1990–1999
Die Herde Christi umsorgen
April 1992


Die Herde Christi umsorgen

„Ein glaubenstreuer Diener umsorgt den einzelnen. Gott liebt uns ganz persönlich.”

Die nephitische Gesellschaft hatte ständig darunter zu leiden, daß sie es nicht schaffte, sich ihre geistige Stärke zu bewahren, nämlich indem sie kontinuierlich etwas dafür tat. Wenn die Stärke dann nachließ, waren die Auswirkungen der geistigen „Mangelversorgung” rasch spürbar. Im Buch Mosia lesen wir, daß es in einer bestimmten Zeit relativer geistiger Stärke „wiederum viel Frieden im Land” gab.

„Und der Herr nahm sich ihrer an und ließ es ihnen wohl ergehen.” (Mosia 27:6,7.)

Aber nur wenige Jahre darauf war die Kirche voller Schlechtigkeit. Im vierten Kapitel des Buches Alma lesen wir:

„Und so fingen in diesem achten Jahr der Regierung der Richter große Streitigkeiten unter dem Volk der Kirche an; ja, es gab viel Neid und Mißgunst und Bosheit und Verfolgungen und Stolz, ja, sogar über den Stolz derer hinaus, die nicht zur Kirche Gottes gehörten. … Und die Schlechtigkeit der Kirche war ein großer Stolperstein für diejenigen, die nicht der Kirche angehörten; und so fing die Kirche an, in ihrem Fortschritt zu stocken.” (Vers 9 und 10.)

Die Aussage ist klar: wenn wir nicht ständig unsere geistige Stärke erneuern, und zwar täglich, dann befinden wir uns bald in einer argen Klemme, und zwar persönlich und als Gesellschaft - wir sind des göttlichen Schutzes beraubt, vom heilenden Einfluß des Geistes abgeschnitten. So wie jemand, der durch Mangelernährung geschwächt ist, einer ansteckenden Krankheit leicht zum Opfer fällt, so sind wir, wenn wir geistig geschwächt sind, leichte Beute für den Widersacher und seine Scharen von Betrogenen und Teufeln.

Wo finden wir denn die Quelle geistiger Kraft, die wir brauchen? Wo ist sie zu finden? Wie immer hat Jesus die Antwort. Der Samariterin am Jakobsbrunnen verkündete er: „Wer aber von dem Wasser trinkt, das ich ihm geben werde, wird niemals mehr Durst haben; vielmehr wird das Wasser, das ich ihm gebe, in ihm zur sprudelnden Quelle werden, deren Wasser ewiges Leben schenkt.” (Johannes 4:14.)

Die Frau war verwirrt und nicht sicher, was die Worte Jesu bedeuteten. Sie wußte ja auch nicht, wer er in Wirklichkeit war, und so sagte sie: „Ich weiß, daß der Messias kommt, das ist: der Gesalbte (Christus). Wenn er kommt, wird er uns alles verkünden.” (Johannes 4:25.)

Darauf erwiderte Jesus voll so ruhiger Gewißheit und Macht, daß uns die Worte auch heute, zweitausend Jahre später, noch ins Herz dringen: „Ich bin es, ich, der mit dir spricht.” (Johannes 4:26; Hervorh. v. Verf.) Jesus ist also das lebendige Wasser, das wir brauchen, um unserem Geist ständig neue Kraft zu geben. Die Position Jesu als wesentliche Quelle geistiger Kraft kommt auch in seiner großartigen Predigt vor der Menschenmenge in Kapernaum zum Ausdruck, die im sechsten Kapitel des Evangeliums nach Johannes zu finden ist: „Ich bin das Brot des Lebens”, sagte er; „wer zu mir kommt, wird nie mehr hungern, und wer an mich glaubt, wird nie mehr Durst haben.” (Vers 35.)

Jesus ist also sowohl das Brot des Lebens als auch das lebendige Wasser, das wir brauchen, um unseren Geist zu nähren und geistig stark zu bleiben.

Die Getreuen, die in seinem Dienst tätig sind, in welcher Berufung auch immer, läßt Jesus als seine „Unterhirten” wirken - mit dem Auftrag, die Schafe auf seiner Weide, die Lämmer seiner Herde zu umsorgen. Wie erfüllt nun ein kluger Unterhirte diese heilige Aufgabe ehrenvoll und tatkräftig und in dem Bemühen, dem Vertrauen, das in ihn gesetzt wird, immer treu zu sein? In der heiligen Schrift finden wir die Richtlinien, anhand deren ein treuer Diener seine heiligen Aufgaben versieht.

Ein treuer Unterhirt umsorgt die Schafe mit Hilfe des guten Wortes Gottes - wie in der Zeit, als bei den Nephiten sozusagen Zion aufgerichtet war. Moroni schreibt: „Und nachdem sie für die Taufe angenommen worden waren, … wurden sie dem Volk der Kirche Christi zugezählt; und ihr Name wurde aufgenommen, damit ihrer gedacht würde und sie durch das gute Wort Gottes genährt würden.” (Moroni 6:4.)

Ein treuer Diener des Herrn verwendet die heilige Schrift, um die erhabenen Grundsätze der Errettung und Erhöhung zu lernen und zu lehren. Paulus schrieb an Timotheus: „Jede von Gott eingegebene Schrift ist auch nützlich zur Belehrung, zur Widerlegung, zur Besserung, zur Erziehung in der Gerechtigkeit; so wird der Mensch Gottes zu jedem guten Werk bereit und gerüstet sein.” (2Timotheus 3:16,17.)

Die heilige Schrift, die ja von Christus Zeugnis gibt, steht allen Menschen zur Verfügung. „Wir sehen, daß jeder, der will, das Wort Gottes ergreifen kann, und dieses ist schnell und machtvoll, und es zerteilt die Schlauheit und die Schlingen und die Tücke des Teufels und führt den Christenmenschen auf einer engen und schmalen Bahn über jenen immerwährenden Abgrund des Elends hinweg, der bereitet ist, die Schlechten zu verschlingen, und bringt seine Seele … ins Himmelreich, zur rechten Hand Gottes.” (Helaman 3:29,30.)

Christus steht in der heiligen Schrift im Mittelpunkt. Er hat über sie gesagt: „Ihr erforscht die Schriften, weil ihr meint, in ihnen das ewige Leben zu haben; gerade sie legen Zeugnis über mich ab.” (Johannes 5:39.)

Wahrhaftig, alle Wahrheit, sowohl in geistiger als auch in zeitlicher Hinsicht, gibt Zeugnis von ihm. Wenn wir lernen, die „Zeichen und Wunder und Sinnbilder und Vorzeichen” (Mosia 3:15) richtig zu deuten, nämlich mit den Augen des Glaubens, wird uns bewußt, daß alle Geschichte, alle Naturwissenschaft, alle Natur, alle göttlich offenbarte Erkenntnis jeglicher Art von ihm Zeugnis gibt. Er verkörpert Wahrheit und Licht, Leben und Liebe, Schönheit und das Gute. Alles, was er tat, geschah aus Liebe. Um es mit Nephi zu sagen: „Er tut nichts, was nicht der Welt zum Nutzen ist; denn er liebt die Welt, so daß er sogar sein eigenes Leben niederlegt, damit er alle Menschen zu sich ziehen kann.” (2 Nephi 26:24.)

Ein treuer Unterhirt umsorgt die Herde, indem er sich den heiligen Bündnissen verpflichtet, die die Kinder Gottes an ihren Vater und an seinen Sohn binden. In einer bemerkenswerten Offenbarung, die dem Propheten Joseph Smith am 26. April 1832 gegeben wurde, wies Jesus auf die übernatürliche Macht der heiligen und feierlichen Absprachen zwischen Gott und den Menschen hin: „Ich, der Herr, bin verpflichtet, wenn ihr tut, was ich sage; tut ihr aber nicht, was ich sage, so habt ihr keine Verheißung.” (LuB 82:10.)

Ein kluger Unterhirt wird in seiner Verpflichtung gegenüber Christus und seiner Sache niemals nachlässig, sondern tut, was er kann, um andere dazu anzuhalten, daß sie die heiligen Absprachen, die sie im Haus des Herrn feierlich getroffen haben, einzuhalten.

Ein glaubenstreuer Diener umsorgt den einzelnen. Gott liebt uns ganz persönlich. Das hat Jesus Christus in dem Gleichnis vom verlorenen Schaf, das wir in Lukas 15 finden, meisterhaft dargelegt. Das Gleichnis erzählt von einem Hirten, der bereit war, seine Schafherde, die neunundneunzig, zu verlassen, um in der Wildnis das eine Schaf zu suchen, das sich verirrt hatte.

„Und wenn er es gefunden hat, nimmt er es voll Freude auf die Schultern, und wenn er nach Hause kommt, ruft er seine Freunde und Nachbarn zusammen und sagt zu ihnen: Freut euch mit mir; ich habe mein Schaf wiedergefunden, das verloren war.” (Lukas 15:5,6.)

Beachten Sie, welche Aufmerksamkeit dem einzelnen erwiesen wird. Es war doch eigentlich lästig und wahrscheinlich auch gefährlich, wenn der Hirt die neunundneunzig alleinließ und in die Wildnis ging, um das verlorene Schaf zu suchen. Zum einen ist die Wildnis ein gefährlicher und einsamer Ort, wo ein unvorsichtiger Reisender in große Schwierigkeiten geraten kann. Und welche Sorgen der Hirt sich gemacht haben muß, wenn er an die Herde dachte, die er allein zurückgelassen hatte, ohne einen Hirten, der sie vor Räubern, Unfällen, der Unbill der Natur usw. beschützte. Schließlich weiß jeder, der etwas von Schafen versteht, wie leicht sie spontan in Schwierigkeiten geraten, wenn ihnen keiner hilft. Ich habe als Farmjunge vor vielen Jahren gelernt, daß Schafe und Schwierigkeiten zusammengehören. Aber eigentlich gehören auch Menschen und Schwierigkeiten zusammen!

Wenn ich an die liebevollen Bemühungen des Hirten um das eine Schaf denke, muß ich auch an die innige Liebe denken, die der Herr jedem einzelnen von uns entgegenbringt. Ach, wie sehr er sich freut, wenn ein treuer Unterhirt ein verlorenes Schaf findet und es zärtlich und liebevoll wieder nach Hause bringt! „Die Seelen haben großen Wert in den Augen Gottes.” (LuB 18:10.)

Zwar können auch die Besten von uns ihre Mitmenschen nicht so vollkommen lieben wie Christus, aber die Gefühle, die Alma zum Ausdruck bringt, kommen dem doch nahe. Als Alma das Land Zarahemla verließ, um eine Mission bei den abgefallenen Zoramiten auszuführen, brachte er seine Liebe zu diesen Menschen zum Ausdruck und sprach davon, daß er hoffe, sie würden in die Herde Christi zurückkehren: „O Herr, wollest du uns gewähren, daß wir Erfolg haben, nämlich sie in Christus wieder zu dir zu bringen! Siehe, o Herr, ihre Seele ist kostbar, und viele von ihnen sind unsere Brüder; darum schenke uns, o Herr, Kraft und Weisheit, daß wir diese unsere Brüder wiederum zu dir bringen können!” (Alma 31:34,35.)

Ein wahrer Unterhirt hilft seinen Mitmenschen, am Brot des Lebens und am lebendigen Wasser teilzuhaben, indem er ihnen selbstlos dient. Das Dienen löst den scheinbaren Widerspruch in der heiligen Schrift auf, nämlich, daß man sein Leben verlieren muß, um es zu finden. Dienen, das weiß ein kluger Unterhirt, ist der goldene Schlüssel, der die Türen zu den celestialen Hallen aufschließt. Viele finden Christus, indem sie ihm dienen. Mit König Benjamin verkündet der inspirierte Unterhirte: „Wenn ihr euren Mitmenschen dient, allein dann dient ihr eurem Gott.” (Mosia 2:17.) Und in dem Sinne sind sie willens, „mit den Trauernden zu trauern … und diejenigen zu trösten, die Trost brauchen, und allzeit und in allem, wo auch immer [sie sich] befinden [mögen], als Zeugen Gottes aufzutreten” (Mosia 18:9).

Ein kluger Unterhirt, der seinen Mitmenschen hilft, am Brot des Lebens und am lebendigen Wasser teilzuhaben, trachtet nicht nach Beifall und Anerkennung. Menschliche Ehren bedeuten ihm nichts. Ihm geht es nur um dies: „Recht tun, Güte und Treue lieben, in Ehrfurcht den Weg gehen mit deinem Gott.” (Micha 6:8.) Er wird wie ein kleines Kind, „fügsam, sanftmütig, demütig, geduldig, voll von Liebe und willig, sich allem zu fügen, was der Herr für richtig hält, ihm aufzuerlegen, ja, wie eben ein Kind sich seinem Vater fügt” (Mosia 3:19).

Mögen wir alle einander lieben und einander dienen, damit wir alle das Brot des Lebens und das lebendige Wasser empfangen und in Christus vollkommen werden. Darum bete ich im heiligen Namen Jesu Christi. Amen.