1990–1999
“Von [unserer] Selbstsucht umkehren” (LuB 56:8)
April 1999


“Von [unserer] Selbstsucht umkehren” (LuB 56:8)

Sanftmut ist das wahre Heilmittel, denn sie ist keine bloße Maske für den Egoismus, sondern löst ihn auf!

Wir alle haben mehr oder weniger mit Egoismus oder Selbstsucht zu kämpfen. Wenn nun der Egoismus so weit verbreitet ist, warum machen wir uns dann überhaupt Gedanken darüber? Weil wir uns mit Egoismus eigentlich allmählich selbst zerstören. Es ist also kein Wunder, daß der Prophet Joseph Smith uns dringend nahelegte: “Jedes eigensüchtige Gefühl [soll] nicht nur begraben, sondern ausgelöscht werden.” (Lehren des Propheten Joseph Smith,181.) Auslöschen, nicht Mäßigung ist also das Ziel!

Der um sich greifende Egoismus hat beispielsweise schon manch einen, der seine Leere mit Sinnesfreuden vertreiben will, zur Null reduziert. Aber in der Arithmetik der Begierde ergibt die Multiplikation mit Null immer nur Null! Jeder Anfall von Egoismus schränkt unser Universum um so mehr ein, da wir dann andere weniger wahrnehmen und weniger Anteil an ihnen nehmen. Trotz der zur Schau gestellten weltlichen Großtuerei ist solch maßloser Individualismus eigentlich so engstirnig wie Goldfische in der Glaskugel, die sich selbst zu ihrer Unabhängigkeit gratulieren und dabei keinen Gedanken an das eingestreute Futter und den Wasserwechsel verschwenden.

Vor vielen Jahren mußte Kopernikus der engstirnigen Welt klarmachen, daß dieser Planet nicht das Zentrum des Universums ist. Heute brauchen manche Egoisten eine kopernikanische Erinnerung, um sich klar zu machen, daß auch sie nicht das Zentrum des Universums sind.

Die frühen und bekannten Formen des Egoismus sind diese: das Ego auf Kosten anderer aufbauen, Lob einfordern, Schadenfreude, dem anderen seine echten Erfolge neiden, die öffentliche Rechtfertigung der Aussöhnung unter vier Augen vorziehen und “jemanden wegen seiner Worte” übervorteilen (2 Nephi 28:8).

Weil es dem Egoisten ja nur um sich geht, fällt es ihm leichter, falsch auszusagen, zu stehlen und Forderungen zu stellen, da ihm ja nichts verwehrt werden darf. Kein Wunder, daß es für den Staat so einfach ist, die Begierden des natürlichen Menschen anzustacheln und ihm gleichzeitig zu versichern, daß seine Freizügigkeit ganz in Ordnung sei, und im übrigen gehe in der Gesellschaft doch alles nach Plan.

Desgleichen veranlaßt der Egoismus uns dazu, unhöflich, hochmütig und ichbezogen zu sein, während wir anderen Menschen die benötigten Güter, Lob und Anerkennung vorenthalten, indem wir an ihnen vorbeigehen und sie nicht beachten (siehe Mormon 8:39). Dann kommen auch noch Grobheit und Schroffheit und der Einsatz der Ellbogen dazu.

Anders als auf dem Weg des Egoismus gibt es auf dem engen und schmalen Weg keinen Platz für Amokläufer. Wo die Liebe wirklich wohnt, gibt es keinen Mißbrauch des Ehepartners oder der Kinder. Außerdem kann es uns helfen, den Egoismus zu überwinden, wenn wir auch die einfachen Aufgaben in der Kirche mit Eifer erfüllen. Wer selbstlos ist, der ist auch freier. G. K. Chesterton sagt, wenn wir uns für andere Menschen interessieren, auch wenn sie sich nicht für uns interessieren, finden wir uns unter einem “freieren Himmel und auf einer Straße voll wunderbarer fremder Leute” (Orthodoxy [1959], 21).

Im Alltag eines Jüngers gibt es ebenso viele Möglichkeiten, Egoismus zu praktizieren, wie es Möglichkeiten gibt, ihn zu vermeiden. Sanftmut ist das wahre Heilmittel, denn sie ist keine bloße Maske für den Egoismus, sondern löst ihn auf! Kleine Schritte können zum Beispiel darin bestehen, daß wir uns, ehe wir etwas Wichtiges tun, fragen: Wessen Bedürfnissen versuche ich wirklich gerecht zu werden? Oder wenn wir etwas von großer Tragweite sagen wollen, können wir bis zehn zählen. Dieses Filtern kann dazu führen, daß sich unsere Weisheit verzehnfacht, da dieses Gewebe der Sanftmut unser überschwengliches Ego und unseren Egoismus herausfiltert.

Sanftmütig können wir unseren Gedanken auch ein Eigenleben zugestehen, ohne sie übermäßig zu fördern. Statt dessen müssen wir zulassen, daß der Geist unsere würdigen Gedanken beflügelt.

Leider wird der massive Egoismus des einzelnen auf die Dauer als Teil der Kultur betrachtet. Eine vom Egoismus beherrschte Gesellschaft wird letzten Endes unbarmherzig, lieblos, verderbt und gefühllos (siehe Moroni 9). Wenn es in der Gesellschaft nur noch um gnadenloses Aufrechnen geht, dann zeigt das, daß die Kultur auf breiter Front verfällt. Das geschah in alter Zeit, als ein Volk tatsächlich “infolge ihrer übertretungen schwach” wurde (siehe Helaman 4:26). Als Verhaltensmuster kann man sagen: wenn das, was einmal nur von einer Minderheit im Volk befürwortet wurde, die Oberhand gewinnt, folgen das Strafgericht Gottes und die Konsequenzen des törichten Egoismus (siehe Mosia 29:26,27).

Der kulturelle Verfall beschleunigt sich, wenn die allgemeinen Werte, die einst von vielen getragen wurden, den egoistischen, auf Einzelinteressen bedachten Teilen der Gesellschaft gleichgültig werden. Dieser Verfall wird noch von den Gleichgültigen und den Maßlosen beschleunigt, und die ganze Gesellschaft wird sachte zur Hölle hinabgeführt (siehe 2 Nephi 28:21). Manch einer hat selbst vielleicht keinen Anteil am Verfall, doch steht er untätig abseits, wo er früher seinem verfassungsgemäßen Recht gemäß aktiv Einhalt geboten hätte. über diese Umstände klagt Yeats: “Den Besten fehlt die überzeugung, während die Schlechtesten mit aller Leidenschaft handeln.” (W. B. Yeats, “The Second Coming”.)

Heute tritt an die Stelle der traditionellen, gemeinsam vertretenen Wertvorstellungen häufig eine zwingende Konformität, die merkwürdigerweise von denen vorangetrieben wird, die einmal diejenigen nicht mehr tolerieren werden, von denen sie selbst erst toleriert wurden. Die anwachsende Schlechtigkeit führt wohl nicht auf einmal zum großen Verfall, aber sie verfolgt ihr Ziel stetig und unerbittlich ­ subtil und sachte ­ ohne Rütteln und Schütteln (siehe 2 Nephi 28:21).

Das sind einige der naheliegenden Folgen des Egoismus, aber manche Folgen sind endgültig ­ sie wirken sich auf unsere Errettung aus.

Der Egoismus ist der Auslöser aller Todsünden. Er ist der Hammer, mit dem die Zehn Gebote gebrochen werden, sei es durch Vernachlässigung der Eltern, Entweihung des Sabbats oder durch Falschaussage, Mord und Neid. Kein Wunder, daß der Egoist oft bereit ist, einen Bund zu brechen, um eine Begierde zu befriedigen. Kein Wunder, daß diejenigen, die später einmal, nachdem sie den Preis gezahlt haben, das telestiale Reich ausmachen, ehedem Ehebrecher waren und nicht umkehren wollten, die unzüchtig waren und Lüge liebhatten und taten.

Manch ein Egoist glaubt fälschlicherweise, es gebe kein göttliches Gesetz und daher auch keine Sünde (siehe 2 Nephi 2:13). Für den Egoisten wird also eine Situationsethik nach Maß geschaffen. Wenn man persönliche Interessen verfolgt, kann man durch Fähigkeit und Kraft alles erreichen, denn es gibt ja keinerlei Verbrechen (siehe Alma 30:17).

Es überrascht auch nicht, daß Egoismus zu schrecklichen Fehlern im Denken und Handeln führt. So sagte beispielsweise der durch sein Machtstreben verdorbene Kain, nachdem er Abel getötet hatte: “Ich bin frei.” (Mose 5:33; siehe auch Mose 6:15.)

Zu den schlimmsten Folgen des krassen Egoismus gehört darum auch ein tiefgehender Verlust der Verhältnismäßigkeit; es ist, als ob man Mücken aussiebt und Kamele verschluckt ­ mit all den modernen Entsprechungen (siehe Matthäus 23:24). Heute sind das beispielsweise diejenigen, die sich über manche Kleinigkeit aufregen, die aber die Tötung von ungeborenen Babys hinnehmen, sogar im fortgeschrittenen Stadium der Schwangerschaft. Es überrascht also kaum, daß der Egoismus ein Linsengericht zu einem Festmahl hochstilisiert und dreißig Silberstücke wie eine Goldgrube aussehen läßt.

Letzten Endes wird das geschehen, was in alter Zeit einer Gruppe von Kindern zustieß, “die, als sie aufwuchsen, … sich selbständig machten” und verhärtet und fehlgeleitet wurden (siehe 3 Nephi 1:29,30). “Im Lauf weniger Jahre” kann ein verheerender kultureller Wandel stattfinden und findet er auch statt, wobei an die Stelle des dringend benötigten Gemeinschaftssinns gemeinsame Zeitvergeudung in all ihren Formen tritt (siehe Helaman 4:26).

Entschlossen, seinen eigenen Weg zu gehen, beharrt der natürliche Mensch, bis er “nicht mehr fühlen” kann, nachdem er sich durch Befriedigung der fleischlichen Sinne hat betäuben lassen. Wie ein Drogenabhängiger braucht er immer wieder eine neue Dosis. Der Egoist benutzt die anderen, aber er liebt sie nicht. Die Urijas dieser Welt sollten sich in acht nehmen! (Siehe 2 Samuel 11:3-17.) Jahrhunderte vor Christus warnte der Prophet Jakob die unkeuschen Männer: “Ihr habt euren zarten Frauen das Herz gebrochen und das Vertrauen eurer Kinder verloren, weil ihr ihnen schlechtes Beispiel gegeben habt.” (Jakob 2:35.) Wenn die Liebe erkaltet, müssen sich die Armen und Bedürftigen in acht nehmen, denn sie werden ­ wie das in Sodom geschah ­ vernachlässigt (siehe Matthäus 24:12; Ezechiel 16:49). So eigenartig es auch scheint, wenn der Egoist in seinen Augen groß ist, wird jeder andere klein! (Siehe 1 Samuel 15:17.)

Sogar die anfänglichen Tröpfchen egoistischer Entscheidungen geben die Richtung vor. Dann kommen die Bäche und fließen zu Flüßchen und Flüssen zusammen; und schließlich wird man von einem breiten Strom davongetragen, der in den “Schlund des Elends und des endlosen Wehs” mündet (siehe Helaman 5:12).

Wir sind verpflichtet, ein Auge auf die echten Anzeichen des gesellschaftlichen Verfalls zu haben. Jesus hat gewarnt: “Ihr Heuchler! Das Aussehen des Himmels könnt ihr deuten, die Zeichen der Zeit aber könnt ihr nicht deuten.” (Matthäus 16:3.) So deutet er an, daß eine andere Art der Wettervorhersage nötig ist.

Für den kulturellen Verfall tragen eigentlich sowohl die Führer als auch die Gefolgsleute die Verantwortung. Vom historischen Standpunkt aus ist es leicht, schlechte Führer zu kritisieren, aber wir dürfen auch diejenigen, die ihnen folgen, nicht freisprechen. Sonst können sie behaupten ­ um den Verfall mit einem rationalen Mäntelchen zu bedecken ­, sie befolgten nur Befehle, während der Führer nur die Gefolgsleute befehligte! In einem demokratischen System, in dem der Charakter sowohl des Führers als auch des Geführten so viel zählt, wird von den Gefolgsleuten sehr viel mehr gefordert.

Der Prophet Mormon war selbstlos bereit, ein Volk zu führen, das zusehends verkam. Er betete für sie, gestand aber ein, daß seine Gebete aufgrund der Schlechtigkeit des Volkes ohne Glauben waren (siehe Mormon 3:12). Zu einem anderen Zeitpunkt holt ein visionärer Führer wie Josef in ägypten die Menschen aus einer gefährlichen Routine, indem er sie für die klaren Herausforderungen der Zukunft bereit macht (siehe Genesis 41:46­57). Sogar einige wenige politische Führer wie Lincoln geben auch geistige Führung. übrigens hat Lincoln davor gewarnt, daß auch weiterhin ehrgeizige und fähige Menschen auftreten werden und daß so jemand “nach Anerkennung dürstet und sich danach verzehrt, und sie nach Möglichkeit erreichen wird, sei es, indem er die Sklaven befreit oder die Freien versklavt” (zitiert in John Wesley Hill, Abraham Lincoln ­ Man of God [1927], 74; Hervorhebung im Original).

Vom selbstlosen George Washington heißt es: “In der ganzen Geschichte haben wenige Männer, die unanfechtbare Macht besaßen, diese Macht so behutsam und zurückhaltend für das ausgeübt, was sie instinktiv als das Wohlergehen ihres Nächsten und der ganzen Menschheit betrachteten.” (James Thomas Flexner, Washington: The Indispensable Man [1984], xvi.)

Macht ist am sichersten bei dem, der, wie Washington, nicht in sie verliebt ist! Eine narzißtische Gesellschaft, in der jeder nur darauf bedacht ist, die Nummer Eins zu sein, kann weder Brüderlichkeit noch eine Gemeinschaft aufbauen. Sind wir, gerade jetzt zur Osterzeit und jederzeit, nicht froh darüber, daß Jesus nicht darauf bedacht war, die Nummer Eins zu sein?

Kein Wunder also, daß uns aufgetragen ist: “Du sollst neben mir keine anderen Götter haben.” (Exodus 20:3; Hervorhebung hinzugefügt.) Und das schließt die Selbstverherrlichung mit ein. So oder so wird der Egoist winselnd an den kantigen, steinharten Konsequenzen des Egoismus zerbrechen.

Betrachten wir im Gegensatz dazu die selbstlose Melissa Howes, deren Vater vor einigen Monaten relativ jung an Krebs starb. Kurz davor sagte Melissa, die damals neun Jahre alt war, im Familiengebet: “Himmlischer Vater, segne meinen Papa, und wenn du ihn nötiger brauchst als wir, kannst du ihn haben. Wir wollen ihn selber haben, aber dein Wille geschehe. Und hilf uns bitte, daß wir nicht böse auf dich sind.” (Aus einem Brief von Christie Howes, 25. Februar 1998.)

Welche geistige Ergebenheit bei einem so jungen Menschen! Welch selbstloser Einblick in den Erlösungsplan! Möge solch selbstlose Ergebenheit auch unser Weg sein. Im Namen Jesu Christi, amen!