1990–1999
Das Herz der Kinder berühren
Oktober 1995


Das Herz der Kinder berühren

Unsere Kinder sehen den Erretter zunächst durch unsere Augen, und sie lernen ihn als ihren zuverlässigsten Freund kennen und lieben.

Brüder und Schwestern, vor gerade einem Jahr sind Schwester Susan Warner und ich als Ratgeberinnen von Schwester Patricia Pinegar in die neue PV-Präsidentschaft berufen worden. Zusammen haben wir vierundzwanzig Kinder großgezogen, so daß wir Grund gehabt hätten, von unserer Fähigkeit, die Bedürfnisse von Kindern zu erkennen, überzeugt zu sein. Doch die Verantwortung, die Kinder der Kirche in der heutigen Welt zu vertreten, lastete schwer auf uns. Unser größter Wunsch war es, den Willen des Vaters im Himmel zu erfahren und seine Führung zu erlangen. In einem Gespräch mit Eider Robert D. Haies zur Zeit unserer Berufung gab er uns den Rat, beim Schriftstudium die Schriftstellen zu markieren, die sich auf Kinder beziehen. Wir haben festgestellt, daß es viele gibt. Ja, die heiligen Schriften scheinen geradezu für die Familie geschrieben worden zu sein. Die Propheten haben keinen Zweifel daran gelassen, was der Herr in bezug auf seine Kleinen wünscht.

Nephi begann seinen Bericht mit den Worten: „Ich, Nephi, stamme von guten Eltern, und darum ist mir von allem Wissen meines Vaters etwas beigebracht worden.‟ (l Nephi 1:1.) Enos begann seinen Bericht: „Siehe, es begab sich: Ich, Enos, weiß, daß mein Vater ein gerechter Mann gewesen ist, denn er hat mich in seiner Sprache unterwiesen, ebenso über die Obsorge und Ermahnung des Herrn - und gesegnet sei der Name meines Gottes dafür.‟ (Enos 1:1.)

Unser PV-Motto ist den Worten Jesajas entnommen: „Und allen deinen Kindern wird die Lehre vom Herrn zuteil werden; und groß wird der Friede deiner Kinder sein.‟ (3 Nephi 22:13.)

Der Vater im Himmel möchte, daß wir seine Kinder lehren, ihnen bewußt machen, wer sie sind, und sie zum Erretter führen. Ich erinnere mich an Schwester Pinegars eindringliche Frage, die sie letzten Oktober in ihrer Konferenzansprache gestellt hat: „Wer belehrt die Kinder?‟ Es war nicht nur eine Frage, sondern eine Aufforderung an uns alle - an alle, deren Einflußbereich sich auch auf Kinder erstreckt -, nämlich dem Gebot des himmlischen Vaters Folge zu leisten und seine Kinder zu lehren.

Wenn wir uns demütig darum bemühen, dieser Aufforderung nachzukommen, stellt sich uns eine weitere, noch viel eindringlichere Frage: Wie lehren wir die Kinder? Wie pflanzen wir ihnen die Worte des Herrn ins Herz, solange sie noch klein sind, damit sie in ihrer Jugend zwischen Wahrheit und Irrtum unterscheiden können und die innere Kraft haben, Versuchungen zu widerstehen? Wie können wir ihr geistiges Wachstum so fördern, daß sie nicht nur nach außen hin gehorsam sind, sondern aus eigenem Wunsch, weil sie den himmlischen Vater lieben und begreifen, wer sie sind?

Diese Fragen sind schwierig, jedoch nicht neu. Sie waren in jedem Zeitalter eine Herausforderung für alle Eltern. Der Rat, den der Herr vor Hunderten von Jahren durch Mose den Kindern Israels erteilt hat, könnte er ebenso in unserer Zeit gegeben haben. In Deuteronomium können wir lesen:

„Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft.

Diese Worte, auf die ich dich heute verpflichte, sollen auf deinem Herzen geschrieben stehen.

Du sollst sie deinen Söhnen wiederholen. Du sollst von ihnen reden, wenn du zu

Hause sitzt und wenn du auf der Straße gehst, wenn du dich schlafen legst und wenn du aufstehst. … Du sollst sie auf die Türpfosten deines Hauses und in deine Stadttore schreiben.‟ (Deuteronomium 6:5-7,9.)

Zuerst müssen wir selbst den Herrn mit ganzem Herzen lieben, dann können wir unsere Kinder durch unser Wirken zu ihm führen. Sie entwickeln mehr Hingabe zum Herrn, wenn sie unsere Hingabe sehen. Sie erkennen die Macht des Gebets, wenn sie uns zum himmlischen Vater beten hören, der uns liebt, der uns hört und unsere Gebete erhört. Sie begreifen, was Glaube ist, wenn sie sehen, wie wir im Glauben leben. Und sie lernen durch unseren liebevollen und rücksichtsvollen Umgang mit ihnen die Macht der Liebe kennen. Wir können unsere Kinder nur dann die Wahrheit lehren, wenn wir eine vertrauensvolle und liebevolle Beziehung zu ihnen aufbauen. Präsident Ho ward W. Hunter hat gesagt: „Erfolgreiche Eltern erkennt man daran, daß sie ihre Kinder liebhaben, Opfer für sie bringen, daß sie sich um sie kümmern, sie belehren und auf ihre Bedürfnisse eingehen.‟ (Der Stern, April 1984, Seite 124.)

Wenn unsere Kinder unsere Liebe zum Herrn und unsere bedingungslose Liebe zu ihnen spüren, dann wird unser Beispiel für sie zu einer bedeutenden Richtschnur und sie entwickeln selbst geistige Stärke. Denken Sie an das Gebot, das der Herr den Israeliten gegeben hat, nämlich daß seine Worte zuerst auf ihrem Herzen geschrieben stehen müssen, und dann sagt er: „Du sollst sie deinen Söhnen wiederholen.‟ (Deuteronomium 6:7.) In allem, was wir tun, können wir unsere Kinder lehren, den Herrn zu lieben. Manchmal lehren wir dann am eindrucksvollsten, wenn uns gar nicht bewußt ist, daß wir etwas lehren.

Als ich Lehrerin der elfjährigen PV-Mädchen war, luden wir einmal alle Mädchen mit ihren Müttern zu einem kleinen Essen ein. Ich hatte jedes Mädchen gebeten, seine Mutter vorzustellen und etwas zu nennen, was es an ihr bewunderte. Ein Mädchen sagte, daß es wußte, daß seine Mutter sehr gern in den heiligen Schriften las. Sie hielt die heiligen Schriften ihrer Mutter hoch und sagte: „Ich weiß immer, in welchem Zimmer sie gewesen ist, nämlich dort, wo ich ihre heiligen Schriften finde.‟ Ich habe dieses Beispiel über die Jahre nicht vergessen. Wie natürlich konnte diese Mutter ihren Kindern die Liebe zu den heiligen Schriften vermitteln, weil sie selbst diese Liebe entwickelt hatte. Zunächst einmal lehren wir das, was wir sind - das sind nämlich die Eindrücke, die im Herzen und im Sinn unserer Kinder lebendig sind.

Ein besonderer Geist durchdringt unser Zuhause, wenn alle in der Familie den Herrn lieben, einander lieben und sich dem Gehorsam verpflichten, der dieser Liebe entspringt. Wenn ich von diesem Geist spreche, erinnere ich mich an unser Missionsheim in Frankfurt, wo mein Mann als Missionspräsident gedient hat. Unsere Tochter Marianne war damals zehn Jahre alt. Manchmal kamen Schulfreundinnen von ihr zu Besuch und übernachteten bei uns im Missionsheim. Einmal sagte eine ihrer Freundinnen: „Ich komme so gern zu euch, weil ich mich hier ganz sicher fühle.‟ Marianne verstand, was sie meinte - jeder in unserer Familie kannte den Geist, der im Missionsheim herrschte. Es war das Vermächtnis von Tausenden treuer Missionare, die im Missionsheim ihr Zeugnis gegeben und ihre Liebe zum himmlischen Vater und zum Erretter zum Ausdruck gebracht hatten. Es ist ein Geist, den wir alle bei uns zu

Hause spüren können, wenn wir als Familie einander Zeugnis geben und den Heiligen Geist spüren, wenn wir gemeinsam in der Schrift lesen oder zum Beten niederknien.

Präsident Kimball erinnerte sich genau daran, wie sich seine Familie immer vor dem Essen zum Beten niedergekniet hatte. Die Stühle waren zuvor vom Tisch weggedreht, die Teller umgedreht worden. Er erinnerte sich auch an die Gebete vor dem Schlafengehen. Er sagte: „Mir tun die Kinder leid, die etwas so Wichtiges erst lernen müssen, wenn sie bereits groß sind und es so viel schwerer ist.‟ (Edward L. Kimball und Andrew W. Kimball jun., Spencer W. Kimball [Bookcraft, Salt Lake City 1977], Seite 31.) Das Zuhause kann wie eine Oase sein. Jedes Kind hat das Recht, sich an diesem Ort sicher zu fühlen.

In einer Fast- und Zeugnisversammlung in meiner eigenen Gemeinde gaben kürzlich drei Kinder Zeugnis. Richie stand gleich zu Beginn der Versammlung auf und sagte: „Gestern abend habe ich das 1., 2. und 3. Kapitel im Ersten Buch Nephi gelesen und dabei ein friedliches Gefühl gehabt. Ich habe mich sehr wohl gefühlt. Ich bin dankbar für die heiligen Schriften.‟

Charity erzählte, wie sie mit ihrer Familie ein Konzert besucht hatte und plötzlich von ihren Eltern getrennt worden war. Sie sagte: „Ich fand eine Ecke und setzte mich hin und betete zum Vater im Himmel. Ich bat ihn, mir den Heiligen Geist zu senden, bis meine Eltern mich gefunden hatten - und ich hatte keine Angst.‟

Spencer war gerade zum Diakon ordiniert worden. Er erzählte, wie dankbar er dem Bischof war, der ihn zum Aaronischen Priestertum ordiniert hatte, und wieviel es ihm bedeutete, Diakon zu sein. Diese Kinder sind von ihren Eltern, Lehren und Priestertumsführern im Herzen berührt worden, die zuerst selbst den Herrn geliebt und dann die Kinder zu ihm geführt haben.

In der Familie können wir unseren Kindern helfen, die Empfindungen kennenzulernen, die der Geist bewirkt, und sie ermutigen, diese Gefühle mit ihren eigenen Worten auszudrücken. Wir können sie erzählen lassen, was sie in der PV und in anderen Kirchenversammlungen gelernt haben. Dadurch laden wir den Geist ein, ihnen diese Lehren im Herzen zu bestätigen.

Brüder und Schwestern, wir können das Herz unserer Kinder berühren und sie zum Erretter bringen. Zunächst sehen sie ihn durch unsere Augen, und sie lernen ihn als ihren zuverlässigsten Freund kennen und lieben. Sie begreifen, was es bedeutet, seinen Geist bei sich zu haben - und das wird ihre Stärke ausmachen. Ich bete darum, meine Brüder und Schwestern, daß wir alle dieses Ziel vor Augen haben. Im Namen Jesu Christi. Amen.