienabend abzuhalten und das Familiengebet zu sprechen, zu Hause das Evangelium zu studieren und bei sinnvollen Familienaktivitäten Zeit mit ihren Kindern zu verbringen. Wenn Väter und Mütter ihre Kinder die ewigen Wahrheiten lehren, die sie selbst gelernt haben, reichen sie die Fackel der Wahrheit an die nächste Generation weiter, und das Reich nimmt an Stärke zu.

Herr, dein Licht soll weithin leuchten, wir bewahren seinen Schein.

Als ich heranwuchs, saßen wir oft um den Esstisch und mein Vater sprach mit uns über das Evangelium. Erst heute, nach vielen Jahren der Erfahrung, verstehe ich, wie viel diese gemeinsamen Stunden zu meinem Zeugnis beigetragen haben. Ich freue mich über die Prophezeiung von Jesaja, dass die Zeit kommen wird, da “über dem ganzen Gebiet des Berges Zion” bei Tag eine Wolke und bei Nacht eine strahlende Feuerflamme zu sehen sein wird (Jesaja 4:5), da der Geist Gottes beständig in den Häusern seines Volkes wohnen wird.

Das Reich des Herrn umfasst nicht nur die Kirche und die Familie, sondern auch das Herz und den Sinn seines Volkes. Während seines irdischen Wirkens sagte der Erretter: “Das Reich Gottes ist in euch.” (Lukas 17:21; King-James-Bibel.) Wenn wir wirklich den Wunsch haben, etwas zu diesem großen Werk der Letzten Tage beizutragen, dann haben wir das Auge nur auf die Herrlichkeit Gottes gerichtet, unser Sinn ist vom “Zeugnis Jesu” (Offenbarung 19:10) erleuchtet und unser Herz ist rein und dem Herrn geweiht. Persönliches Gebet, Studium und Nachsinnen sind unerlässlich für den Aufbau des Reiches in uns. In stillen Augenblicken, wenn wir nachdenken und Zwiesprache mit dem Allmächtigen halten, beginnen wir, ihn als unseren Vater zu erkennen und zu lieben.

Ich bezeuge, dass das Reich Gottes auf der Erde wiederhergestellt worden ist, um niemals wieder von ihr genommen zu werden. Unter der Leitung unseres ewigen Vaters ist Jesus Christus der Urheber und Vollender dieses Werkes, der Eckstein der Kirche und der Heilige Israels. Mögen wir das Reich Gottes auf der Erde mit der Stärke und Macht des Herrn aufbauen, damit es bereit ist, bei seinem Kommen das Himmelreich zu empfangen. Mit den Worten eines Liedes, das man als die Hymne der Wiederherstellung bezeichnen könnte:

Gottes Wahrheit muss erschallen,

dass sie jeder hören mag,

denn er urteilt über jedes Menschenherz

am Jüngsten Tag.

O, mög’ meine Seele ihm dann gern

und freudig folgen nach.

Der Herr geht uns voran!

Im Namen Jesu Christi, amen.