Generalkonferenz
Sind wir in unseren Empfindungen eins, erlangen wir Kraft durch Gott
Herbst-Generalkonferenz 2020


Sind wir in unseren Empfindungen eins, erlangen wir Kraft durch Gott

Wenn wir uns bemühen, in unseren Empfindungen eins zu sein, rufen wir die Macht Gottes herab, der unsere Anstrengungen vervollständigen wird

Gordons Mutter versprach ihm einen Kuchen, wenn er seine Aufgaben im Haushalt erledigen würde. Seinen Lieblingskuchen. Nur für ihn. Gordon machte sich daran, mit seinen Aufgaben fertigzuwerden, und seine Mutter rollte den Teig aus. Da kam seine ältere Schwester Kathy mit einer Freundin ins Haus. Sie sah den Kuchen und fragte, ob sie und ihre Freundin ein Stück haben dürften.

„Nein“, meinte Gordon, „das ist mein Kuchen. Mama hat ihn für mich gebacken – ich musste ihn mir verdienen.“

Kathy fauchte ihren kleinen Bruder an. Er sei ja so egoistisch und geizig! Wieso konnte er nicht einfach etwas abgeben?

Als Kathy einige Stunden später die Autotür öffnete, um ihre Freundin nach Hause zu bringen, lagen da auf dem Sitz zwei ordentlich gefaltete Servietten, darauf zwei Gabeln und auf je einem Teller ein großes Stück Kuchen. Dieses Erlebnis erzählte Kathy auf Gordons Beerdigung als Beleg dafür, dass ihr Bruder bereit gewesen war, sich zu ändern und zu denen nett zu sein, die es nicht unbedingt verdient hatten.

1842 arbeiteten die Heiligen mit aller Kraft am Bau des Nauvoo-Tempels. Nach Gründung der Frauenhilfsvereinigung im März nahm der Prophet Joseph Smith oft an den Versammlungen der Frauen teil, um sie auf die heiligen, sie einigenden Bündnisse vorzubereiten, die sie schon bald im Tempel eingehen würden.

Am 9. Juni sagte der Prophet, er werde „Barmherzigkeit predigen[.] Angenommen, Jesus Christus und die Engel erhöben wegen etwas Geringfügigem Einwände gegen uns – was würde aus uns werden? Wir müssen barmherzig sein und über Kleinigkeiten hinwegsehen.“ Präsident Smith fuhr fort: „Es betrübt mich, dass unsere Gemeinschaft so oberflächlich ist. Wenn ein Mitglied leidet, müssen es doch alle merken. Sind wir in unseren Empfindungen eins, erlangen wir Kraft durch Gott.“1

Diese Aussage traf mich wie ein Blitz: Sind wir in unseren Empfindungen eins, erlangen wir Kraft durch Gott. Diese Welt ist nicht so, wie ich sie gerne hätte. Es gibt vieles, was ich ändern und verbessern möchte. Und ehrlich gesagt, gegen das, was ich mir erhoffe, gibt es so viel Widerstand, dass ich mich bisweilen machtlos fühle. Kürzlich habe ich mir ein paar tiefgründige Fragen gestellt: Wie kann ich meine Mitmenschen besser verstehen? Wie kann ich dazu beitragen, dass wir „in unseren Empfindungen eins“ sind, wo wir doch alle so unterschiedlich sind? Zu welcher Kraft von Gott hätte ich Zugang, wenn ich nur etwas mehr Einigkeit mit anderen hätte? Meine eingehenden Überlegungen haben mich zu drei Anregungen geführt. Vielleicht sind sie auch Ihnen von Nutzen.

Seien wir barmherzig

In Jakob 2:17 lesen wir: „Gedenkt eurer Brüder [und Schwestern] wie euer selbst, und seid vertraut mit allen und freigebig mit eurer Habe, sodass sie reich sein können gleichwie ihr.“ Ersetzen wir das Wort Habe doch einmal durch Barmherzigkeit: Seid freigebig mit eurer Barmherzigkeit, sodass sie reich sein können gleichwie ihr.

Bei „Habe“ denken wir oft an Lebensmittel oder Geld, doch wenn es darum geht, sich um andere zu kümmern, brauchen wir alle vielleicht etwas mehr Barmherzigkeit.

Meine FHV-Leiterin sagte vor kurzem: „Ich verspreche Ihnen eines: Ihr Name ist bei mir gut aufgehoben. … Ich werde nur das Allerbeste in Ihnen sehen. … Ich werde über Sie nie etwas Unfreundliches sagen oder etwas, was Sie nicht erbaut. Ich bitte Sie, sich mir gegenüber genauso zu verhalten, denn ehrlich gesagt, habe ich furchtbare Angst davor, Sie zu enttäuschen.“

Joseph Smith sagte den Schwestern an jenem Junitag 1842:

„Wenn mir jemand auch nur das geringste Maß an Freundlichkeit und Liebe erweist, welch machtvollen Einfluss hat dies doch auf meinen Geist. …

Je näher wir unserem himmlischen Vater kommen, umso mehr sind wir bereit, für Seelen, die zugrunde gehen, Mitgefühl zu empfinden; wir möchten sie auf unsere Schultern nehmen und ihre Sünden hinter uns werfen. [Meine Worte gelten] dieser gesamten Vereinigung: Wenn ihr wollt, dass Gott barmherzig zu euch ist, dann seid zueinander barmherzig.“2

Dieser Rat galt konkret der Frauenhilfsvereinigung. Urteilen wir doch nicht übereinander, verletzen wir einander nicht mit Worten. Heben wir den Namen unserer Mitschwestern gut bei uns auf und handeln wir barmherzig aneinander.3

Bringen wir unser Boot zum Gleiten

1936 reiste eine bis dato unbekannte Rudermannschaft der University of Washington nach Deutschland, um an den Olympischen Spielen teilzunehmen. Die USA litten schwer unter der Weltwirtschaftskrise. Die Ruderer kamen aus der Arbeiterklasse. Ihre Heimatstädtchen, die von Bergbau und Holzwirtschaft lebten, hatten ein bisschen Geld gespendet, damit sie nach Berlin reisen konnten. Alles im Wettkampf schien sich gegen sie zu wenden, doch plötzlich geschah etwas bei dem Rennen. Das Boot glitt perfekt übers Wasser, wie die Ruderer sagen. In dem Buch The Boys in the Boat wird das so beschrieben:

Manchmal geschieht etwas, was man nicht oft erreicht und was sich nur schwer beschreiben lässt: das perfekte Dahingleiten. Das gelingt nur, wenn alle in vollendetem Einklang rudern und jeder Handgriff synchron ist.

Die Ruderer müssen ihren starken Unabhängigkeitsdrang zügeln und gleichzeitig an ihren individuellen Fähigkeiten festhalten. Klone gewinnen kein Rennen. Die gute Mischung macht eine gute Mannschaft aus: Einer gibt die Kommandos, einer verfügt über Kraftreserven, einer kämpft bis zum Umfallen, einer ist der Ruhepol. Kein Ruderer ist wichtiger als der andere, sie alle werden im Boot gebraucht. Doch wenn sie gut zusammen rudern wollen, müssen sie sich gegenseitig auf das, was sie brauchen und können, einstellen: Wer kürzere Arme hat, streckt sich ein wenig mehr; wer längere Arme hat, streckt sich nicht gar so sehr.

Unterschiede können sich als Vorteil erweisen statt als Nachteil. Nur dann kommt es einem so vor, als gleite das Boot wie von allein übers Wasser. Nur dann weicht der Schmerz vollends dem Hochgefühl. Das perfekte Dahingleiten hat etwas von Poesie.4

Großen Hindernissen zum Trotz fand diese Mannschaft den perfekten Einklang und gewann. Die jungen Ruderer freuten sich unbändig über die Goldmedaille, doch die Einheit, die sie an jenem Tag erlebt hatten, war etwas Heiliges, was sie ihr Lebtag nicht vergaßen.

Das Schlechte so schnell entfernen, wie das Gute wachsen kann

In dem wunderschönen Gleichnis in Jakob 5 pflanzt der Herr des Weingartens einen guten Baum auf gutem Boden. Mit der Zeit verdirbt der Baum jedoch und bringt wilde Früchte hervor. Acht Mal sagt der Herr des Weingartens: „Es schmerzt mich, dass ich diesen Baum verlieren soll.“

Der Diener sagt zum Herrn des Weingartens: „Verschone [den Baum] noch eine kleine Weile. Und der Herr [antwortet]: Ja, ich werde ihn noch eine kleine Weile verschonen.“5

Dann erfolgt eine Anweisung, die wir alle darauf beziehen können, wie wir unser eigenes Weingärtchen umgraben und nach guten Früchten Ausschau halten können: „[Entfernt] die schlechten … gemäß dem Wachstum der guten.“6

Einigkeit kommt nicht auf wundersame Weise zustande; man muss etwas dafür tun. Der Weg dorthin ist schwierig, zuweilen unbequem, und wir kommen schrittweise voran, wenn wir das Schlechte so schnell entfernen, wie das Gute wächst.

Bei unseren Anstrengungen, Einigkeit zu schaffen, sind wir niemals allein. In Jakob 5 heißt es weiter: „Die Diener gingen hin und arbeiteten mit allen Kräften; und der Herr des Weingartens arbeitete auch mit ihnen.“7

Jeder von uns wird noch tiefe Verletzungen erleben, Sachen, die eigentlich nie geschehen sollten. Jeder von uns wird von Zeit zu Zeit auch zulassen, dass Stolz und Hochmut die von uns hervorgebrachten Früchte verderben. Doch Jesus Christus ist in allem unser Erretter. Seine Macht reicht hinab bis zum tiefsten Punkt und steht uns verlässlich bereit, wenn wir uns an ihn wenden. Wir alle flehen wegen unserer Sünden und unseres Versagens um Barmherzigkeit. Und er schenkt sie uns freigebig, bittet uns aber auch, anderen mit derselben Barmherzigkeit und mit Verständnis zu begegnen.

Geradeheraus sagt Jesus: „Seid eins; und wenn ihr nicht eins seid, dann seid ihr nicht mein.“8 Sind wir aber eins – können wir ein Stückchen von unserem Kuchen abgeben oder unsere individuellen Talente beim Rudern so einbringen, dass wir im perfekten Einklang dahingleiten –, dann sind wir sein. Und er wird uns helfen, das Schlechte so schnell zu entfernen, wie das Gute wächst.

Verheißungen eines Propheten

Noch stehen wir vielleicht nicht dort, wo wir sein wollen, und wir sind noch nicht der Mensch, der wir einmal sein werden. Ich glaube, die Änderungen, die wir an uns selbst und an Gruppen, denen wir angehören, vornehmen möchten, kommen weniger durch Aktivismus zustande als vielmehr dadurch, dass wir tagein, tagaus bemüht sind, einander zu verstehen. Weshalb? Weil wir Zion errichten – ein Volk, das „eines Herzens und eines Sinnes“9 ist.

Als Frauen im Bund mit Gott haben wir einen weitreichenden Einfluss. Wir üben ihn in alltäglichen Situationen aus – wenn wir mit einer Freundin in den heiligen Schriften lesen, die Kinder ins Bett bringen, im Bus mit dem Nebenmann reden, mit einer Kollegin eine Präsentation vorbereiten. Wir können es schaffen, Vorurteile ab- und Einigkeit aufzubauen.

Die FHV und die Jungen Damen sind nicht bloß Unterrichtsklassen. Dort können wir auch Unvergessliches erleben, wenn nämlich ganz unterschiedliche Frauen alle ins selbe Boot steigen und gemeinsam rudern, bis wir im Einklang dahingleiten. Meine Aufforderung lautet: Seien Sie Teil einer kollektiven Kraft, die die Welt zum Guten verändert. Unsere auf Bündnissen beruhende Aufgabe ist es, uns anderen zuzuwenden, die herabgesunkenen Hände emporzuheben, sich abmühende Menschen auf den Rücken oder in die Arme zu nehmen und sie zu tragen. Zu wissen, was zu tun ist, ist gar nicht so kompliziert – nur stehen uns dabei oft selbstsüchtige Interessen im Weg, und wir müssen uns aufraffen. Die Frauen dieser Kirche haben ein unbegrenztes Potenzial, die Gesellschaft zu verändern. Ich bin zutiefst davon überzeugt: Wenn wir uns bemühen, in unseren Empfindungen eins zu sein, rufen wir die Macht Gottes herab, der unsere Anstrengungen vervollständigen wird.

Als die Kirche der Offenbarung über das Priestertum von 1978 gedachte, sprach Präsident Russell M. Nelson in seiner Eigenschaft als Prophet einen eindrucksvollen Segen aus: „Ich segne alle, die zuhören, und bete darum: Mögen wir alle belastenden Vorurteile überwinden und untadelig mit Gott – und miteinander – in vollkommenem Frieden und Einklang wandeln.“10

Mögen wir diesen Segen eines Propheten dazu nutzen, durch unsere individuellen und kollektiven Anstrengungen die Einigkeit in der Welt zu vergrößern. Ich gebe Zeugnis mit den Worten, die der Herr Jesus Christus in seinem demütigen, zeitlosen Gebet sprach: „Alle sollen eins sein: Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir bin, sollen auch sie in uns sein.“11 Im Namen Jesu Christi. Amen.