Generalkonferenz
Die außerordentliche Gabe des Sohnes
Herbst-Generalkonferenz 2020


Die außerordentliche Gabe des Sohnes

Durch Jesus Christus können wir verdienten Qualen, verursacht durch unser moralisches Fehlverhalten, entgehen und unverdiente Qualen, verursacht durch irdisches Unglück, überwinden

Als ich im Sommer im Rahmen des Lehrplans Komm und folge mir nach! im Buch Mormon las, faszinierten mich Almas Worte. Als er sich seiner Sünden voll und ganz bewusst wurde, sagte er, „konnte nichts so außerordentlich und so bitter sein, wie [s]eine Qualen es waren“1. Zugegeben, der Ausdruck „außerordentliche Qual“ fiel mir auch deshalb auf, weil ich in dieser Woche einen sieben Millimeter großen Nierenstein loswerden sollte. Kaum jemand hat wohl etwas so „Großes“ durchlebt, als er etwas so „Kleines und Einfaches“ loswerden musste.2

Almas Wortwahl fand ich aber auch deshalb interessant, weil das Wort im englischen Buch Mormon auch auserlesen bedeutet, womit man meist etwas außergewöhnlich Schönes oder unvergleichlich Herrliches beschreibt. Beispielsweise beschrieb Joseph Smith die Kleidung des Engels Moroni als „Gewand von außergewöhnlicher Weiße“, „weißer als alles, was [er] auf Erden je gesehen hatte“3. Mit Begriffen wie außerordentlich oder außergewöhnlich kann man aber auch etwas unsagbar Schreckliches beschreiben. In diesem Sinne bedeutet außerordentliche Qual für Alma, „im höchsten Grad gemartert und … gepeinigt“4 zu werden.

Alma zeigt so die ernüchternde Tatsache auf, dass wir irgendwann die quälende volle Schuld für jede einzelne unserer Sünden zu spüren bekommen müssen. Die Gerechtigkeit fordert es, und nicht einmal Gott kann das ändern.5 Als Alma an „alle“ seine Sünden dachte – vor allem auch daran, wie er den Glauben anderer zunichtegemacht hatte –, war sein Schmerz buchstäblich unerträglich, und der Gedanke, vor Gott zu stehen, erfüllte ihn mit „unaussprechlichem Entsetzen“. Er wollte „an Seele und Leib ausgelöscht werden“6.

Alma berichtet jedoch, dass sich alles in dem Moment änderte, als „[s]ein Sinn [den] Gedanken erfasste“, dass Jesus Christus, wie prophezeit, „kommen werde, um für die Sünden der Welt zu sühnen“. Da „rief [er im] Herzen aus: O Jesus, du Sohn Gottes, sei barmherzig zu mir.“ Schon nach diesem einen Gedanken und dieser einen Bitte war Alma von außerordentlicher Freude erfüllt, „die ebenso übergroß war wie [s]eine Qual“.7

Wir dürfen nie vergessen, dass der eigentliche Zweck der Umkehr darin besteht, unausweichliches Elend in reine Glückseligkeit zu verwandeln. Dank seiner „unmittelbare[n] Güte“8 verschiebt sich ab dem Moment, da wir zu Christus kommen – ihm zeigen, dass wir an ihn glauben und unser Herz sich wirklich gewandelt hat –, die erdrückende Last unserer Sünden von unserem Rücken auf seinen. Dies ist nur möglich, weil er, der ohne Sünde war, die „grenzenlose und unsägliche Qual“9 jeder einzelnen Sünde im Universum seiner Schöpfungen für all seine Schöpfungen litt – ein Leiden, das so bitter war, dass ihm aus jeder Pore Blut quoll. Aus seiner unmittelbaren eigenen Erfahrung heraus mahnt uns deshalb der Erretter in neuzeitlicher heiliger Schrift, dass wir nicht einmal erahnen, wie „außerordentlich“ unsere „Leiden“ sein werden, wenn wir nicht umkehren. Doch mit unermesslichem Großmut stellt er auch klar: „Ich, Gott, habe das für alle gelitten, damit sie nicht leiden müssen, sofern sie umkehren“10 – eine Umkehr, die uns „von der übergroßen Freude … kosten“11 lässt, von der Alma gekostet hat. Allein wegen dieser Lehre stehe ich „erstaunt und bewundernd“12 vor dem Herrn. Christus schenkt uns erstaunlicherweise aber noch mehr.

Manchmal resultiert außerordentlicher Schmerz nicht aus Sünde, sondern aus unbeabsichtigten Fehlern, aus Handlungen anderer oder aus höherer Gewalt. In solchen Momenten rufen wir vielleicht wie der rechtschaffene Psalmist aus:

„Mir bebt das Herz in der Brust; mich überfielen die Schrecken des Todes. …

Ich schauderte vor Entsetzen. …

Hätte ich doch Flügel wie eine Taube, dann flöge ich davon und käme zur Ruhe.“13

Die Medizin, psychologische Beratung oder auch ein Gerichtsurteil können dazu beitragen, solches Leid zu lindern. Bedenken Sie aber, dass alle guten Gaben – auch diese – vom Erretter kommen.14 Unabhängig von der Ursache unseres tiefsten Schmerzes und Kummers entspringt die Linderung letztlich nur einer Quelle: Jesus Christus. Nur er besitzt die Macht und den heilenden Balsam, um jeden Fehler zu berichtigen, jedes Unrecht zu beheben, jede Unvollkommenheit auszugleichen, jede Wunde zu heilen und jede ausgebliebene Segnung herbeizuführen. Wie die Zeugen aus alter Zeit bezeuge auch ich, dass wir „nicht einen Hohepriester [haben], der nicht mitfühlen könnte mit unseren Schwächen“15, sondern einen liebevollen Erlöser, der vom Himmelsthron herabkam und „Schmerzen und Bedrängnisse und Versuchungen jeder Art [litt, damit er] wisse, wie er seinem Volk beistehen könne“16.

Gut möglich, dass niemand nachfühlen kann, unter welch intensiven oder außergewöhnlichen Schmerzen Sie gerade leiden. Vielleicht gibt es keinen Angehörigen, keinen Freund und keinen Priestertumsführer – wie einfühlend und wohlmeinend er auch sein mag –, der genau weiß, was Sie fühlen, oder genau die richtigen Worte findet, die zu Ihrer Heilung beitragen. Aber eines sollen Sie wissen: Es gibt jemanden, der voll und ganz versteht, was Sie durchleben, der „mächtiger [ist] als die ganze Erde“17 und der „unendlich viel mehr tun kann, als [Sie] erbitten oder erdenken“18. Alles geschieht auf seine Weise und nach seinem Zeitplan, aber Christus steht immer bereit, jedes Quäntchen und jede Facette Ihrer Qual zu heilen.

Wenn Sie dies zulassen, werden Sie erkennen, dass Ihr Leiden nicht vergeblich war. Der Apostel Paulus sagte über die großen biblischen Helden und deren Kummer: „Gott hatte für sie durch ihr Leiden etwas Besseres vorgesehen, denn ohne Leiden konnten sie nicht vollkommen gemacht werden.“19 Das Wesen Gottes und das Ziel unseres irdischen Daseins ist ja Glücklichsein,20 aber ohne Erfahrungen, die uns prüfen und zuweilen alles abverlangen, können wir nicht zu vollkommenen Wesen voll göttlicher Freude werden. Paulus erklärt, dass selbst der Erretter auf ewig „durch Leiden vollendet“21 wurde. Hüten Sie sich also vor der teuflischen Einflüsterung, wenn Sie ein besserer Mensch wären, blieben Ihnen solche Prüfungen erspart.

Widersetzen Sie sich auch der damit verbundenen Lüge, Ihre Leiden würden bedeuten, dass Sie nicht zum Kreis der Auserwählten Gottes gehörten, die anscheinend von einem gesegneten Zustand zum nächsten schweben. Betrachten Sie sich stattdessen so, wie Johannes der Offenbarer Sie in seiner herrlichen Offenbarung über die Letzten Tage gewiss gesehen hat. Denn er sah „eine große Schar aus allen Nationen und Stämmen, Völkern und Sprachen; niemand konnte sie zählen. Sie standen vor dem Thron und vor dem Lamm, gekleidet in weiße Gewänder, und … riefen mit lauter Stimme und sprachen: Die Rettung kommt von unserem Gott.“22

Als er fragte: „Wer sind diese, die weiße Gewänder tragen, und woher sind sie gekommen?“, erhielt er zur Antwort: „Dies sind jene, die aus der großen Bedrängnis kommen; sie haben ihre Gewänder gewaschen und im Blut des Lammes weiß gemacht.“23

Brüder und Schwestern, in Rechtschaffenheit zu leiden schließt Sie von den Auserwählten Gottes nicht aus, sondern bereitet Sie vielmehr darauf vor, zu ihnen zu zählen. Deren Verheißungen werden zu Ihren Verheißungen. „Sie werden“, wie Johannes verkündet, „keinen Hunger und keinen Durst mehr leiden und weder Sonnenglut noch irgendeine sengende Hitze wird auf [Ihnen] lasten. Denn das Lamm in der Mitte vor dem Thron wird [Sie] weiden und zu den Quellen führen, aus denen das Wasser des Lebens strömt, und Gott wird alle Tränen von [Ihren] Augen abwischen.“24

„Der Tod wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal.“25

Ich bezeuge Ihnen: Durch die überwältigende Güte Jesu Christi und sein unbegrenztes Sühnopfer können wir verdienten Qualen, verursacht durch unser moralisches Fehlverhalten, entgehen und unverdiente Qualen, verursacht durch irdisches Unglück, überwinden. Unter seiner Führung wird Ihre göttliche Bestimmung von unvergleichlicher Herrlichkeit und unbeschreiblicher Freude sein – einer Freude, die so intensiv und für Sie so einzigartig ist, dass all Ihre „Asche“ zu etwas Schönerem wird als „irgendetwas Irdisches“ es jemals sein kann.26 Mögen Sie jetzt von diesem Glück kosten und für immer davon erfüllt sein. Ich bitte Sie, es Alma gleichzutun: Halten Sie an dieser außerordentlichen Gabe des Sohnes Gottes fest, wie sie durch sein Evangelium in dieser, seiner wahren und lebendigen Kirche offenbart ist. Im Namen Jesu Christi. Amen.