2010–2019
Herr, mögest du dafür sorgen, dass mir die Augen aufgetan werden
Herbst-Generalkonferenz 2017


Herr, mögest du dafür sorgen, dass mir die Augen aufgetan werden

Wir müssen andere Menschen mit den Augen des Erretters betrachten.

Der Trickfilmklassiker Der König der Löwen spielt in der afrikanischen Savanne. Als der König der Löwen bei der Rettung seines Sohnes stirbt, wird der junge Löwenprinz ins Exil vertrieben, während ein despotischer Herrscher das Gleichgewicht der Savanne zerstört. Mit der Hilfe eines Mentors gewinnt der Löwenprinz das Königreich zurück. Ihm werden die Augen geöffnet, sodass er erkennt, dass im großen Kreislauf des Lebens in der Savanne ein Gleichgewicht unerlässlich ist. Während er seinen rechtmäßigen Platz als König einfordert, folgt der junge Löwe dem Rat, über das hinauszublicken, was er sieht.1

Das Evangelium rät auch uns, die wir lernen, Erben all dessen zu werden, was unser Vater hat, über das hinauszublicken, was wir sehen. Dazu müssen wir andere Menschen mit den Augen des Erretters betrachten. Das Evangelium verbindet die unterschiedlichsten Menschen. Wir können die Entscheidungen und den psychologischen Hintergrund der Menschen in unserer Welt, in den Gemeinden der Kirche und sogar in unserer Familie nicht voll und ganz verstehen, weil wir nur selten das Gesamtbild davon sehen, wer sie sind. Wir müssen über die einfachen Annahmen und Klischees hinausblicken und den schmalen Blickwinkel unserer eigenen Erfahrung erweitern.

Mir wurden die Augen geöffnet, als ich Missionspräsident war, sodass ich über das, was zu sehen war, hinausblicken konnte. Ein junger Missionar, aus dessen Augen Angst und Verunsicherung sprachen, kam zu mir. Während unserer Unterredung sagte er niedergeschlagen: „Ich will zurück nach Hause.“ Ich dachte mir nur, dass wir schon eine Lösung finden würden, und gab ihm den Rat, fleißig zu arbeiten, eine Woche lang darüber zu beten und mich dann anzurufen. Fast auf die Minute genau eine Woche später rief er mich an. Er wollte immer noch zurück nach Hause. Ich gab ihm wieder den Rat, zu beten, fleißig zu arbeiten und mich nach einer Woche anzurufen. Auch bei unserer nächsten Unterredung hatte sich nichts verändert. Er beharrte darauf, nach Hause zu wollen.

Ich war aber nicht bereit, das zuzulassen. Also klärte ich ihn darüber auf, wie heilig seine Berufung war. Ich ermunterte ihn, sich selbst zu vergessen und sich an die Arbeit zu machen.2 Aber welches Rezept ich ihm auch an die Hand gab, er änderte seine Meinung nicht. Schließlich dämmerte es mir, dass ich vielleicht nicht das Gesamtbild sah. Da wurde mir eingegeben, ihn zu fragen: „Elder, was fällt Ihnen schwer?“ Seine Antwort traf mich ins Herz: „Präsident, ich kann nicht lesen.“

All die klugen Ratschläge, von denen ich gedacht hatte, dass er sie hören müsse, hatten überhaupt nichts mit dem zu tun, was er brauchte. Was dieser Missionar am dringendsten brauchte, war, dass ich über meine vorschnelle Einschätzung hinausblickte und mir vom Geist zeigen ließ, was ihn eigentlich bedrückte. Er brauchte, dass ich ihn richtig betrachtete und ihm Grund zur Hoffnung gab. Stattdessen benahm ich mich wie eine riesige Abrissbirne. Dieser tapfere Missionar lernte Lesen und wurde ein herzensreiner Jünger Jesu Christi. Er öffnete mir die Augen für diese Worte des Herrn: „Der Mensch sieht, was vor den Augen ist, der Herr aber sieht das Herz.“ (1 Samuel 16:7.)

Wie segensreich ist es doch, wenn der Geist des Herrn uns den Blick weitet. Wissen Sie noch, wie der Prophet Elischa eines Morgens aufwachte und feststellte, dass seine Stadt vom Heer der Syrer mit ihren Pferden und Streitwagen umzingelt war? Sein Diener hatte Angst und fragte Elischa, was sie gegen solch eine Übermacht unternehmen konnten. Elischa beruhigte ihn mit den unvergesslichen Worten: „Fürchte dich nicht! Bei uns sind mehr als bei ihnen.“ (2 Könige 6:16.) Der Diener hatte keine Ahnung, wovon der Prophet sprach. Er konnte nicht über das hinausblicken, was er sah. Elischa sah jedoch Heerscharen von Engeln, die bereit waren, für das Volk des Propheten in den Kampf zu ziehen. Er bat den Herrn, seinem jungen Diener die Augen zu öffnen, und dieser „sah den Berg rings um Elischa voll von feurigen Pferden und Wagen“ (2 Könige 6:17).

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Elischa und die himmlischen Heerscharen

Oft grenzen wir uns von anderen anhand der Unterschiede ab, die wir sehen. Wir fühlen uns wohl in der Gesellschaft von Menschen, die so denken, so reden, sich so kleiden und sich so verhalten wie wir selbst, und unwohl in Gesellschaft derer, die aus anderen Verhältnissen stammen oder eine andere Herkunft haben. Aber kommen wir nicht in Wirklichkeit alle aus verschiedenen Ländern und sprechen verschiedene Sprachen? Haben wir nicht alle aufgrund unserer eigenen Lebenserfahrung eine sehr beschränkte Sicht auf die Welt? Manche sehen und sprechen wie der Prophet Elischa mit dem geistigen Auge, andere sehen und kommunizieren mit dem tatsächlichen Sehvermögen, so wie ich mit dem Missionar, der Analphabet war.

Wir leben in einer Gesellschaft, die sich daran ergötzt, zu vergleichen, zu etikettieren und zu kritisieren. Statt durch das Objektiv der sozialen Medien zu blicken, müssen wir den Blick nach innen auf die göttlichen Eigenschaften richten, auf die wir alle Anspruch erheben. Diese göttlichen Eigenschaften und Sehnsüchte kann man nicht auf Pinterest oder Instagram posten.

Andere zu akzeptieren und zu lieben bedeutet nicht, dass wir zwangsläufig auch ihre Ansichten übernehmen. Der Wahrheit sind wir selbstverständlich zu größter Treue verpflichtet, sie sollte aber nie der Freundlichkeit im Wege stehen. Wenn wir andere wirklich lieben wollen, müssen wir uns immerzu darin üben, es anzuerkennen, wenn Menschen ihr Bestes geben, über deren Lebenserfahrungen und Grenzen wir vielleicht niemals voll und ganz Bescheid wissen. Wollen wir über das hinausblicken, was wir sehen können, müssen wir bewusst auf den Erretter blicken.

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Geländefahrzeug

Am 28. Mai 2016 befanden sich der 16-jährige Beau Richey und sein Freund Austin auf einer Ranch der Familie in Colorado. Beau und Austin stiegen in ihre Geländefahrzeuge und freuten sich riesig auf einen Tag voller Abenteuer. Sie waren noch nicht weit gefahren, als sie auf einen gefährlichen Streckenabschnitt stießen. Da schlug das Schicksal zu. Beaus Fahrzeug überschlug sich plötzlich, und er wurde unter 180 Kilogramm Stahl eingeklemmt. Als sein Freund Austin ihn erreichte, sah er, dass Beau um sein Leben kämpfte. Mit aller Kraft versuchte er, seinen Freund unter dem Fahrzeug herauszuziehen, aber es bewegte sich kein Stück. Er sprach ein Gebet für Beau, dann holte er verzweifelt Hilfe. Schließlich trafen Nothelfer ein, doch wenige Stunden später starb Beau. Sein irdisches Leben hatte ein Ende gefunden.

Als seine trauernden Eltern angereist waren und in dem kleinen Krankenhaus mit Beaus bestem Freund und Angehörigen zusammenstanden, betrat ein Polizist den Raum und übergab Beaus Mutter das Handy ihres Sohnes. Als sie das Telefon nahm, ertönte ein Benachrichtigungssignal. Sie aktivierte das Handy und sah einen täglichen Erinnerungshinweis, den Beau eingestellt hatte. Sie las die Nachricht vor, die ihr lebensfroher, abenteuerlustiger Sohn eingerichtet hatte, um sie jeden Tag zu lesen: „Denke daran, heute Jesus Christus zum Mittelpunkt deines Lebens zu machen.“

Dass Beau den Blick auf seinen Erlöser gerichtet hatte, verringert zwar nicht die Trauer, die seine Lieben empfinden, weil er fort ist, aber es macht große Hoffnung und verleiht Beaus Leben und seinen Entscheidungen einen Sinn. Seine Familie und seine Freunde können dadurch über den reinen Kummer hinausblicken, den sein früher Tod ausgelöst hat, und die Freuden sehen, die das nächste Leben tatsächlich bietet. Was für eine große und liebevolle Barmherzigkeit für Beaus Eltern, dass sie mit den Augen ihres Sohnes sehen konnten, was er am meisten schätzte.

Als Mitglieder der Kirche sind uns persönlich geistige Erinnerungshinweise gegeben, die uns warnen, wenn wir mit unseren rein irdischen Augen den Blick von der Errettung abwenden. Das Abendmahl erinnert uns jede Woche daran, unablässig auf Jesus Christus zu blicken, damit wir immer an ihn denken und seinen Geist immer mit uns haben können (siehe LuB 20:77). Dennoch ignorieren wir bisweilen diese Erinnerungen und Warnungen. Wenn Jesus Christus der Mittelpunkt unseres Lebens ist, dann wird er uns die Augen für Möglichkeiten öffnen, die größer sind, als wir allein begreifen können.

Eine treue Schwester berichtete mir in einem wirklich interessanten Brief davon, wie sie einmal einen warnenden Erinnerungshinweis erhielt. Sie erzählte mir, dass sie ihrem Mann klarmachen wollte, wie sie sich fühlte, und deshalb begonnen hatte, auf ihrem Handy eine Liste über Dinge zu führen, die ihr Mann gesagt oder getan hatte und die sie störten. Ihr Hintergedanke dabei war, dass sie ihm dann zum richtigen Zeitpunkt die gesammelten schriftlichen Beweise vorlegen könnte und dadurch den Wunsch in ihm wecken würde, sein Verhalten zu ändern. Als sie jedoch eines Sonntags vom Abendmahl nahm und an das Sühnopfer des Erretters dachte, wurde ihr bewusst, dass es wahrhaftig den Geist von ihr forttrieb und ihren Mann niemals ändern würde, wenn sie ihre schlechten Gefühle ihm gegenüber dokumentierte.

Ihn ihrem Kopf ertönte ein geistiges Warnsignal mit der Nachricht: „Lass es sein; lass es einfach sein! Lösche diese Notizen. Sie haben keinen Nutzen.“ Ich zitiere, was sie dann schrieb: „Ich brauchte eine Weile, um auf ‚Alle auswählen‘ zu drücken, und noch länger, um auf ‚Löschen‘ zu drücken. Doch als ich das tat, lösten sich all diese negativen Gefühle in Luft auf. Mein Herz füllte sich mit Liebe – Liebe zu meinem Mann und Liebe zum Herrn.“ Wie bei Saulus auf der Straße nach Damaskus hatte sich ihr Blickwinkel verändert. Ihr fielen die Schuppen, die ihren Blick verzerrt hatten, von den Augen.

Unser Erretter hat häufig denen die Augen geöffnet, die körperlich oder geistig blind waren. Wenn wir unsere Augen buchstäblich und im übertragenen Sinn der göttlichen Wahrheit öffnen, machen wir uns bereit, von irdischer Kurzsichtigkeit geheilt zu werden. Wenn wir den geistigen „Warnhinweisen“ Beachtung schenken, die uns auf eine notwendige Kurskorrektur oder einen größeren ewigen Blickwinkel aufmerksam machen, gilt uns die Verheißung des Abendmahls, dass der Geist des Herrn mit uns sein wird. So geschah es Joseph Smith und Oliver Cowdery im Kirtland-Tempel, als ihnen unwiderlegliche Wahrheiten von Jesus Christus verkündet wurden, der verhieß, dass der Schleier menschlicher Einschränkungen „von [ihrem] Sinn weggenommen … und die Augen [ihres] Verständnisses … aufgetan“ werden würden (LuB 110:1).

Ich bezeuge, dass wir durch die Macht Jesu Christi in die Lage versetzt werden, geistig über das hinauszublicken, was wir tatsächlich sehen. Wenn wir an ihn denken und seinen Geist bei uns haben, werden uns die Augen unseres Verständnisses aufgetan. Dann wird sich die erhabene Tatsache, dass in jedem von uns etwas Göttliches steckt, mit größerer Überzeugungskraft unserem Herzen einprägen. Im Namen Jesu Christi. Amen.