2010–2019
Wahre Jünger des Erretters
Herbst-Generalkonferenz 2019


Wahre Jünger des Erretters

Wir erfahren dauerhaft Freude, wenn der Erretter und sein Evangelium zu dem Gerüst werden, um das wir unser Leben aufbauen

Etwas versteckt im Alten Testament finden wir im Buch Haggai die Beschreibung einer Menschengruppe, die Elder Hollands Rat gebraucht hätte. Sie machten den Fehler, dass sie Christus nicht in den Mittelpunkt ihres Lebens und ihres Dienens stellten. Haggai verwendet bildhafte Sprache, die zum Nachdenken anregt. Er tadelt diese Leute dafür, dass sie in ihren bequemen Häusern bleiben, statt den Tempel des Herrn zu bauen:

„Ist etwa die Zeit gekommen, dass ihr in euren getäfelten Häusern wohnt, während dieses Haus in Trümmern liegt?

Nun aber spricht der Herr der Heerscharen: Überlegt doch, wie es euch geht!

Ihr sät viel und erntet wenig; ihr esst und werdet nicht satt; ihr trinkt, aber zum Betrinken reicht es euch nicht; ihr zieht Kleider an, aber sie halten nicht warm, und wer etwas verdient, verdient es für einen löcherigen Beutel.

So spricht der Herr der Heerscharen: Überlegt also, wie es euch geht!“1

Ist hier nicht hervorragend beschrieben, wie sinnlos es ist, etwas rein Vergängliches wichtiger zu nehmen als das, was von Gott ist?

In einer Abendmahlsversammlung, die ich kürzlich besuchte, zitierte ein zurückgekehrter Missionar einen Vater, der diesen Gedanken genau auf den Punkt brachte, als er zu seinen Kindern sagte: „Wir brauchen hier weniger WiFi und mehr Nephi!“

Ich habe fünf Jahre in Westafrika verbracht und dort erlebt, dass viele Menschen das Evangelium auf ganz natürliche, furchtlose Weise an die erste Stelle setzen. Ein Beispiel dafür ist der Name einer Reifenreparaturwerkstatt in Ghana, in der auch Räder ausgewuchtet werden. Der Besitzer hat die Firma „Ausrichtung nach deinem Willen“ genannt.

Wir erfahren dauerhaft Freude,2 wenn der Erretter und sein Evangelium zu dem Gerüst werden, um das wir unser Leben aufbauen. Es kann aber leicht passieren, dass stattdessen weltliche Dinge zum Gerüst werden und das Evangelium nur noch Sonderzubehör ist oder man einfach sonntags zwei Stunden zur Kirche geht. Ist dies der Fall, ist es so, als ob wir unseren Lohn in „einen löcherigen Beutel“ steckten.

Haggai fordert uns auf, unser Bestes zu geben oder, wie man in Australien sagt, das Evangelium „fair dinkum“ zu leben. Jemand ist „fair dinkum“, wenn er so ist, wie er es von sich behauptet.

Als ich Rugby spielte, habe ich ein wenig darüber gelernt, „fair dinkum“ zu sein und mein Bestes zu geben. Ich habe erfahren, dass ich am meisten Freude am Spiel hatte, wenn ich mich ganz besonders ins Zeug legte und wirklich alles gab.

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Elder Vinson und seine Rugbymannschaft

Mein Lieblingsjahr beim Rugby war das Jahr nach der Highschool. Das Team, dem ich angehörte, war sowohl talentiert als auch mit ganzem Herzen bei der Sache. In diesem Jahr waren wir die Spitzenmannschaft. Aber eines Tages sollten wir gegen eine weiter unten in der Tabelle stehende Mannschaft spielen und waren nach dem Spiel noch alle mit Freundinnen verabredet, die wir zum großen, alljährlichen College-Tanzabend ausführen wollten. Ich dachte, dass es ein leichtes Spiel werden würde und ich mich möglichst nicht verletzen sollte, damit ich den Tanzabend dann uneingeschränkt genießen konnte. In diesem Spiel gingen wir nicht so hart in die Zweikämpfe und das Gedränge, wie wir es gekonnt hätten – und verloren. Zu allem Unglück hatte ich nach dem Spiel eine stark geschwollene, dicke Lippe, mit der ich für meine wichtige Verabredung nicht gerade vorteilhaft aussah. Vielleicht musste ich ja etwas lernen.

Eine ganz andere Erfahrung machte ich später in einem Spiel, bei dem ich wirklich alles gab. Dabei rannte ich einmal mit voller Wucht in einen Zweikampf und hatte augenblicklich Schmerzen im Gesicht. Mein Vater hatte mir beigebracht, dem Gegner niemals zu zeigen, wenn ich verletzt war, und so spielte ich noch bis zum Ende weiter. Als ich dann abends etwas essen wollte, merkte ich, dass ich nicht zubeißen konnte. Am nächsten Morgen fuhr ich zum Krankenhaus. Das Röntgenbild bestätigte, dass mein Kiefer gebrochen war. Für die nächsten sechs Wochen wurde mir der Kiefer so verdrahtet, dass ich den Mund nicht öffnen konnte.

Aus diesem Gleichnis von der dicken Lippe und dem gebrochenen Kiefer habe ich etwas gelernt. Obwohl ich mich erinnere, dass ich mich in den sechs Wochen, in denen ich nur Flüssiges zu mir nehmen konnte, vergebens nach fester Nahrung sehnte, bedauere ich den Kieferbruch nicht, weil er daher rührte, dass ich wirklich alles gegeben hatte. Aber die dicke Lippe bedauere ich, weil sie dafür steht, dass ich mich zurückgehalten hatte.

Wenn wir alles geben, was wir können, heißt das nicht, dass wir beständig von Segnungen umgeben oder immer erfolgreich sind. Es bedeutet aber, dass wir Freude haben. Freude ist kein vergängliches Vergnügen oder vorübergehendes Glücksgefühl. Freude dauert fort und beruht auf unserem Bemühen, vom Herrn angenommen zu werden.3

Ein Beispiel für jemanden, der so angenommen wurde, findet sich in der Geschichte von Oliver Granger. Präsident Boyd K. Packer hat darüber gesagt: „Als die Heiligen aus Kirtland vertrieben wurden[,] blieb Oliver Granger zurück, um ihren Besitz um das Wenige, was dafür zu bekommen war, zu veräußern. Doch die Aussicht, da noch etwas zu Geld machen zu können, war sehr gering. Und es gelang ihm auch nicht.“4 Er war von der Ersten Präsidentschaft zu etwas beauftragt worden, was schwierig war, wenn nicht gar unmöglich. Aber der Herr lobte ihn mit diesen Worten für seine offensichtlich erfolglosen Anstrengungen:

„Ich gedenke meines Knechtes Oliver Granger; siehe, wahrlich, ich sage ihm: Sein Name wird von Generation zu Generation in heiligem Andenken gehalten werden für immer und immer, spricht der Herr.

Darum soll er ernstlich für die Erlösung der Ersten Präsidentschaft meiner Kirche kämpfen[;] und wenn er fällt, so wird er sich wieder erheben, denn sein Opfer wird mir heiliger sein als sein Zuwachs, spricht der Herr.“5

Das mag für uns alle gelten: Es sind nicht unsere Erfolge, sondern vielmehr unsere Opfer und Anstrengungen, die vor dem Herrn zählen.

Ein weiteres Beispiel für einen wahren Jünger Jesu Christi ist eine liebe Freundin von uns in der Elfenbeinküste in Westafrika. Diese wunderbare, treue Schwester war von ihrem Mann über einen längeren Zeitraum auf schreckliche Weise seelisch und manchmal sogar körperlich misshandelt worden. Sie hatte sich schließlich scheiden lassen. Sie ließ nie in ihrem Glauben und ihrer Güte nach, war jedoch aufgrund der Grausamkeiten ihres Mannes lange Zeit zutiefst verletzt. Sie beschrieb mit eigenen Worten, was geschah:

„Obwohl ich sagte, ich hätte ihm vergeben, schlief ich stets mit einer inneren Wunde. Ich verbrachte jeden Tag mit dieser Wunde. Es war wie ein innerliches Brennen. Viele Male flehte ich den Herrn im Gebet an, es von mir zu nehmen. Doch der Schmerz war so heftig, dass ich fest davon überzeugt war, den Rest meines Lebens damit zubringen zu müssen. Es schmerzte mehr als der Tod meiner Mutter, als ich noch ein Kind war. Es schmerzte mehr als der Tod meines Vaters und sogar mehr als der meines Sohnes. Es war, als ob der Schmerz sich immer weiter ausbreitete, bis er mich innerlich völlig einnahm, sodass ich meinte, ich könne jederzeit sterben.

Dann wieder fragte ich mich, was der Erretter wohl in meiner Situation getan hätte, und ich konnte nur sagen: ‚Es ist einfach zu viel, Herr.‘

Eines Morgens suchte ich nach diesem inneren Schmerz und forschte bis in die Tiefen meiner Seele danach. Aber er war nirgends zu finden! In Gedanken ging ich rasch all das durch, weshalb ich verletzt sein konnte, aber ich spürte den Schmerz nicht mehr. Ich wartete den ganzen Tag ab, ob ich diesen inneren Schmerz wieder spüren würde. Aber er war nicht da. Da kniete ich mich nieder und dankte Gott dafür, dass er das Sühnopfer des Herrn für mich hatte wirksam werden lassen.“6

Diese Schwester ist heute glücklich verheiratet und an einen wunderbaren, glaubenstreuen Mann gesiegelt, der sie von Herzen liebt.

Was für eine Einstellung sollten wir also als wahre Jünger Christi haben? Und was ist das Evangelium uns wert, wenn wir überlegen, „wie es [uns] geht“, und unser Verhalten überdenken, wie Haggai vorgeschlagen hat?

Mir gefällt das Beispiel von der richtigen Einstellung, die König Lamonis Vater bewies. Sie wissen ja, wie zornig er anfangs war, als er feststellte, dass sein Sohn von Ammon, einem Nephiten – die von den Lamaniten gehasst wurden –, begleitet wurde. Er zog sein Schwert, um mit Ammon zu kämpfen, und hatte unversehens Ammons Schwert an der Kehle. „Nun sprach der König aus Furcht, sein Leben zu verlieren: Wenn du mich verschonst, will ich dir gewähren, was auch immer du erbittest, ja, bis zur Hälfte des Reiches.“7

Beachten Sie sein Angebot: sein halbes Reich für sein Leben.

Doch später, als er das Evangelium verstanden hatte, machte er ein anderes Angebot: „Der König [sprach]: Was soll ich tun, dass ich dieses ewige Leben habe, von dem du gesprochen hast? Ja, was soll ich tun, dass ich aus Gott geboren werde und dieser schlechte Geist mir aus der Brust gerissen werde und ich seinen Geist empfange, damit ich mit Freude erfüllt werde, damit ich nicht am letzten Tag verstoßen werde? Siehe, sprach er, ich will alles hergeben, was ich besitze, ja, ich will meinem Königreich entsagen, damit ich diese große Freude empfangen kann.“8

Diesmal war er bereit, sein ganzes Reich herzugeben, weil das Evangelium wertvoller war als alles, was er besaß! Er meinte es also ernst mit dem Evangelium – „fair dinkum“.

Somit lautet die Frage an jeden von uns: Meinen wir es ebenfalls „fair dinkum“ mit dem Evangelium? Denn wer halbherzig ist, ist nicht „fair dinkum“! Und Gott ist nicht dafür bekannt, dass er die Lauen mit Lob überschüttet.9

Es gibt keinen Schatz, kein Hobby, keinen Status, keine sozialen Medien, keine Videospiele, keine Sportart, keine Bekanntschaft mit einem Prominenten noch sonst etwas auf Erden, was kostbarer wäre als das ewige Leben. Deshalb empfiehlt der Herr allen: „Überlegt doch, wie es euch geht.“

Nephi fasst meine Gefühle am besten in Worte: „Ich frohlocke in Klarheit; ich frohlocke in Wahrheit; ich frohlocke in meinem Jesus, denn er hat meine Seele von der Hölle erlöst.“10

Sind wir wahre Nachfolger dessen, der alles für uns gegeben hat? Dessen, der unser Erlöser und unser Fürsprecher beim Vater ist? Dessen, der bei seinem Sühnopfer alles gegeben hat und dies auch heute noch tut in seiner Liebe, seiner Barmherzigkeit und seinem Wunsch, dass wir ewige Freude erlangen? Ich bitte alle, die diese Worte hören oder lesen, inständig: Bitte warten Sie nicht damit, alles zu geben, bis Sie irgendwann in einer Zukunft, die es nicht gibt, dazu kommen. Werden Sie heute „fair dinkum“ und verspüren Sie die Freude! Im Namen Jesu Christi. Amen.