1990–1999
Brücken und ewige Andenken
April 1999


Brücken und ewige Andenken

Stammbäume, Familiengeschichten, zeitgenössische Berichte, Bilder und Traditionen … bilden ebenfalls eine Brücke zwischen der Vergangenheit und der Zukunft und verbinden die Generationen in einer Weise, wie andere Erinnerungsstücke es nicht können.

Brüder und Schwestern, jede Familie besitzt Erinnerungsstücke. Familien sammeln Möbelstücke, Bücher, Porzellan und andere wertvolle Gegenstände, die sie dann an ihre Nachkommen weitergeben. Solche wunderbaren Andenken erinnern uns an unsere Lieben, die uns bereits verlassen haben, und richten unseren Sinn auf die, die noch nicht geboren sind. Sie bilden eine Brücke zwischen der Vergangenheit und der Zukunft der Familie.

Jede Familie besitzt außerdem noch wertvollere Andenken. Dazu gehören Stammbäume, Familiengeschichten, zeitgenössische Berichte, Bilder und Traditionen. Diese ewigen Andenken bilden ebenfalls eine Brücke zwischen der Vergangenheit und der Zukunft und verbinden die Generationen in einer Weise, wie andere Erinnerungsstücke es nicht können.

Ich möchte ein paar Worte über Genealogie, Brücken und ewige Andenken sagen. Die Genealogie baut Brücken zwischen den Generationen unserer Familie, Brücken zur Aktivität in der Kirche und Brücken zum Tempel.

Erstens: Die Genealogie baut Brücken zwischen den Generationen unserer Familie. Brücken zwischen den Generationen entstehen nicht zufällig. Jedes Mitglied der Kirche muß diese Brücke für seine Familie selbst bauen. Letzte Weihnachten habe ich bei einem unserer Familientreffen meinen Vater, der 89 Jahre alt ist, und unser ältestes Enkelkind, Ashlin, das viereinhalb ist, beobachtet. Sie freuten sich, zusammenzusein. Für mich war es ein bittersüßer Augenblick, denn mir wurde bewußt, daß Ashlin zwar angenehme, wenn auch flüchtige Erinnerungen an meinen Vater haben wird, aber keinerlei Erinnerungen an meine Mutter, die bereits vor seiner Geburt starb. Keines meiner Kinder kann sich an meine Großeltern erinnern. Wenn ich will, daß meine Kinder und Enkel diejenigen kennen, die in meiner Erinnerung noch lebendig sind, muß ich die Brücke zwischen ihnen bauen. Ich allein bin die Verbindung zwischen den Generationen, die zu beiden Seiten von mir stehen. Es ist meine Aufgabe, ihre Herzen durch Liebe und Achtung miteinander zu verbinden, auch wenn sie einander nie persönlich gekannt haben. Meine Enkel werden nichts über die Geschichte ihrer Familie wissen, wenn ich nichts tue, um sie für sie zu bewahren. Was ich nicht auf irgendeine Weise festhalte, wird verloren sein, wenn ich sterbe; und was ich nicht an meine Nachkommen weitergebe, werden sie nie besitzen. Dieses Werk, nämlich ewige Familienandenken zu sammeln und weiterzugeben, ist eine ganz persönliche Aufgabe. Wir können sie nicht ignorieren oder auf andere übertragen.

Ein Leben, das nicht dokumentiert wird, ist ein Leben, an das sich innerhalb ein, zwei Generationen niemand mehr genau erinnern kann. Wie tragisch ist das doch für die Geschichte einer Familie. Kenntnisse über unsere Vorfahren formen uns und vermitteln uns Werte, die unserem Leben Richtung und Sinn geben. Vor einigen Jahren lernte ich den Vorsteher eines russisch-orthodoxen Klosters kennen. Er zeigte mir ganze Bände seiner umfangreichen Ahnenforschung. Er sagte mir, ein großer Nutzen der Genealogie, vielleicht sogar der größte, sei es, Familientraditionen zu schaffen und an jüngere Generationen weiterzugeben. “Das Wissen um diese Traditionen und die Geschichte der Familie”, sagte er, “verbindet die Generationen miteinander.” Weiter sagte er zu mir: “Wenn man weiß, daß man von ehrlichen Vorfahren abstammt, ist man moralisch verpflichtet, selbst auch ehrlich zu sein. Man kann nicht unehrlich sein, ohne jedes einzelne Mitglied seiner Familie zu enttäuschen.”1

Wenn Sie zu den ersten in Ihrer Familie gehören, die das Evangelium angenommen haben, dann bauen Sie Brücken zu Ihren Nachkommen, indem Sie aufschreiben, was sich in Ihrem Leben ereignet hat, und indem Sie Ihren Nachkommen ermutigende Worte schreiben. 1892 schrieben die FHV-Schwestern des Pfahles Kolob in Springville, Utah, einen Brief an ihre Kinder und versiegelten ihn in einer Zeitkapsel, die am 17. März 1942, dem hundertjährigen Bestehen der FHV, geöffnet werden sollte. Nachdem Mariah Catherine Boyer einen kurzen Stammbaum ihrer Familie wiedergegeben hatte, und zwar zurück bis zu denen die sich als erste der Kirche angeschlossen hatten, schrieb sie ihren beiden Kindern: “Liebe Kinder, wenn ihr dies lest, ruhen eure Eltern und Großeltern bereits im Grab. Die Hände, die aus Liebe zu euch so hart gearbeitet haben, werden nicht mehr arbeiten, und die Augen, die voller Liebe und Wohlwollen euer unschuldiges Gesicht betrachtet haben, werden euch nicht mehr sehen, bis wir uns im Himmel wiedersehen. Liebe Kinder, … möge das Band der Liebe zwischen Bruder und Schwester eure Herzen verflechten… . Verhaltet euch recht gegenüber euren Mitmenschen, folgt eurem Gewissen, bittet Gott, daß er euch die Kraft gibt, jeder Versuchung, Schlechtes zu tun, zu widerstehen. Man soll von euch sagen können, daß die Welt besser geworden ist, weil ihr gelebt habt. Haltet die Gebote Gottes. Möge euer Lebensweg von Blumen geschmückt sein, und mögt ihr immer das Rechte tun. Mögt ihr niemals Ungemach erleiden. Mögen der Geist und die Segnungen Gottes euch allzeit begleiten, das ist das Gebet eurer Mutter. Ich lege die Fotos von unserer Familie bei. Lebt wohl, meine lieben Kinder, bis wir uns wiedersehen.”2 Diese liebevollen und wunderbaren Worte verbinden bereits sechs Generationen einer treuen Familie.

Genealogie und Tempelarbeit besitzen eine große Kraft, die auf der göttlichen Verheißung aus den heiligen Schriften beruht, nämlich: Er wird das Herz der Väter wieder den Söhnen zuwenden und das Herz der Söhne ihren Vätern.3 Woodrow Wilson hat gesagt: “Ein Land, das sich nicht daran erinnert, was es gestern war, weiß auch nicht, was es heute ist und was es erreichen will. Unser Streben ist vergeblich, wenn wir nicht wissen, woher wir kommen und was wir vorhatten.”4 Das läßt sich ebensogut auf die Familie beziehen: Eine Familie, die sich nicht daran erinnert, was sie gestern war, weiß auch nicht, was sie heute ist und was sie erreichen will. Unser Streben ist vergeblich, wenn wir nicht wissen, woher wir kommen und was wir vorhatten.

Zweitens: Die Genealogie baut Brücken zur Aktivität in der Kirche. Die Genealogie festigt die neuen Mitglieder und stärkt alle Mitglieder der Kirche. Die Ahnenforschung und das Vorbereiten von Namen für den Tempel können einen wertvollen Beitrag dazu leisten, neue Mitglieder in der Kirche zu halten. Glaube und Selbstvertrauen nehmen zu, wenn weitere Familienmitglieder die errettenden heiligen Handlungen des Evangeliums empfangen. Kürzlich lernte ich auf einer Pfahlkonferenz John und Carmen Day kennen, die vor kurzem getauft wurden. Sie erzählten mir, daß sie bereits Namen aus ihrer Familie vorbereitet hatten und vorhatten, so bald wie möglich in den Tempel zu gehen. Braucht man sich darum sorgen, sie in der Kirche zu halten? Ein neues Mitglied der Kirche kann von Missionaren, Freunden, Nachbarn, Priestertumsführern und den Leitern der Hilfsorganisationen ganz rasch mit Genealogie und Tempelarbeit vertraut gemacht werden. Schließlich stehen die heiligen Handlungen des Tempels im Mittelpunkt unserer Erfahrungen im Evangelium. Man braucht keine offizielle Berufung, um sich mit Genealogie und den dazugehörenden Evangeliumsverordnungen zu befassen.

Vor kurzem las ich einen Artikel in der Zeitschrift Improvement Era vom August 1940. Ich zitiere: “Auf der Frühjahrs-Generalkonferenz vor einem Jahr fragte Dr. John A. Widtsoe vom Rat der Zwölf die Missionspräsidenten der Kirche, welcher Aspekt des Evangeliums in ihrer jeweiligen Mission am meisten dazu beitrug, neue Freunde, neue Interessenten, neue Mitglieder zu finden. Präsident Frank Evans von der Eastern States Mission forschte nach und kam zu dem Schluß, daß die Genealogie und die damit verbundenen Evangeliumsverordnungen und Lehren in seiner Mission der größte Faktor waren.”5

Eine neuere Untersuchung in der Kirche zeigt, daß eine frühe Beteiligung an dieser Arbeit, nämlich die Namen der Vorfahren zu finden und für den Tempel vorzubereiten und, wenn möglich, an stellvertretenden Taufen für sie teilzunehmen, wesentliche Faktoren sind, um neue Mitglieder in der Kirche zu halten. Die Erste Präsidentschaft und das Kollegium der Zwölf haben dazu angeregt, die Genealogie und die Genealogie-Forschungsstellen vermehrt dazu einzusetzen, die neuen Mitglieder in der Kirche zu halten und diejenigen zu aktivieren, die nicht mehr in der Kirche aktiv sind. Priestertumsführer, Missionare und die Leiter der Genealogie-Forschungsstellen spielen eine wichtige Rolle dabei, die Forschungsstellen auch zu diesem Zweck einzusetzen.

Drittens: Die Genealogie baut Brücken zum Tempel. Die Genealogie führt uns zum Tempel. Genealogie und Tempelarbeit sind ein Werk. Das Wort “Genealogie” sollte wahrscheinlich gar nicht ausgesprochen werden, ohne daß man auch das Wort “Tempel” hinzufügt. Die Ahnenfoschung soll die wichtigste Quelle dafür sein, Namen für die heiligen Handlungen im Tempel vorzubereiten. Die heiligen Handlungen im Tempel sind der hauptsächliche Zweck der Ahnenforschung. Präsident Gordon B. Hinckley hat gesagt: “Unsere gesamten umfangreichen familiengeschichtlichen Anstrengungen sind auf die Tempelarbeit ausgerichtet. Sie dienen keinem anderen Zweck.”6

Durch Ahnenforschung wird eine gefühlsmäßige Verbindung zwischen den Generationen gebildet. Die heiligen Handlungen im Tempel schaffen eine Verbindung durch das Priestertum. Bei den heiligen Handlungen im Tempel wird die Verbindung, die wir bereits im Herzen geschaffen haben, durch das Priestertum bestätigt. Mutter Teresa hat gesagt, daß “Einsamkeit und das Gefühl, unerwünscht zu sein, die schrecklichste Armut sind”.7 Der Gedanke, daß diese Armut der Einsamkeit ­ unerwünscht und von seinen Lieben getrennt zu sein ­ sich über dieses Leben hinaus erstrecken könnte, stimmt wirklich traurig. Genealogie und Tempelarbeit verheißen eine ewige Verbindung, die sowohl von Liebe als auch von den Verordnungen des Priestertums getragen wird.

Brüder und Schwestern, Genealogie und Tempelarbeit sind die ewigen Familienandenken, die Brücken bauen. Sie bauen Brücken zwischen den Generationen unserer Familie, Brücken zur Aktivität in der Kirche und Brücken zum Tempel. Es ist mein Wunsch, daß sich jeder von uns dieser großartigen Andenken, die wir von denen erhalten haben, die uns vorausgegangen sind, und seiner Aufgabe, sie an zukünftige Generationen weiterzugeben, bewußt wird. Im Namen Jesu Christi, amen.

  1. Dennis B. Neuenschwander, persönliches Tagebuch, 14. August 1975.

  2. Brief von Mariah Catherine Boyer, geschrieben an ihre beiden Kinder Irena B. Mendenhall und Richard Lovell Mendenhall jun.

  3. Siehe Maleachi 3:24.

  4. Zitiert in The Rebirth of America, (1986), 12.

  5. Improvement Era, August 1940, 495.

  6. Präsident Gordon B. Hinckley, Der Stern, Juli 1998.

  7. Zitiert in: Church News, 20. Juni 1998, 2.